Wo der Hahnenfuss wächst / Zeitschrift DU 3/2004

Von Friederike Kretzen

Meine Mutter steht auf meinen Schultern. Wir sind riesenhaft. Wir ziehen durchs Land. Sie ist das Gebirge meines Lebens. Ueber uns spannt sich der Himmel, der Mond zieht auf und gleich da neben ihm diese winzige, verwischte Ausbuchtung, dort schläft die Verlorenheit, in der wir uns hier unten als ein schweres, unerträgliches Paar zu bewegen versuchen. Wir zwei, Mutter und Tochter, sind eine alte Geschichte und von lange her sind auch unsere Bewegungen, Ansichten und Aufgaben unterwegs, die immer wieder von neuem denen, die kommen und werden, aufgetragen sind. Seht zu, wie ihr euch einen Reim darauf macht, was euch verbindet und wie ihr es ertragt.
Mutter und Tochter sind in einem alten Lied unterwegs, das die Mutter ihrem wenige Wochen alten Baby vorsang, bis dieses mit klarer Stimme mitzusingen begann. Es sei meine Stimme gewesen hiess es, die Stimme einer Tochter im Bemühen um eine Bleibe für ihre Mutter. Damals schon trug ich sie auf meinen Schultern.
Der Tod ist in diesem Zusammenhang, in dem es durchaus um Leben und Tod geht, bekanntlich keine Lösung. So bleibt, was nicht zu fassen und ohne Begriffe blieb, an die sich Mütter und Töchter halten könnten, jeder Mutter mit jeder Tochter und jeder Tochter mit jeder Mutter erneut aufgetragen, danach zu suchen, wie sie sich einander mit zu teilen in der Lage sind.
Erwartet wird von diesem Paar, die Verlorenheit, wie sie neben dem Mond in jenem Flecken Himmel schläft, hier unten auf der Erde zu durchmessen. Also verloren zu sein, und es wirklich zu sein. Es fängt schon damit an, dass die beiden die richtigen Wörter nicht finden können, um sich einander zu versichern, dass sie, verloren wie sie sind, füreinander da sind. Dabei heisst doch die Sprache, in die sie sich teilen, Muttersprache und dennoch sind sie nicht Herrinnen ihrer Wörter.
Gehen denn Töchter aus Müttern hervor? Haben Mütter mit Töchtern was zu tun? Wie hätten wir sie gerne? Gleichalt, gleichschön, gleich unvernünftig und stets machen sie Vorwürfe, zetern. Waren sie etwa nicht einmal als Rachegöttinnen unterwegs, Mütter und Töchter zusammen, um was zu rächen eigentlich? Hatten sie einen Grund? Frassen die Mänaden nicht, nein, nicht die eigene Tochter, die frass sozusagen mit, den eigenen Sohn, Pentheus?
Möglicherweise haben Mutter und Tochter in jedem ihrer Wörter die Verlorenheit ihrer Geschichte zu teilen, wie sie am Himmel verzeichnet steht. In der Muttersprache gibt es wie am Himmel neben den Wörtern diese undeutlichen Zonen und Schatten zu sehen. Kann es sein, dass dort der Name des Worts liegt und träumend wacht? Der Name des Worts, das ist jenes Herkommen der Wörter aus den Lauten, dem Lallen und Plappern, dem unverfügbaren Zusammenhang von Atem und Laut, von Sagen und Sein. Die Wörter bei ihrem Namen genommen erschliessen uns eine Verbindung von uns mit dem Werden und Vergehen der Sprache selbst. So dass jedes Kind, das sprechen lernt, eine Antwort auf die Frage gibt, ob, wie und als was unsere Sprache und wir in ihr existieren.
In der frühen Kindersprache ist die Verbindung von Sprechen, Fühlen, Aufnehmen durch Mund, Augen und Ohren noch wenig unterschieden. Die Namen der Wörter gehören diesem Ununterscheidbaren zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenen an, setzen uns mit diesen Zuständen in der Sprache in Verbindung. Die keine sind, die wir hinter uns lassen, die wir abgeschlossen irgendwo verstauen könnten. Jede Mutter mit jeder Tochter arbeitet unmittelbar an diesen Verbindungen, die sich in der Muttersprache als Wissen von der Unverfügbarkeit und Verlorenheit unserer Existenz namentlich aufhalten. Es ist diese Bedingung der Muttersprache, die uns zugleich ermöglicht, uns in
Zusammenhängen einer alten Geschichte zu erkennen. In diesem Sinne verbindet die Muttersprache den Himmel über uns mit dem Himmel in uns, dessen Erscheinungsweise die Sprache ist, wenn auch die verlorene der Namen.
