For the Birds / NZZ 25.06.2005

Von Friederike Kretzen
Eine Freundin schrieb mir, sie habe von mir geträumt. Ich hätte auf einer Wiese gestanden, und alle meine Teile seien um mich herumgeschwirrt, irgendwie abgegangen, nicht mehr zu mir gehörend. Jetzt mache sie sich Sorgen. Ich solle bloss aufpassen, schrieb sie, und ob ich wollte oder nicht, ich war auf der Stelle beunruhigt, und bis jetzt, am Abend, im Bahnhof, wo ich einen Freund erwarte, gehe ich noch immer alle möglichen Gefahren durch, die mir bevorstehen könnten. In der Deutungsarbeit der Auguren wurde grundlegend zwischen erbetenen und unerbetenen Zeichen unterschieden. Die Sorge meiner Freundin gehörte unbedingt zu den unerbetenen Zeichen. So, wie ja auch die Gefahren, denen wir ausgesetzt sind, selten die sozusagen erbetenen oder gefürchteten sind.
Der Lautsprecher über mir knackt, und eine Männerstimme sagt eine Zugsverspätung von mehr als einer Stunde durch. Zeit also für die Katz. Die Bahnsteige sind so gut wie leer, ich kann den Abendhimmel sehen, die Sterne ziehen auf.
Hell leuchtet die Halle des Bahnhofbuffets. Die geschwungenen Theken für Panini, Getränke, die Zentralkasse, sie gleichen den Inseln der vor der Tür sich ausbreitenden Lagunenlandschaft, und wie diese werden auch die Theken von einer spiegelnden Fläche umgeben, über die sich tagtäglich der Strom von Reisenden bewegt und seine Schatten ausbreitet.

