Zu Ericas Neunzigstem 25.2.20

Annäherungen an das periodische System Erica Pedretti, geordnet nach steigender Kernladung.

Lass ihr Zeit, das hat sich Erica Pedretti vor vielen Jahren in ihre Engste Heimat voraus geschrieben. 

Lass ihr Zeit, sagen die Tanten, Mütter, Erzieherinnen über das Kind Anna, meinen aber sich selbst. Und so geht der Satz vom Sich-Zeitlassen durch die Zeiten und Generationen immer weiter bis hierher. Denn sie haben sich daran gehalten, die guten Geister einer vergangenen Welt, die noch immer dafür sorgen, dass die, die heute ihren neunzigsten Geburtstag feiert, Zeit hat für uns, die wir hier sind um ihr zu gratulieren. Zeit aber auch, um weiterhin von dieser untergegangenen Welt zu zeugen, sie anwesend sein zu lassen, lesbar, anschaubar, in grosser Ferne ganz nah.

Als Erica Pedretti siebzig wurde, habe ich in einer kleinen Rede im Centre Pasqua von einem Erlebnis berichtet, das ich mit Erica und Gian in Venedig hatte. Wir waren in einem dieser 

Andenkenläden, aus denen Venedig heutzutage nur noch besteht. Die beiden wollten für Ihre Enkel etwas mitbringen und führten aus Gründen der Diskretion ihr abwägendes Kaufgespräch in einer gänzlich wilden, verwunderlichen Sprache. Das kann nur die Sprache der Hirsche sein, dachte ich. Und sofort sah ich die beiden in der Landschaft der Berge, des Schnees, der Tiere und mit den Hirschen zwischen Wasserstellen unterwegs in der Höhe. 

Zum achtzigsten Geburtstag habe ich von ein paar Lieblingssätzen aus Ericas Büchern geschrieben. Der eine, dass es in Plouda schneit, der andere, dass Mister Brown mit mir in die Stadt geht. Mister Brown aus der Engsten Heimat geht nach Plouda, das irgendwo in ‚Harmloses, bitte’, Deinem ersten Buch, liegen muss, wo es womöglich bis heute einfach weiter geschneit hat. Er wie Plouda und der Schnee, der da unablässig fällt als wäre er die Zeit, bewegen sich auf diese unnachahmliche Art wie die Wörter – oder soll ich sagen wie die Hirsche, – der Hirschsprache. Die wird auch in Plouda gesprochen, jenem Plouda oder Blauda, dessen Existenz so ungewiss ist wie sein Name. Nur der Schnee und dass es schneit ist so gewiss wie die Bewegung der Wörter in Ericas Büchern: allesamt vagabundieren sie. Sie kommen, genauso wie Du, liebe Erica, aus dem Draufgängertum, dem Geist des Ausschweifens und des Segelns. All das, was mich an Dir vom ersten Satz an, den ich Dich habe lesen hören, sofort eingenommen hat. Dafür möchte ich Dir danken. Kühnheit und Schönheit, wie sie Deine Kunst direkt überträgt, sie kommen von da, aus dem freien, aufrührerischen Geist der Nomaden, Vagabunden, Tramps, – all jener, die in 

Unsesshaftigkeit sesshaft sind.

Nun zu Deinem neunzigsten Geburtstag möchte ich etwas von dem Glück berichten, mit Dir – und oft ist Gian dabei, die beiden sind ein Team, -irgendwo auf der Welt zu stehen und im gemeinsamen Sprechen, Schauen, Zeigen, im Aufmerksam machen und ganz langsam weitergehen, scheint alles, was da ist, zu leben anzufangen. Ja, als würde es mit einem Mal die Augen aufschlagen, uns anschauen und sagen, wie gut, dass wir endlich mal wieder vorbeikämen. Wie ein Zauberkasten wirkt dann der Himmel, der See, der Campingplatz, ein Garten in Berlin, die Wunderkammer in Innsbruck, die Gänge durch Venedig, immer wieder auf schwankendem Boden und wir wie Seefahrer an Land. Das Altersheim für Kapitäne in Londons Eastend mit den Schiffen aus Stein an beiden Portalen. Dort haben sie sich überlegt, in London zu bleiben. Ein Jahr lang ging ich täglich daran vorbei, und stelle mir die beiden in einem anderen Leben dort an Land gekommen vor, auf der Insel der Seefahrer, in einem Haus der Kapitäne. 

