Der Rausch der Ferne

In ihrem neusten Roman «Bild vom Bild vom großen Mond» erzählt Friederike Kretzen vom Rausch des Reisens und Schreibens.

Von Lara Buchli, 16. Februar 2023

In Friederike Kretzens neuem Werk reist eine Ich-Erzählerin in die Ferne nach Persien, um aus den erlebten Begegnungen und Erlebnissen ein Buch zu schreiben. Der Untertitel kündigt dies bereits an: ein «Roman einer Reise» darf man erwarten, über knapp 300 Seiten hinweg erzählt. Nicht zum ersten Mal verarbeitet Kretzen das Reisen mit dem Schreiben in Form eines Romans. Bereits in ihrem letzten Buch, Schule der Indienfahrer (2017), setzte sie sich damit auseinander, wie eine Reise Menschen verändert und zu einer Lehre fürs Leben werden kann.

Aufgehoben in der Fremde

In Bild vom Bild vom grossen Mond bricht eine namenlose Ich-Erzählerin in Richtung Osten auf, bis sie in den Iran gelangt. Im Erzählen erinnert sie sich an frühere Reisen, an alte Bekanntschaften und an Indien. So vermischt sich im Imaginären der Erzählfigur das Vergangene mit der Gegenwart und Erinnerungen gehen fliessend über in erlebte und erdichtete Ereignisse.

Im Erinnern, Reisen und Schreiben kommt die Ich-Erzählerin immer wieder auf denselben paradoxen Zustand zurück: die Geborgenheit in der Fremde. Gelassen das Neue annehmend staunt die Ich-Erzählerin, verfällt aber nie in eine blinde Naivität, sondern bleibt stets kritisch dem gegenüber, was sie sieht. Wahrgenommene repressive Strukturen, Gewaltherrschaft und Ungerechtigkeiten werden durch eine feinfühlige, gleichwohl unbeschönigende Perspektive vermittelt. Nie steht das persönliche Entsetzen über Erlebtes im Vordergrund und doch erfahren wir von ihren Empfindungen und ihren Handlungen in einer eindringlichen Unvermitteltheit.

«Is there anybody out there?»

Kretzens Sprache ist reich an Bildern und schöpft aus dem vielfältigen Fundus kulturellen Textmaterials. Die Sätze ergeben zwar eine Sinneseinheit, doch zerfasert die darin erzählte Handlung durch wiederkehrende Abschweifungen, was einen surrealen Effekt erzielt. Liedzitate aus den Texten von Pink Floyd etwa werden wiederholt aufgenommen und funktionieren in leitmotivischer Weise. «Is there anybody out there?» fügt sich als Frage der Erzählerin ein. Dieses kurze, uneindeutige In-Verbindung-Treten der Erzählerin mit den Lesenden verstärkt den Eindruck, sich durch die Lektüre in den frei schweifenden Gedanken einer anderen Person zu befinden.

Eleganz im Rausch

Die Komplexität dieses Romans ergibt sich zum einen durch die grosse Fülle an Verweisen, die nur angedeutet, aber niemals ausgeführt werden und zum anderen durch die poetische Sprache, welche in tranceartiger Weise die Handlung bis zur Unkenntlichkeit mit dem Fantastischen verwebt. Ebendies macht die ästhetische Qualität dieser Erzählung aus: Kretzen gelingt der Kunstgriff, diese schier unbezwingbar anmutende Komplexität den Lesenden so elegant vor die Füsse zu legen, dass eine Lektüre auch ohne das umfassende Wissenskorpus, auf das der Text Bezug nimmt, gelingt.

Eine Liebeserklärung

Die grosse Fülle an Verweisen kann zunächst überwältigen. Doch auch wenn man verleitet ist, jeden Satz zu sezieren, vermag es dieses Buch, die Lesenden in einen Rauschzustand zu versetzen, denn der Roman ist im Grunde eine Liebeserklärung an ein Gefühl: Das Gefühl, eine Suchende zu sein. Immer auf Reisen, niemals ankommen und doch überall zu Hause sein. Bild vom Bild vom großen Mond erzählt rauschartig, ist kritisch und zärtlich zugleich und vermag es dadurch auf kunstvolle Weise, auf verschiedenen Ebenen zugänglich zu sein. Mit jeder Lektüre dieses Romans lernt man, dass Reisen wie Schreiben auch immer Träumen ist.