Ãœbergehen / NZZ 24.12.05

Von Friederike Kretzen
Manchmal, wir kennen es alle, wissen wir am Morgen nicht so recht, wer das da sein soll, der als wir selbst am Küchentisch sitzt, Kaffee trinkt und darauf wartet, sich selbst zu werden. Dieser morgendliche Zustand kann durchaus bis zum Abend anhalten. Gerade wollen wir wieder zu Bett gehen, ziehen die Vorhänge vor, da fällt uns in einem flüchtigen Blick ein Licht im Haus gegenüber auf. Wir öffnen das Fenster, ein Luftzug berührt uns, und plötzlich merken wir, dass wir es sind, die das empfinden. Hier, am Fenster, in diesem Leben nach einer tagelangen Abwesenheit. Oder könnte es sein, dass dieser schlafähnliche Zustand schon länger anhielt, dass wir vielleicht vor Jahren irgendwo eingenickt und seitdem nicht mehr wach geworden sind? Könnte es sein, dass wir, uns aus Gewohnheit als uns selbst annehmend, das Leben eines anderen führten? Und haben wir erst jetzt, an diesem Abend, zurückgefunden? Doch was heisst zurück? Wissen wir denn, wann, wie und wo es geschah? Wo waren wir in der Zwischenzeit? In welchem anderen Leben haben wir uns, unseren Gewohnheiten bis zur Unkenntlichkeit treu, aufgehalten?
Es geht hier nicht um das Jekyll-Hyde-Problem, nicht um die zwei unterschiedlichen Herzen in unserer Brust, für jede unserer Seiten eins. Interessanter ist doch, was dazwischen geschieht. Wie Mister Hyde zum Doktor übergeht und dabei nicht der eine und auch nicht der andere ist, sondern eine Mischform aus beiden. Also quasi eine Art dritter Mann, der sich in der Umarmung der beiden ergibt.
Ich erinnere mich an ein Spiel meiner Kindheit, das keinen Namen hatte. Vielleicht hiess es „Sachen rein und raus werfen“, jedenfalls bestand es genau darin. Um es zu spielen, brauchte es nicht mehr als zwei Kinder. Eines positionierte sich draussen vor dem Fenster, das andere hinter dem gleichen Fenster im Zimmer. Nun begann das Kind im Zimmer Sachen, die es zufällig zu fassen bekam, aus dem Fenster hinauszuwerfen. Von dort kamen die Sachen in veränderter Reihenfolge wieder zurückgeflogen. Das Spiel war streng verboten. Wir spielten es leidenschaftlich gern. Einmal endete das Spiel mit einer schweren Eisenglocke, die ins Zimmer geflogen kam und mich am Kopf traf. Wäre mir die Glocke nicht an den Kopf geflogen, hätten wir noch lange nicht bemerkt, dass sich unter den Gegenständen, die wir hin und her warfen, auch sehr schwere befanden. Denn das Vergnügen des Spiels bestand vor allem darin, gegenüber den Gesetzen der Schwerkraft, zu denen auch die des gewohnten Gebrauchs der Dinge zählten, gleichgültig zu werden und sie ausser Kraft zu setzen. Wir nahmen die Dinge des täglichen Gebrauchs in ein Werfen und Tauschen der Seiten auf, von dem auch wir längst ein Teil geworden waren, bis wir als Schwarm von Dingen und Kindern nicht mehr unterscheiden konnten, ob wir flogen oder warfen, ob wir noch zusammenhielten oder in sinnlose Teile auseinander strebten.
Ein Ãœbergang geht nicht nur, er kommt auch und bleibt ein Ãœbergang und auch keiner. Dabei geht etwas von einer Seite zu einer anderen, auf der dann das, was ging, gekommen ist. Wenn etwas ins Sprachlose übergeht, was macht es dann dort, wie können wir uns vorstellen, wie es ihm wohl ergeht?