Denn zur See fährst Du auch, liebe Erica. Nimmst Hirsche, Berge, Schnee und allerengste Heimat mit dir, verstehst dich aufs Herumtreiben in Campingwagen, Hütten, bringst kleine Gärten mit links zum Wuchern und Blühen. Nie werde ich eine Bootsfahrt zwischen Bieler und Neuenburger See vergessen, in der schönen Gesellschaft von Ruth und Heinz Schafroth, Samuel Moser und in La Neuveville kamen noch Erica und Gian an Bord. Es muss in den späten neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts gewesen sein, ein Sonntag, es gab Kaffee und Kuchen, als Erica anfing uns von einem jungen Mann zu erzählen, der bei ihr vor der Türe gestanden hatte. Er war gerade aus dem Gefängnis oder aus der nahegelegenen Psychiatrie geflohen oder entlassen, das war nicht so klar. Er brauchte jedenfalls etwas zu essen, vielleicht auch ein paar Kleider, ein bisschen Schlafen und zur Ruhe kommen, das wollte er auch. All das wurde ihm gewährt, sie 

hiessen ihn willkommen. Er hat ihnen dafür aus seinem Leben erzählt, er war schon ganz schön rumgekommen und sein neuer Plan war, nach Istanbul zu reisen, er müsse nach Istanbul, da wäre sein Bruder oder ein Freund, sein Onkel, eine Freundin, er habe Beziehungen da hin. Und überhaupt, habe er gesagt, sie sollten doch mitkommen, mal ein bisschen raus, was unternehmen, die Kinder, klar, auch die. Sie könnten zusammen in ihrem Auto losfahren, bisschen was zu essen mitnehmen, Schlafsack, eine Angel, vielleicht ein paar Zitronen. Also ja, klar, das ist ein guter Plan, wollten auch immer schon mal nach Istanbul und die Kinder mitnehmen, auch ein Zelt vielleicht und Pilze sammeln unterwegs, Beeren, sie hätten auch Freunde auf der Strecke, bei denen sie vorbeifahren könnten. Ihnen guten Tag sagen, vielleicht hier alles abschliessen, ein bisschen länger unterwegs bleiben, kann nie schaden, die Welt ist so schön und gross, ein Jahr oder zwei, einen kleinen Laden aufmachen in Istanbul, gleich am Wasser, wieder ein bisschen Schmuck machen, Teller, das Material viel schöner da, das Licht, die Farben. Geht in Ordnung, wann fahren wir? Gut, sagte der junge Mann, er würde seinem Bruder schreiben und dann würden sie losfahren, vielleicht noch ein, zwei Tage warten, und dann los. Erzählte Erica ohne jede Aufregung, so, wie es sich wohl abgespielt hatte und wir auf dem Schiff, mitten in diesem schnurgeraden Kanal zwischen den Seen, uns war als kämen wir gleich am Bosporus an, wären dabei, die Grenze von Okzident und Orient zu queren, ach was, es gab die Grenze gar nicht mehr. Wir lauschten Ercia und ihren Plänen nach Istanbul zu reisen mit dem jungen Mann, der eines Morgens verschwunden war, er hat auch irgendwas mitgenommen von ihnen, was ihm nicht gehörte. Aber was war das gegen Istanbul, wohin Du noch immer ein bisschen unterwegs zu sein schienst, nie wirklich zurück gekommen, hattest in Deinen Plänen einfach weitergemacht, vielleicht einen kleinen orientalischen Garten schon mal ausgelegt. Und während ich jetzt hier spreche, werde auch ich das Gefühl nicht los, da in diesem Boot an einem schönen Sonntag zwischen Neuenburger- und Bieler See mit Dir und Deinen Sätzen unterwegs zu sein. Noch immer Richtung Istanbul, dem Orient entgegen, dem Aufschub der Zeit. 

Friederike Kretzen Februar 2020