Lange Nacht Duvanel

Non-Stop Lesung | Schweizerisches Literaturinstitut HKB Bern

Samstag 3.12.22 zur Einführung

EIN ABEND DER GASTREUNDSCHAFT UND EINE NACHT IM ZIRKUS

Denn: „WIR ARTISTEN AN DER WERKBANK, IN DER WISSENSCHAFT, IN LIEBESDINGEN, IN DEN LEBENSLÄUFEN UND IM ZIRKUS, GEBEN UNSER LEBEN FÜR ETWAS, DAS SEINE TOTEN WERT IST…“ Sagt Kluge.
Und, das sagt er zu Benjamin, was ich gerne auch zu Duvanel sagen möchte: Tatsächlich schrieb sie für die Ewigkeit. Das ist der Beruf der kritischen Autorin.

Beunruhigende, unheimliche Stücke Literatur. Ein aus vielen Teilen sich zusammensetzender Gross-Roman, der uns das Fürchten lehren kann. Geschrieben von einer, die die Angst kennt. Denn sie ist bei den Gescheiterten in die Lehre gegangen und sie lehrt uns, dass wir von ihnen lernen können – vielleicht nur von ihnen.
Duvanels Literatur ist eine ganz und gar radikale. Wer sie liest, fliegt auseinander und findet, wenn er Glück hat, eine andere, eine wiederständigere Fassung seiner selbst. Vielleicht so gar eine, die keine Angst mehr haben muss.

Radikalität, so Kluge, ist keine Frage des Willens, sondern der Erfahrung. Duvanels Radikalität liegt in der bedingungslosen Zuwendung zu ihren Figuren, die sie nicht schont, sondern genau und unerbittlich befragt. Darin allerdings liegt eine Zartheit, ein Zuhören, Ernstnehmen, das anders ist und Erkennen ermöglicht. Erkennen, insofern es das Ende der Leugnungen bedeutet.

Was Duvanel schreibt, ist ein Gegenmodell zu unserer nur scheinbar gutmütigen, toleranten, gerechten Gesellschaft. In ihren Texten gibt es eine Gemeinschaft der Figuren, Räume und Dinge, in der nicht geurteilt, nicht kommentiert, und vor allem nicht selektioniert und ausgeschlossen wird.
In gewisser Weise liesse sich sagen, Duvanel erschreibt eine Gemeinschaft der Einsamen, Verwaisten, der Verqueren und auf dieser Welt Obdachlosen, die in ihren kleinen, kurzen Erzählungen eine Geschichte haben, sie erzählen, und so in diesem Buch eine Art Heim und Wirklichkeit finden. Und zwar durch ein anderes Zuhören, ein Öffnen auf das, was auch noch da ist. Ich denke, dass dieses „Heim“ die Möglichkeit der Literatur ist, und dass es im Schreiben eben genau darum geht, auf Geschichten, die sich unablässig erzählen, zu hören, sie eben nicht abzutun, sondern sie aufzunehmen.

Walser ist ja auch ein Obdachloser, und Biel ist durch ihn, durch seine Geschichten und Texte immer auch eine Stadt der Obdachlosigkeit. So, wie Basel durch Duvanels Erzählungen auch eine Stadt der Obdachlosen, der Verwaisten und der tapferen Kinder von Strafgerichtspräsidenten geworden ist.

Literatur ist ein Heim für all das Obdachlose, Übriggebliebene, all das, was nicht aufgeht in den uns angetragenen Formen glücklichen, sich selbst geniessenden Lebens.

Emily Dickinson sagt, dass Kunst ein Haus sei, in dem es spukt. Ich würde dem gerne hinzufügen: Na hoffentlich spukt es in diesem Haus. Denn wo sonst, als in der Literatur, sollten wir mit den alten Gespenstern, mit all dem, was uns ängstigt und heimsucht, das Gespräch suchen.