Verbindet es sich dort etwa mit dem, was uns in Fleisch und Blut übergegangen ist? In Todesanzeigen steht oft, dass jemand zurückgerufen worden ist. Kommt der Ruf dann von dort, wohin etwas ins Sprachlose und weiter in Fleisch und Blut übergegangen ist?
Ich frage mich oft, was die Wörter machen, wenn sie gerade nicht da sind. Sagen wir beispielsweise, wenn das Wort Haus nicht als Haus zu fassen ist. Was macht dann das Wort, das nicht als Haus dasteht, sondern als Baum, und doch heisst es Haus? Ich stelle mir vor, es trödelt herum, streicht um andere Gebäude, läuft in den Wald, vertreibt sich seine Zeit, schaut zum Himmel auf und zählt die Sterne. Bis es merkt, es sind gar keine, sondern blinkende Flugzeuge. Aber warum sollte es sich auch mit Sternen anders verhalten als mit Häusern. Plötzlich fliegen Flugzeuge durch sie durch, wie im Haus ein Baum wächst.
Wörter können anwesend abwesend sein und umgekehrt. Sprache besteht aus einem Kommen und Gehen von Zeiten und Räumen, einem Tauschen und Wechseln ihrer Bestände, je nachdem, wie wir sie zu fassen verstehen. Geschickte Hände beispielsweise sind nicht einfach Hände, die genau, schnell und mit Verstand fassen und berühren können. Es sind auch Hände, die von woanders her geschickt worden sind und, hierher gekommen, geschickt arbeiten. Nichts ahnend, berühren sich in der Geschicklichkeit ihrer Bewegung Verstand und Genauigkeit, die geschickten Händen nachgesagt werden. So wie Elstern nachgesagt wird, sie seien diebisch. Wem sagen wir das nach, und was war vorher? Gab es einmal Elstern, die nicht diebisch waren, oder wurde es ihnen nur nicht nachgesagt? Gab es vielleicht eine Zeit, in der sich die Menschen zu den Elstern gesellten, um ihnen vorzusagen, dass sie diebisch seien?
Nachsagen jedenfalls setzt ein Vorher voraus, so wie wir ja auch unseren Vorgängern nachfolgen, wenn wir sagen, wir sind ihre Nachfahren. Kommen wir auf die Welt, so kommen wir eigentlich nicht, sondern folgen auf etwas, was uns vorausging. Das haben wir dann jedoch hinter uns.
Eine Legende aus dem Umfeld der Kabbala erzählt, dass das Kind, bis zu seiner Geburt, alles Wissen der Welt besitzt. Doch im Moment, in dem es aus dem Mutterleib kommt, geht der Engel des Lebens vorbei, gibt ihm einen mächtigen Schlag auf die Lippen, das Kind schreit, japst nach Luft, und im gleichen Moment hat es alles Wissen vergessen. Doch bleibt ihm ein Zeichen dieses Geschehens: das senkrechte Grübchen zwischen Mund und Nase.
Erstaunlich ist in dieser Legende die Verbindung von Atem und Vergessen. Der erste Atem, der Eintritt ins Leben, verbindet uns zugleich mit dem Vergessen der Welt. Wir atmen, wir vergessen. Vielleicht tun wir das nicht nur einmal, am Anfang, sondern jedes Mal, wenn wir atmen. Jeder Atemzug hätte so Teil an einem Vergessenen, das vor uns lag und das wir mit unserem Atem bestätigen, beleben und verwandeln.
Wir bewegen uns auf der Grenzlinie zwischen einem legendären Vorher und einem ebenso legendären Nachher auf zweierlei Bahnen, die allerdings stets aufeinander bezogen bleiben. So dass, was wir tun, wir auch nicht tun, und was wir sind, sind wir auch nicht. Was wir dazwischen erfahren, was wir auf eine ungewisse Gegenwart zu übertragen vermögen, ist das, was wir Wirklichkeit nennen.
Die Schriftstellerin Friederike Kretzen lebt in Basel. Zuletzt erschien von ihr der Roman „Ãœbungen zu einem Aufstand“ bei Stroemfeld.