IM TRANSITRAUM

Eine kleine Schar von Vögeln ist hier unterwegs. Sie schlittern über den Boden, ihre Krallen denkbar ungeeignet für den glatten Untergrund, sie fallen und purzeln, fangen sich wieder in diesem Meer voller Krümel und Essensreste. Sie schütteln ihre Federn, spreizen die Flügel, setzen, um einzutauchen, zum Flug an, aber der Boden ist weder Luft noch Wasser.
Die Stadt am Abend entvölkert sich schnell. In Kürze schliesst auch das Bahnhofbuffet, letzte säumige Reisende werden noch bedient, doch bald wird hier alles, gerade da, wo es steht, in Schlaf sinken. Zusammen mit den Spatzen, die jetzt noch eines der letzten Zeichen von Lebendigkeit sind; dass ich auf der Welt und wach bin. Nicht sie, ich werde, sobald ich eingeschlafen bin, abgeräumt, zur Seite gestellt bis morgen früh oder nächstes Jahr wieder.
In Momenten der Stille ist das trippelnde Kratzen ihrer Krallen zu hören. Wie kennen sich jene hier aus, die von den Bäumen, den Büschen, aus abgelegenen Ecken zwischen Fensterläden, Regenrinnen und Schuppen kommen? In diesem Transitraum am Abend, überfüllt von den Spuren der Reisenden. Wissen die Vögel, indem sie ihre Spuren auflesen, wohin deren Reise ging?
Auf einem der Stehtische liegt eine Souvenirmaske, mit langen, blauschwarz glänzenden Federn besetzt. Die Maske gehört einem Mädchen im roten Anorak, die Kapuze über den Kopf gezogen, unter der es wie aus einem Verlies herausschaut. Entschlossen wirft es einen kurzen verächtlichen Blick auf die Eltern, die neben ihm stehen. Während es geistesabwesend die Federn streichelt, jede einzeln. Ausziehende, feinfühlige Anfassungen. Die Hände des Mädchens studieren die Richtungen der Federn, deren Zusammensetzung, Haar für Haar sozusagen, spüren den Flug auf, zu dem sie einmal gehörten. Die Unzufriedenheit, wie es so anschaulich heisst, steht dem Mädchen ins Gesicht geschrieben. Wer schrieb sie dorthin? Ihre Hände gehen über die Federn andere Wege, himmelwärts.
Gegenüber dem Mädchen an der langen Theke, einem Brett gleich, ein dunkler, dünner Mann. Weniger steht er, als dass er unablässig auf der Stelle kippt. Die Jeans sind ihm zu weit, hängen von den Hüften. Er trägt eine Lederjacke, T-Shirt, hinter den Ohren übertreibt er mit je einer Zigarette. Das Bier auf der Theke ist sein Fixstern, an den er sich hält. Seine Augen sind noch durchsichtiger als die der Kellner hinter der Theke. Etwas setzt sich dann in ihm in Bewegung, wankt an die Kasse, kauft sich ein kreisrundes Wurstsandwich, das er fest in der Hand hält. Zugleich versucht er mit derselben Hand den Kopf festzuhalten, so dass das Brot weit über seinen Kopf hinausragt. Oder ist es ein Schädel nur noch, der schaut, wo das geblieben sein könnte, was er mal war, oder was ihm zuhören könnte, wäre er noch er und da? Wo ist jetzt das Brot hingekommen, er hat es doch gerade gekauft? Hält das Brot ihm den Kopf, was soll er essen? Das Brot ist über ihm aufgegangen und hört einem Land zu, einem Stück Kindheit, etwas, das einmal gewesen ist, aufwuchs, aufgezogen wurde an einer festen Stelle auf der Erde. Ein Ausgeflogener träumt hier mit durchsichtigem Blick, streunt im Himmel und hört sich zu aus einer Entfernung, einem Stück Wiese kommend und ist einmal ein Kind gewesen, ein Säugling, der konnte fliegen. Ob meine Freundin mich in ihrem Traum wohl so stehen gesehen hat wie ich ihn? War da Sizilien, gegenüber der afrikanischen Küste, von der im Frühjahr die Vögel aufbrechen, afrikanische Früchte im Bauch als Reiseproviant, den sie fliegend verdauen und im Flug ausscheiden? Fällt dort ein Samenkorn auf die Erde, schlägt es afrikanische Wurzeln, und auf der Wiese liegt eine Reisetasche, Jeans, Socken, ein paar Unterhosen, eine Seifendose, das Flugticket.
Als ich klein war, und es war Kirschenzeit, hängten die Erwachsenen den Kindern Kirschen über die Ohren, die schwer und kühl an unseren Köpfen schaukelten. Für die Erwachsenen schien das ein Spiel zu sein, sie freuten sich an unserem Aussehen, lachten uns an. Aber ich traute ihnen nicht, sie wirkten, wenn sie uns dann so ansahen, hungrig, und was wäre gewesen, wenn sie mit einem Mal nicht mehr hätten unterscheiden können, dass wir Kinder und nicht Bäume voller Kirschen waren?

KIRSCHENBEHÄNGT

Tizians Kirschenmadonna habe ich mir ähnlich wie uns Kinder mit den Kirschen an den Ohren vorgestellt. Sie hängt in Wien, und ihr Name ruft in mir auf, wie ich kirschenbehängt auf einer Wiese stehe, die Arme ausbreite, den Kopf stillhalte, und die Vögel kommen. Sie lassen sich auf mir nieder. Ich spüre ihre Krallen, die Schnäbel, sie picken und knabbern an meiner Ohrmuschel, am Kinn, an den Ellenbogen. Sie hacken, rupfen, reissen an mir, bis mir die Augen zufallen. Immer mehr Vögel würden kommen, stellte ich mir vor, und sie würden mich langsam aufpicken, bis nichts mehr von mir dastehen würde und ich mich mit ihnen in einem Schwarm erhöbe und davonflöge. Da wäre dann nur noch ein Aufrauschen gewesen.
Gleich werden die Barmänner, die die späte Schicht machen, hier aufräumen. Noch stehen sie da, die Arme vor der Brust verschränkt, sehen durch ihre Gäste hindurch: auch sie abgereist, doch ohne den Zug zu nehmen. Nur noch das Ohr an ihnen nimmt auf, der Getränkebon zerreisst im gleichen Atemzug, in dem das Gewünschte nach hinten gerufen wird, auf der Theke steht schon der Unterteller mit Löffel bereit für die Tasse, die sich gerade mit Kaffee füllt.