Vom Ende der Welt her, von der Kindheit aus. / Schritte ins Offene, Kindheit heft 6/2004

Friederike Kretzen

Nah und fassbar war mir als Kind die Vorstellung vom Ende der Welt. Was ich allerdings nicht mehr weiss, ist, wann und wie diese Vorstellung zu mir kam. Eines Tages war sie da und ist seitdem als Bretterzaun in einer wüsten, leeren Landschaft stehen geblieben. Nur eine Palme wuchs da noch, an deren Stamm ein Pappschild genagelt war, auf dem stand: Ende der Welt.
Dieser Zaun, sozusagen mein eigenes Ende der Welt, war ein Ort, an den ich mich oft wendete. Denn da gab es ein Innehalten, eine Ende auch dessen, was mir schwer, was mir unverständlich war. Mitten in einer Landschaft, noch immer auf der Welt, gab es einen Ort für mich, an dem aufhörte, was ich als Gewicht der Welt nicht zu tragen wusste. Was alles war, was ich nicht verstand, und doch spürte ich seine Anwesenheit, wie jedes Kind sein Gewicht der Welt zu spüren bekommt.
Zugleich wurde an diesem Weltende ein Anfang vorstellbar, öffnete sich zwischen vorher und nachher, zwischen da, danach und dahinter ein Spielraum. Und ist nicht dieser Spiel- oder Zwischenraum, was Kindheit in einem weniger entwicklungsphysiologischen als essentiellen Sinne bedeutet? Ist nicht, was wir Kindheit nennen, als Prozess ständiger Ãœbertragung zwischen noch nicht und bereits wieder nicht mehr zu verstehen?
Denken wir doch nur mal an die einfachsten Spiele, die wir in der Kindheit gespielt haben. Lebten sie nicht vornehmlich von einem ständigen Wechsel, dem unablässigem Bewegen und Verflüssigen fester Positionen?
Ich erinnere mich an ein Spiel, das keinen Namen hatte, vielleicht hiess es Sachen rein und raus werfen, jedenfalls bestand es darin. Es brauchte nicht mehr als zwei Kinder. Eines musste sich draussen vor dem Fenster positionieren, das andere drinnen im Zimmer. Nun begann das Kind im Zimmer Sachen, die es zufällig in seiner Reichweite hatte und zu fassen bekam, am Fenster hinaus auf die andere Seite zu werfen. Von dort kamen die Sachen dann in versetztem Rhythmus wieder zurückgeflogen. Das Spiel war streng verboten, wir spielten es ungeheuer gern. Einmal endete es mit einer schweren Eisenglocke, die ein Kind am Kopf traf. Wäre ihm die Glocke nicht auf den Kopf gefallen, hätten wir noch lange nicht bemerkt, dass sich unter den Gegenständen, die wir hin und her warfen, als wären sie Wörter und das Spiel ein Wortwechsel, auch eine Eisenglocke befand. Denn das Vergnügen, das das Spiel ausmachte, bestand genau darin, gegenüber den Gesetzen der Schwerkraft, zu denen auch die des gewohnten Gebrauchs zählten, gleichgültig zu werden, sie ausser Kraft zu setzen. Wir nahmen die Dinge des täglichen Gebrauchs in eine Bewegung mit auf, ein Werfen und Wechseln der Seiten, bis sie mit uns zu fliegen begannen; ein Schwarm aus Dingen und Kindern, die durchs Fenster summten.
Der Bretterzaun war als Ort des Aufschubs gleichsam ein Ort der Umkehr und Reflektion. In seiner Konstruktion vom Ende der Welt steckt jene Bewegung des Neinsagens, die Kindheit konstituiert. Denn sagt nicht jedes Kind in seinem Erscheinen auf der Welt, sozusagen in seinem ersten Wort, das noch kein Wort ist, nur ein Schrei, der den Eintritt in eine Geschichte, eine Kultur mit ihren verschiedenen Sprachen bedeutet, nein? Sein Nein ist ein Ja zum eigenen, zum anderen, zum Werden eines neuen Lebens.
Eine Legende aus dem Umfeld der Kabbala berichtet, dass das Kind, bis zum Moment seiner Geburt alles Wissen der Welt besitzt. Aber wenn es aus dem Mutterleib kommt, geht der Engel des Lebens vorbei und gibt ihm einen Schlag auf den Mund. Das Kind schreit, es äussert sich, und vergisst alles, was es weiss. Einzig das Grübchen zwischen Mund und Nase bleibt ihm als Zeichen des Wissens und des Unwissens zugleich.
Die Legende deutet den Anfang als verlorenen. Das Erscheinen auf der Welt löscht den Anfang, den jedes Ungeborene in sich trägt und verliert, wenn es geboren wird. So gesehen steht zu Beginn das Ende und bezeichnet ein Ende der Welt als Ende allen Wissens der Welt, dem wir ein Leben lang in doppelter Weise bezogen bleiben. Unser Lebensraum wird von einem abhandengekommenen, unzugänglichen Raum ergänzt und begleitet. Das Ende der Welt geht also durch uns durch, insofern wir uns ein Leben lang auf der Grenzlinie zwischen einem legendären Vorher, und einem ebenso legendären Nachher bewegen. Heisst es nicht oft in Todesanzeigen, der oder die Verstorbene sei zurückgerufen worden? Möglicherweise kommt solch ein Rückruf von jenem Anfang, der noch nicht begonnen hat. Denn als er begann, war er schon verloren. Wir leben, – und das ist das Thema der Kindheit -  auf zweierlei Bahnen, die allerdings stets aufeinander bezogen bleiben. So dass, was wir tun, wir auch nicht tun, und was wir sind, sind wir auch nicht.
