Rezension Christina Viragh

Die Katze sagt, wo die Reise hingeht

Friederike Kretzen findet in ihrem neuen Roman die Wege zurück

Christina Viragh

Am Ende von Lévi-Strauss’ Traurigen Tropen heisst es: „… während der kurzen Intervalle, in denen es unsere Spezies verträgt, ihr bienenemsiges Treiben zu unterbrechen, um im Wesen zu erfassen, was sie war und weiterhin ist, diesseits des Denkens und jenseits der Gesellschaft: in der Betrachtung eines Minerals, schöner als alle unsere Werke, im Duft, weiser als alle unsere Bücher, geatmet im Kelch einer Lilie; oder im Blick, schwer von Geduld, Gelassenheit und gegenseitiger Vergebung, den ein unwillkürliches Einverständnis manchmal auszutauschen erlaubt mit einer Katze.“

Um diese Katze geht es in Friederike Kretzens neuem Buch, Bild vom Bild vom großen Mond. Ihr reist die Erzählerin nach, in den Iran, besser, nach Persien. Ihr begegnet sie auch gleich, als sie in Teheran ankommt. Frühere Bücher der Autorin, etwa die Schule der Indienfahrer, erzählen von Reisen der Sehnsucht, vom Bedürfnis, immer weiter weg zu sein, in Persien, in Indien, in Pakistan die Sehnsucht vor sich her zu treiben, um sie als solche zu bewahren. Dieser Roman einer Reise, wie der Untertitel lautet, führt dagegen immer wieder an den Punkt zurück, wo die Katze sitzt. Sie ist ja schon da, bevor die Reise richtig losgeht, und das bedeutet, dass die Erzählerin rückwärts reisen wird, um die Katze nicht aus dem Blick zu verlieren. Die Katze, den ruhenden Punkt, an dem man das Wesentliche zu verstehen beginnt, diesseits des ganzen Treibens, des ganzen Reisens. Adieu voyages, heisst es bei Lévi-Strauss. Das könnte das Motto dieses Romans sein, der nicht nur die Katze im Blick behält, sondern in der Rückwärtsbewegung auch immer mehr in den Blick bekommt, jene frühere Reise mit den Indienfahreren, aber auch viel weiter Zurückliegendes, so etwa das Kind, das in der Küche der Grossmutter vom Mond träumt, von einer Mondfahrt, und vor dem noch das „Geglitzer der Oberflächen, der Tage, der Namen und Destinationen“ liegt. 

Rückwärts bedeutet aber nicht, dass es nicht vorwärts geht in der Geschichte, im Gegenteil, sie entwickelt einen starken Sog, man folgt den Etappen dieser Reise gespannt, will nicht nur wissen, wohin es als Nächstes geht, wem man als Nächstes begegnet, sondern auch, oder vielleicht sogar vor allem, was für Träume, Phantasien, frei schwingende poetische Assoziationen der Reisenden zufliegen werden. „Alle sind sie da“, heisst es bei einem Besuch des Teppichmuseums von Teheran, „im Dämmerlicht der Teppiche, unzugänglich und aufgehoben. Getrennt von ihren Landschaften, ihren Herden, dem Gewicht der Körper, die auf ihnen ruhen, schlafen, sterben. Sind wir durch die Tunnel gekommen, durch Zeit und Raum geglitten. Im Licht des Museums, seiner verwunschenen Sammlung der Gärten, Wege, Routen und Spuren der Nomaden, bin ich in die Ferne geraten.“ 

Dahin möchte die Leserin mitgeraten, mitgenommen werden, um dann mit der gleichen Leichtigkeit wie die Erzählerin die doppelte Reise zu machen, die reale und die im Kopf. Wobei doppelt zu wenig gesagt ist, die Reise vervielfacht sich, je länger sie dauert, faltet sich auf, es erscheinen Städte und Länder am rückwärtigen Horizont, New York etwa, Detroit, Delhi, Kyoto, Bern, Giessen, und mit ihnen die Bilder, die Unterfangen, die Stimmungen früherer Reisen. Die aktuelle Persienfahrt bleibt aber Angelpunkt, mit allen ihren konkreten Alltäglichkeiten, den Plastikstühlen beim Karottensaft-Stand, dem zu grossen Tiefkühler im zu kleinen Laden, dem kühnen Outfit der neuen Bekannten Hosna, den Taxifahrern. 

Ja, die Taxifahrer, für viele Reisende auf der ganzen Welt ein erster Kontakt mit dem fremden Land und in Reiseberichten gern als Topos verwendet. Nur, die „Taxifahrer dieser Stadt sind Wind, Sand Land. Wächter der Wege, überbringen Entfernungen, ihre Botschaften sind verborgene Gebiete. Sie erschaffen Straßen, Wege, Autos, sind Reifen, Lichter, Motoren. Als Nomaden kennen sie den Fahrtwind und die Richtungen, die sich schneller drehen, als wir folgen können.“ 

So ein Reisebericht ist das eben, er schert sich um die Topoi und macht gerade mit dieser Freiheit die Lektüre zum Vergnügen. Was gerade in diesen Tagen, da aus dem Iran erschütternde Nachrichten kommen, der Vielschichtigkeit und kulturellen Vielfalt des grossen Landes auf eine, man muss es so sagen, liebevolle Art gerecht wird.

Friederike Kretzen: Bild vom Bild vom großen Mond. Dörlemann Verlag Zürich 2022. 285 S.