Ich bin vertieft / NZZ 06.06.2006, Nr. 128, S. 28

Von Friederike Kretzen
Ich bin vertieft, sagt Elschen. Jeder Schritt ist ein Schritt zu viel und der zu wenig. Geht es dir gut, fragt mich die Maskenbildnerin? Sie hat von mir geträumt. Pass auf dich auf, ruft sie mir nach. Schon zittere ich. Zu spät, zu früh, ich stürze die Treppe runter. Nein, es war doch die Tür ins Bad. Und das nächste Mal verwechsle ich sie und werde die andere nehmen? Ein Diener träumt, er träfe auf dem Markt den Tod, der ihn drohend anschaut. Erschrocken wacht er auf, eilt zu seinem Herrn, berichtet ihm von seinem Traum. Er bittet um ein schnelles Pferd, er will Tag und Nacht nach Samara reiten, wo ihn der Tod nicht finden wird. Sein Herr gibt ihm das Pferd, er reitet sofort los. Am nächsten Morgen geht sein Herr, neugierig geworden, auf den Markt. Als er dem Tod begegnet, stellt er ihn zur Rede, warum er seinen Diener böse angeschaut habe. Der Tod antwortet, dass er ihn nicht böse angeschaut habe, nur verwundert, ihn hier zu sehen, da er doch morgen mit ihm in Samara verabredet sei. Wenn es zu spät ist, ist es schon geschehen. Doch war es schon, und alle Wege führen nach Samara? Auch der, zu bleiben und zu zittern? Hier ist da und vor hundert Jahren jetzt. Ich will aufpassen, nicht nur, wenn ich schlafe oder tot bin. Wer weiss das schon?
Da liegt Samara, und über den Seiten geht der Mond auf, der schräg im Himmel liegt und gelb ist wie die Sonne. Der Mond, das Mondgesicht der Tochter, der die Mutter im Ohr liegt wie der Mond im Himmel. Glaub nicht, was du siehst. Glaub nicht, was du hörst. Glaub mir, dass alles nicht wahr sein kann, sagt sie. Ich habe mein Leben in den Büschen verloren, am Wegrand, auf der Suche nach etwas, das mir gleicht. Ich bin enttäuscht, ich verlange nichts mehr, glaub mir das. Und glaub mir nicht, sonst läge ich dir nicht in den Ohren. Dazwischen erstreckt sich eine Zone, ein Landstrich, weder Rand noch Weg. Da wachsen weder Zeder noch Busch, weder Mutter noch Vater. Da geht die Tochter auf. Im Sternbild der Töchter, inmitten der Plejaden.
Gleich neben dem Bild der heiligen Ursula im Schlaf, sagt Hannah. Sie liegt in Venedig, lang, rot, vor ihrem Bett die winzigen Pantoffeln. Die Seite neben ihr im Bett ist leer. Ihr Kopf lehnt an einem Kissen. Sie hat den Arm aufgestützt, die Hand liegt um ihr Ohr, um besser hören zu können. Ihre Augen weit geschlossen wie unsere, ihr Gesicht hell erleuchtet. Am Kissen, das ihren Kopf stützt, hängt zur Zierde wie ein Trabant ein Bommel. Das ihn umrundende Schmuckband ist mit den Silben der Kindheit bestickt. IN-FAN-NTIA. Ihren Kopf auf die Kindheit gebettet, durchmisst sie den Schlaf, die Zeit, in deren Rückhalt sie ebenso vernimmt, was ihr bevorsteht, wie was hinter ihr liegt. Ihr gegenüber ist der Engel der Verkündigung aufgetreten, sagt ihr Martyrium voraus. Schon wieder. Zehntausend- elftausendmal.
Wir hören ihm zu, im roten Kleid, mit roten Ohren. Und aus dem angrenzenden Zimmer im Hintergrund des Bildes dringt ein anderes Licht, fällt vom Abend her ein, in dem sich das Licht des Engels am Morgen bricht. Es beleuchtet ihre Bücher, die offen in der Kammer liegen, fällt über die Seiten auf den Text, den ihr der Engel verkünden wird. Gerade noch las sie darin, bevor sie sich zur Ruhe legte. Sie liegt auf Empfang, lauscht auf die mit Nadeln geschriebene Kindheit, die mit einem N zu viel ein Zögern verlangt. Konnte die, die sie stickte, nicht richtig schreiben? Wollte sie mehr schreiben, als sie konnte? War sie etwa stumm, konnte nicht sprechen? Hatten sie der Stickerin gar die Zunge herausgeschnitten, und das eine N zu viel bedeutete, pass auf dich auf? Wie ein Pult ragt das Kissen im Bett, auf das Ursula ihren Kopf legt, um im Traum zu lesen, der sich aufblättert, und sie geht die Seiten durch im Schlaf, im Buch der Kindheit, dessen Silben und Laute sind, was wir wissen.
