Archiv der Kategorie: Essays

Nicht vergessen, dass wir leben müssen

Erschienen im Cinema-Jahrbuch 2019 als „Noch ein bisschen bleiben“

Wir treten ein, der schmale Flur ins Dunkle, durch den Spiegel. Bald steigen sie aus der Dunkelheit auf, sie sitzen in einem Auto, ihre Worte fliegen im Rhythmus der Strassenlampen über sie hinweg. Sie fahren gen Süden und haben den Norden verloren. Sie suchen die Liebe. Die dreht die Zeit um, wie der Tod. Sie sind in einem Film. Ein Film ist ein Kampfplatz. Liebe, Hass, Gewalt, Tod. Ja. Gefühle. Sie fahren in der Nacht. Sie schauen uns an. Während sie fahren, kommen wir ihnen entgegen. Sie sprechen. Wir sehen sie sprechen, Wörter steigen aus ihren Kehlen auf wie aus der Unterwelt, kommen aus ihrem Mund und wandern über ihre Köpfe zurück in die Entfernung, die sie hinter sich lassen. 

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Laudatio Barbara Schibli GEDOK Literaturförderpreis

Verehrte Preisträgerin, liebe Barbara, sehr geehrte Jury, meine Damen und Herren

Es ist mir eine grosse Freude, das soeben erschienene Buch von Barbara Schibli – seine stille Kunst, geheime Wucht, seine Hoffnung – hier würdigen zu dürfen. Die Freude ist eine besondere, weil wir uns seit langem persönlich kennen und freundlich zugetan sind.
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Widerstand der Ästhetik – Peter Weiss

Fehlt Peter Weiss? Fehlt er uns? Fehlt uns, dass er uns nicht fehlt? Manchmal, vielleicht liegt es an der Schweiz, in der ich schon so lange lebe, frage ich mich, ob wir nicht schon längst tot, erstarrt, versteinert sind, nur haben wir es noch nicht gemerkt. Uns wird von überall her gesagt, dass alles, alles anders geworden sei und wir mit unseren Erfahrungen von Zeit, von der Widerständigkeit der Zeit, der Widerständigkeit mit der Zeit und in der Zeit, passé. Vorbeigegangen, nicht mehr gültig, tot, außer, wir „gehen mit der Zeit“. Mit dem, was uns unter diesem Begriff an Diskursen, Urteilen und Zuschreibungen angetragen wird. Widerstand der Ästhetik – Peter Weiss weiterlesen

Toni Morrison, Beloved

Einführung Lesung am 9.12.2015 im Literaturhaus Basel

Gerne möchte ich hier, am Ende der Reihe nochmal anmerken, was für kühne, radikale und zugleich, – wahrscheinlich gerade darum – schwierige, gefährliche, unheimliche Bücher die sind, die wir hier gehört haben. Denke ich zum Beispiel an den Fall Franza, an Beloved, an L’Armant und Orlando. In einem Vortrag Virginia Woolfs, „Mr Bennett und Mrs Brown“, in dem sie die damals, 1923, noch neue, moderne Form des Romans den traditionellen Formen des englischen Romans gegenüberstellt, fordert sie uns Schreibende, aber auch uns Lesende dazu auf, nie, nie das Leben zu vergessen. Das Leben, dessen Geist sie in der kleinen, zarten, leicht armselig adrett gekleideten Mrs Brown verkörpert findet, die ihr eines Tages im Zug gegenüber sitzt, und die sie seitdem nicht mehr loslässt. Toni Morrison, Beloved weiterlesen

Für Jürg Laederach

Laederach ist noch keiner auf die Schliche gekommen. Er ist einfach zu viele. Was ich darum hier auch gar nicht erst versuchen möchte. Für alle anderen Arten von Geschichten hingegen eignet er sich immer. Beispielsweise für solche, die anfangen wie: Laederach und die Toaster. Er hatte einen hohen Umsatz an Toastern, immer die neuesten Modelle. Sie konnten toasten, kochen, braten, überbacken. Seine Kochkunst bestach durch reines toasten. Einmal kam dabei die Decke runter und zertrümmerte den Toaster, ein anderes Mal, mit einem anderen Toaster, fing eben jener Feuer und die Küche dann auch. Woraufhin Laederach schrieb „Leichen ausgraben: Burgwegs Küche brannte am 6. Februar ab.“ Für Jürg Laederach weiterlesen

Wem gehört Detroit? WOZ Nr. 49  4.12.14

Die US-Stadt ist schon viele Tode gestorben. Sollte sie sich nicht endlich vom Mythos verabschieden, immer wieder auferstehen zu können, um stattdessen die Menschen und das Leben zu suchen, dort wo sie sind?

Wer nach Detroit kommt, sollte unterschreiben müssen, dass es  in  eigener   Verantwortung  geschieht.  Es kann gefährlich sein, dorthin  zu reisen,  er oder sie könnte überfallen werden, sich anstecken, von schrecklicher Traurigkeit  ergriffen, von einer  Kugel  getroffen,  überfahren, durch  Chlorhühnchen vergiftet werden, einem alt gewordenen Hamburger erliegen oder eine Ohnmacht erleiden.  Die zweiseitige Erklärung würde bei der Einreise, nachdem  sie unterschrieben worden  ist, in einer Holzkiste von einem Mitarbeiter der Homeland-Security-Abteilung  eingesammelt. Danach  wäre  der  Mensch  frei, sich  in der Stadt zu bewegen. Wem gehört Detroit? WOZ Nr. 49  4.12.14 weiterlesen