„Die Kultur – welche immer- verdrängt den Sinn für das KIND… wir sind tatsächlich in einer Jahrtausende alten Rationalisierung befangen, die zu einem unausrottbaren Vorurteil geworden ist: das Kind ist ein angehender Erwachsener, seine innere Form, seine Entelechie verlangt danach, sich zu vollenden auf das Ziel hin, in den vorgeschriebenen Stufen einer geglückten physischen und psychischen Reifung zu dem Typus von Lebewesen zu werden, das wir selber sind… Die Erzeuger werden in jedem Fall an den Anfang gesetzt, als absoluter Bezugspunkt und als Norm, während dem die Stellung des Kindes eine zweitrangige, abgeleitete, untergeordnete bleibt.“ Schreibt der ungarisch französische Psychoanalytiker Nicolas Abraham. Er spricht von einer „Absage ans Kind“ als Absage an das, was im Werden aufgeht, als das, was wird, was dieses Werden ist. Wachsen und werden ist nichts, was sich gibt, oder verliert, wird nicht geboren und stirbt nicht, es wächst und wird. Ist das nicht das Unbegreifbare und Stetige, was Kindheit ist?
Jedenfalls ist da das Wachsen der Kinder, und wachen sie nicht auch? Wachen sie über die Bestände des Wissens der Welt, wachen sie werdend, wachsend? Auch über das, was wir so schnell Kindheit nennen. Schnell sind wir uns sicher, wir hätten sie gehabt, sie läge hinter uns, und wenn wir nur wollten, könnten wir hingehen und uns erinnern. Gleich würden wir wissen, was einmal wir waren, was wir, als wir so waren wie Kinder, erlebten, fühlten und dachten. So gesehen ist Kindheit fest im Griff, nichts bewegt sich mehr an ihr und zu keiner Seite.
Stellen wir uns nun vor, dass während wir uns so in die Zeit und Geschichte positionieren, uns etwas anschaut. Nennen wir dieses Etwas ruhig auch Kindheit. Während wir die Kindheit fest in den Griff nehmen, schaut sie uns an, schaut uns zu als etwas, das wir so wenig kennen wie wir unsere Kindheit kennen können. Kindheit ist ein Gelenk, das sich zwischen Himmel und Erde bewegt, zwischen Wachen und Wachsen, Vorher und Nachher. Und sie ist in ständiger Ãœbertragung begriffen: eben so wie ein Gelenk, beispielsweise das des Knies. Als ein solches Gelenk, das selber nichts als eine Lücke ist, überträgt es Kraft und Wissen von einem Teil auf einen anderen, bewegt sich Kindheit im Raum der Sprache und ähnlich wie sie.
Ist also Kindheit ein Teil von uns, sind wir ein Teil unserer Kindheit, insofern sie als Lücke eben den Raum schafft, in dem Kindheit noch vor uns liegt, nicht hinter uns? Was hinter uns liegt, das ist unsere um Selbstvergewisserung bemühte Festschreibung von Geschichte, als könnten wir sie in eine Reihenfolge von Ereignissen bringen, die sich zu einer letztgültigen Form unseres Lebens abschliessen liesse.
Das englische Erinnern – Remember – ist ein Versammeln, Wiederzusammensammeln der Mitglieder, der Teile, die dazugehören. Zugehörige Teile, das sind auch solche, die zuhören. Uns, unseren Stimmen, den Stimmen der Vögel, den Autos, den Toten, dem Wind. Zugehörige Teile unterhalten zuhörend eine Wahrnehmung, die weniger eine der Selbstvergewisserung, als eine der Zuneigung zum anderen ist. Denn wissen wir, können wir wissen, was zu uns gehört, wenn wir stets um Selbstvergewisserung bemüht sind? Müssen wir uns nicht gehen lassen können, gar verlieren, um woanders hin zu kommen, einem verlorenen Anfang entgegen? Erinnern wir uns im Sinne des Versammelns der Teile, und sind wir ein Teil unserer Kindheit, nicht sie einer von uns, so kommen wir, wenn wir uns erinnern, zu einer Versammlung von Mitgliedern. Wir finden uns plötzlich in Gesellschaft. Wir kennen uns kaum, nur flüchtig scheint uns, wie haben wir hier zusammenfinden können, wer hat uns gerufen? Die Kindheit? Da sind unsere Vorfahren und sie gehen uns voraus. Und wir, als ihre Nachfahren, kommen nachher, und nach uns unsere Nachfahren, die Kinder, die nachher kommen, und wo ist dabei die Kindheit, die wir als ihre Vorfahren ihnen voraushaben und nachher kommen unsere Kinder, die dann vielleicht schon keine Kinder mehr sind, aber uns nachfolgen? Kindheit ergibt sich nicht innerhalb der Generationenfolgen, sondern geht durch sie durch, indem sie sie überträgt und wiederholt.
Und sehen wir recht, ist da der Zaun mit dem Baum daneben, an dem hängt das  Schild vom Ende der Welt? Wurde vom Ende der Welt, jenem Bretterzaun her eine Versammlung einberufen, uns zu erinnern?
Denn, so schreibt Kleist in seinem Aufsatz über das Marionettentheater „.. das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.“

Schritte ins Offene, Kindheit heft 6/2004