All die toten Stimmen / NZZ 08.04.2006, Nr. 83, S. 66

Von Friederike Kretzen
Beckett kam sehr früh und blieb. Das war mit siebzehn, Deutsch Leistungskurs. „Endspiel“. In Gesellschaft einiger eigenwilliger Schülerinnen, die sich um unsere frisch von der Uni gekommene Deutschlehrerin scharten. Auf Anhieb war uns, als würden wir mit diesem Endspiel nach Hause kommen. Allerdings in umgekehrter Richtung. Wir gingen mit Hamm und Clov und den beiden Alten in den Mülltonnen auf das zu, wovon wir noch am Morgen nichts als weggewollt hatten.
Beckett lesen, damals in den frühen siebziger Jahren, bedeutete eine intuitive, hochempfindliche Begegnung mit dem, was uns als Geschichte durchdrang, ohne dass wir sie als solche hätten nennen oder differenzieren können. Eine Begegnung, ja, fast möchte ich sagen, eine Berührung mit all dem, was wir nicht anders denken oder fassen konnten als in der Form von: Bloss weg. Darin den Figuren Becketts nicht unähnlich. Sie wollen auch immer weg, wollen aufhören, sind am Ende, kommen nicht dahin und bleiben.
Sprachen wir nicht wie Clov und Hamm mit unseren Eltern und sie mit uns? Sassen wir nicht in Wohnzimmern, aus denen wir nur raus wollten, endlich weggehen? Wir ahnten, dass es damit nicht getan sei, dass wir diesen Zimmern nicht entgehen würden. Das war, was Beckett uns erlaubte, zu empfinden. Jenes Unentrinnbare, das wir mit unseren Eltern unterhielten „. . . wie das einsame Kind, das sich in mehrere spaltet, in zwei, drei, um beieinander zu bleiben, zu sein, um miteinander zu flüstern, in der Nacht“. Wie Hamm sagt.
Das „Endspiel“ lesend, konnten wir Satz für Satz den Finger auf etwas legen, was keine Wunde oder Verletzung war, sondern eine Löschung, eine Abwesenheit, die wir in uns zu haben fürchteten und ausser uns spürten. Diesen Stellen der Unkenntlichkeit, von denen wir uns durchsiebt fühlten, die uns durchsichtig und unsichtbar machten, diesen blinden Flecken oder toten Winkeln in uns, begegneten wir in Becketts Figuren wieder. Allein ihr Aussehen, ihre so ungewiss erscheinenden Körper, aus denen verdrehte, verwirrte und darin ganz klare, einfache Sätze drangen. Wie die Sätze unzustellbarer Postkarten aus entfernten, längst verschwundenen Gegenden. Ihr Sprechen wie ihr Schweigen boten uns Anhalt und Durchsicht auf die unwegbare Gegend, als die wir uns selber empfanden.
Mit Beckett mussten wir von dort nicht fliehen, fanden Aufschub, konnten bleiben.
„. . . was braucht man mehr? Ein Herz an Stelle des Herzens?“ Heisst es in „Mercier und Camier“. Und ja, wir brauchten ein Herz anstelle des Herzens, damals. Was nichts anderes bedeutete, als dass wir wahrnehmen wollten, was wir nicht wahrhaben konnten; dass wir, was wir empfanden, empfinden konnten, und doch waren wir nicht schuld.
Dass wir besser zu zweit wären, dass wir besser zwei Körper ausbildeten, einen, der da wäre, und einen, mit dem sich reden liesse, war mir schon als Kind ein unbedingter Wunsch. Nicht etwa, weil ich ein besonders verletztes Kind gewesen wäre, sondern aus der Verletztheit, in der sich mir meine Umgebung ein paar wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zeigte und zu spüren gab. Kriegsversehrte mit nur einem Bein, mit fehlenden Händen und Armen, mit halb eingedrückten Schädeln oder einer schwarzen Augenklappe im Gesicht waren in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren in Deutschland ein gewohnter Anblick. Einige von ihnen zogen mit Bauchläden von Haus zu Haus, in denen sie ein karges Sortiment aus Pflastern, Mullbinden und Schnürsenkeln zum Kauf anboten. Solche Utensilien zur Wundbehandlung waren angesichts ihres leibhaften Zustands absurd. Doch ihr Anblick in der Küche meiner Grossmutter, wo sie Kaffee und einen Schnaps zu trinken bekamen, war selbstverständlich. Als eine Form des Einverständnisses wurde zudem jedem von ihnen eine Packung Pflaster oder ein Verband abgekauft. Für bessere Zeiten, wenn die Wunden wieder leichter zu behandeln wären. Weiter wurden sie nicht erwähnt, und zu sagen blieb nichts von ihnen. So schienen sie mir von nirgendwo zu kommen und waren selber die Ungeeignetsten, zu sagen, von wo es sie hierher vertrieben haben könnte. Das machte, dass sie nicht wirklich da waren. Sie schienen sich selbst nicht zu trauen, am Leben zu sein. Und auch wir, in deren Küche sie sassen, taten so, als gäbe es sie nicht. Was sich direkt auf mich übertrug. So dass ich sagen kann, dass meine elementare Erfahrung der Nachkriegszeit die dieser Ungewissheit der Lebenden war, ob sie, die deutlich Kriegsverletzten, aber auch, ob wir, die kein weiteres Wort über sie verloren, lebten oder nicht doch irgendwo zu Tode gekommen waren. Diese Ungewissheit, die weder zu sagen noch mitzuteilen war, machte die Erfahrung existenzieller Verlassenheit aus und war gleichbedeutend mit Sprachlosigkeit.
„Nicht wer allein ist, fühlt sich allein; dieses Ungeheuer der Verlassenheit braucht die Anwesenheit eines anderen, damit seine Verlassenheit Bedeutung hat.“ Schreibt Blanchot. Erst Becketts Paare eröffneten uns solche Echoräume einer Verlassenheit, deren Ungeheuerlichkeit darin besteht, bei aller Unbezüglichkeit dennoch unreduzierbar aufeinander verwiesen zu bleiben. Ihr unablässiges Zur-Sprache-Bringen solcher Erfahrungen, ihre wahnwitzige Absurdität und Unerbittlichkeit bot uns Schülerinnen diejenige Gesellschaft, in der wir wagen konnten, uns mitzuteilen und unsere Erfahrungen zur Sprache zu bringen. Im Licht, das aus Becketts Szenen fällt. Hellwach und unermüdlich beleuchten seine Texte die Annäherung und Trennung von Sprache und Tod, ermessen seine Figuren an den Grenzen von Lebenslagen das Ende des Terrains der Gültigkeit; dort öffnen sich andere Gegebenheiten. Vielleicht in Form einer grösseren Erinnerung. Beckett, würde ich mal sagen, haben wir noch lange vor uns.
Die deutsche Schriftstellerin Friederike Kretzen lebt seit 1983 in Basel. Zuletzt erschien von ihr im Verlag Stroemfeld der Roman „Ãœbungen zu einem Aufstand“.