Am Rhein, gegen Abend, der Fluss dunkelgrün, er leuchtet, sagt Gitti. Die ersten Schwalben des Jahres, gerade angekommen, auf Windbahnen, dünne Schnitte in der Luft. Mit einem Auge sehe ich noch die knospenden Fliedersträucher, die niedrigen Stechapfelbüsche, das flammende Rot ihrer Blüten, Beete am Rheinbord, ein elektrisches Toilettenhäuschen, dessen Tür nicht mehr schliesst, einen Brunnen ohne Wasser. Da bin ich schon, da gehe ich schon um die Erde, gehe ins Dunkle, ich schaue schon nicht mehr zurück. Bis ich mich von hinten anfallen werde und in diesem Anfall, wenn die Landschaften schön werden, das Gefühl haben kann, wieder da zu sein. Rührt mich nicht an. Wir sind verraten worden. I wish you well, sagt der Radiosprecher im Programm am frühen Nachmittag, in einem Moment des Anhaltens. Es ist die Sendung mit den Frauen, Müttern, Pflegerinnen, die anrufen und berichten, was wieder passiert ist, was alles geschieht. Sie machen sich Sorgen, wegen nichts und wieder nichts, oder wegen des Schlimmsten, des Schrecklichsten, und auch das will nichts heissen. Ihre Männer verlieren die Arbeit, sagen sie, haben Herzinfarkte, einen, zwei, den dritten und immer in die Kur, kein Frauenbesuch, kein Kaffee, drei Monate. Ich habe was Schlimmeres als Grippe, sagt eine. Nach dreissig Jahren Ehe und dann das.
Ich warte auf den Tod meines Mannes, jeden Tag, habe einen anderen in der Kur kennen gelernt, selbstmordgefährdet, Medikamente, arbeitslos, vier Kinder, von der Frau getrennt, der ruft an und sagt, komm, dann ruft er an und sagt, komm nicht. Mein Bruder hat nur noch eine halbe Lunge, sein Herz setzt aus, jede Minute mehrmals. Seine Frau hat die Hühner im Haus und pflegt sterbende alte Menschen, die wohnen unterm Dach. So kommt Geld rein. Von was leben müssen sie. Der Mann will das Haus verkaufen, jetzt ist er in der Kur, darf keinen Kaffee trinken. Trinkt aber Kaffee. Die Tochter, mit einem Metzgermeister verheiratet, bringt immer Fleisch mit, ihre zehnjährige Tochter spindeldürr.
Der Sohn mit fünf malt sich das Gesicht mit Filzstiften an, das geht ein Lebtag nicht mehr ab. Brille und Schnurrbart, wie ein Waschbär sieht das Kind aus. Soll ich dir mal was sagen, ruft es an. Ich habe ein Schloss. Soll ich dir mal was sagen? Ich habe zu Hause Pferde und Messer und Raubtiere und Gewehre. Ich bin ein Untergrundkämpfer, sagt es und ist für heute die letzte Stimme der Sendung. Ich wünschte ihnen alles Böse, meine kindliche Waffe, die ich am Küchentisch zog. Womit ich Macht und Ohnmacht ins Zimmer holte, sich an den Küchentisch zu mir setzen hiess, und ich zitterte, beängstigte die Wände, den Küchenboden aus Stein, den HeiBackO. Ich verfluchte die Welt und sass am Tisch allein, kümmerlich, vom ausgestossenen Fluch durchdrungen, zusammengestaucht, Gift und Galle. Ein verklumpter, böser Zwerg, da sitze ich und kann mein Gift nicht ausspucken.
Friederike Kretzen, geb. 1956, lebt als Schriftstellerin in Basel.

Der vorliegende Text ist ein Auszug aus einem neuen Romanmanuskript, das den Titel „Weisses Album“ trägt.