Meine Mutter ist, während wir über den Rücken des Hügels ziehen, auf meinen Schultern gut sichtbar. Sie hatte ein Projekt im Leben. Sie wollte alles aufheben. Das war ihre Art mit dem, wie es war und nicht sein durfte, umzugehen. Sie sammelte sozusagen Munition für eine kommende Abrechnung why not try this out. Wofür sie Beweise brauchen würde, und alles bereit halten wollte. Als sie starb, hatte sie ihr Haus von aussen wie von innen zugebaut. Ihr blieb in ihren letzten Lebensjahren nur noch ein schmaler Gang, der es ihr erlaubte, ins Haus, in die Küche, zum Bad und in ihrem Schlafzimmer bis zum Bett zu gelangen. Sämtliche anderen Zimmer waren nicht mehr zu betreten. In einem Schrank im hintersten Zimmer des Hauses fand ich dann beim Räumen des Hauses sämtliche Bastelarbeiten, die ich vor mehr als dreissig Jahren im Kindergarten hergestellt hatte. Da waren Schwäne und Taschen aus Tapetenpapier, aufgeschnittene Rechtecke, durch die ich bunte Papierstreifen gewoben hatte, Strohsterne und eine Laterne.
Mit den Bastelarbeiten waren sofort die Bewegungen wieder da, mit denen ich diese Dinge gefaltet, gewoben, gestichelt und geklebt hatte. Wie alte Verwandte kamen mir meine Handgriffe von damals vor, Tanten und Onkel, die ich nie gesehen hatte und doch wusste ich genau, dass sie Tante Hanna, Tante Elisabeth, Onkel Franz und Onkel Paul waren.
Sie waren zusammen mit dem Tag des Heiligen Martins da, wenn die Kinder dem Pferd hinterher ziehen, auf dem jener bärtige Heilige durch die Zeit hierher geritten ist. Aus ihrer Sicht befindet sich der Heilige weit oben, ob nun die Legende es will oder nicht. Aber die Kinder haben ihre Laternen. Die haben sie in wochenlanger Arbeit selbst gemacht, und tragen sie nun von Kerzen erleuchtet vor sich her.
Mit Kind und Laterne habe ich eine Geneigtheit im Sinn, um nicht zu sagen, eine Einheit und Innigkeit, zu der unterwegs zu sein nie begonnen hat; sie war schon vorher da. Beispielsweise als ein Wissen, das da wächst, wo die Bäume im Wind rauschen, wo Wasser fliesst, und der Hahnenfuss blüht. Dahin wollte das Kind. Schon als es auf dem niedrigen Stuhl im Kindergarten sass, am Tisch mit den abgesägten Beinen, vor sich auf einem flachen Kissen der dünne Pappkarton, der dann eines Tages die Wände der Laterne abgeben würde. Der Pappkarton war in vier Rechtecke unterteilt, in die die Konturen von Baum, Hahnenfuss, Stern und Ahornblatt gezeichnet waren. Während das Kind mit einer Stecknadel Stich für Stich die Bleistiftlinien nachstichelt, tagelang, bis sich der Baum herauslösen lässt, der Hahnenfuss, der Stern, das Ahornblatt. Wenn das Kind sie alle ausgestochen hat, wird von innen Transparentpapier dagegen geklebt, durch die das Kerzenlicht in den verschiedenen Farben scheinen kann. Schliesslich braucht die Laterne nur noch einen Bügel und ein Kind, das sie voraus trägt.
Die Laterne wirft Licht in die Dunkelheit des Paars, als das wir umherziehen, auf der Suche nach uns und in einer Sprache gegeben, wie das Licht, das manchmal die Ansicht der Landschaft ein wenig anders erscheinen lässt, so, wie es einmal war, so, wie es vielleicht ist, nur ein bisschen anders. Schon kommen Bäume und Sterne und kleine Blumen, sie sind durchsichtig und leuchten und während ein Kind singt: Ich gehe mit meiner Laterne und meine Laterne mit mir, erheben sie ihre Stimmen, die Stimmen der Bäume, Sterne und Blätter. Sie mischen sich ein in das Lied, das als Paar, als Wechselseitigkeit unterwegs ist.
So ziehen wir riesengross über den Bergrücken. Woher sollen wir wissen, wohin. Unser Licht ist die Sprache, und Mutter ist ein Name wie Tochter ein Name ist. Das Paar aus ihnen ist nicht allein. Sie leisten sich in ihrer Verlorenheit Gesellschaft. Die Landschaft gibt Laut. Ist Einsamkeit vielleicht der Name für das Paar aus Mutter und Tochter? Und wie jeder Name ein Teil von ihnen und so einsam wie sie?

Du 745 Paare, 3/2004