Im grossen Schlafsaal der Geschichte: Buchkritik von Christine Richard, BAZ

5.3.07: Die Basler Autorin Friederike Kretzen und ihr wahnwitziges „Weisses Album“

Wer den Orientierungsverlust schätzt, um eine neue Richtung einschlagen zu können, ist hier genau richtig. Friederike Kretzens „Weisses Album“ ist ein Hit für Abenteurer-Naturen unter den Lesern.

Die Sonne scheint. Die Welt scheint schön. Die Autorin strahlt. Ihr neuer Roman indes ist der helle Wahn. Ein Zombie-Thriller der seltsamen Art – geistvoll, voller Geister. Drei junge Frauen sprechen. Sprechen im Wechsel von ihrem Leben. Von der Mutter, hundert Jahre tot. Von Bäumen und Bauernhöfen, verschlungen von den Chemie-Werken, bis auch die Industrie-Landschaft verödete. Sie reden und reden. Vom Nachbarskind – ein Gerippe im Bettchen. Die verflossenen Freunde – Trotzkisten, Maoisten. Reisen nach Griechenland, Marokko, Paris, Indien – Totentänze. Die Roxy-Bar nebenan, Zirkustiere, zwei Weltkriege, ein paar Märchen, die Studentenrevolte, die Bombe im Auto, keine Lust zur Aktion, das Theater im Kopf. Spielen, schlafen, spielen, alpträumen, schlafen. So zwitschern sie dahin, Elschen, Gitti und Hannah. Wie Vögelchen, die in verfallenen Theatern nisten. Oder in offenen Grabkammern flattern. Oder vom Rauch in den Lüften getrieben werden. Geisterhaft. Wer sind sie? Drei junge Frauen. Das ist sicher, nur das. Damit beginnt der Roman: Drei Frauen erinnern sich, wie sie als Siebzehnjährige im Schultheater die „Drei Schwestern“ von Tschechow spielten. Nach Moskau, nach Moskau! Nur weg aus der Provinz, Aufbruch, Reisen, Revolte! Doch als die drei Mädchen in die Morgenröte hinein gingen, kam schon die Nacht. Wer sind sie? Drei kecke Mädchen, drei Spielerinnen, drei Gespenster. Drei Wiedergängerinnen, drei Zombies: „Angst haben wir keine. Wir sind die Angst.“ Am Schluss des Buches kehren die drei Freundinnen aus Moskau zurück:“Back from Moscow, in the USSR.“ Aber sind die drei je in der Sowjetunion gewesen? Haben sie sich überhaupt vom Fleck bewegt? Ihr Credo: „Wir gehen nicht fort, noch bleiben wir.“ „Back in the USSR“ heisst ein Beatles-Song im „Weissen Album“; daher der Titel von Kretzens Roman. Der Song beschwört die Schönheit der russischen Frauen und die Freude, in einen kommunistischen Staat zurückkehren zu dürfen. „Back from Moscow, in the USSR“: So heisst ein Text von Jacques Derrida über Moskaureisende, Revolutionssucher, Gralssucher und das Scheitern der Heilsversprechen. Zwischen den Beatles und Derrida, zwischen Pop und Politik, zwischen privatem Aufbruch und Scheitern revolutionärer Hoffnungen bewegt sich auch Kretzens Roman – oder präziser: In diesem Dazwischen steht er still. Wie in Trance. Wie in einem Alptraum, aus dem niemand davonrennen kann. Wie im Theater, wie in der Provinz von Tschechows „Drei Schwestern“. Frauen wie diese haben keinen Ort; mit dem Kopf in den Wolken, in den Wunschträumen; mit den Beinen daheim gebunden. Solche Frauen sind gefährlich, verunsichern Männer, wissen scheinbar nicht, was sie wollen: „Wir gehen nicht fort, noch bleiben wir“, sagen die drei Mädchen. Diese Verunsicherung beschreibt Friedrike Kretzen nicht in sicher gesetzten Sätzen, sondern sie macht Verunsicherung – vielmehr – zum eigenen Stilprinzip. Mit der Wiederkehr aus Moskau endet ihr Roman – aber er beginnt damit auch: „Wir sind wieder da. Wir sind wieder da. Kein letztes Spiel, kein Spiel der Erinnerung, kein Ende, kein Anfang. Es ist alles, wie es war, nur ein bisschen anders.“Es ist alles wie im Leben – nur dass Elschen, Gitti und Hannah ein bisschen tot sind. Sie vagabundieren durch ein Zwischenreich, halb Vergangenheit, halb Zukunftssehnsucht, ein Warteraum, eine Aufwachstation für Scheintote. Oder sind nicht recht eigentlich wir – die Lesenden, die Lebenden – die Narkotisierten? Hast du heute schon gelebt? Ist es nicht vielmehr so, wie Elschen sagt: „Dass ich mich träume und empfinde, ich lebte nicht?“ Die Autorin Friederike Kretzen ist eine überaus lebendige Frau. An diesem Vorfrühlingstag in Basel stellt sie gleich mal die Stühle vors Café in die Sonne. Sie lacht gerne. Denkt flink. Formuliert behend. Wenn sie träumt, dann mit wachen Augen. Und doch hat sie dieses Grundgefühl: „Die Gegenwart ist wie betäubt. Man geht über etwas, aber man weiss nicht, über was. Der historische Boden ist völlig ungesichert.“ Wie kommts? Da ist Kretzens Geburtsstadt, Leverkusen bei Köln, bekannt durch die Bayer-Werke. Es ist die Heimat auch von Elschen, Gitti und Hannah. Für Kretzen eine Geisterstadt: „Heute haben die Leute, die dort wohnen, meistens keine Arbeit mehr. Was macht man jetzt mit dieser Stadt?“ Gespenstisch. Da ist Kretzens Geburtsdatum, 1956: „Einmal habe ich mich versprochen und gesagt, ich bin elf Jahre nach dem Krieg gestorben anstatt geboren.“ Eine Fehlleistung. Und Auslöser für dieses Buch, angesiedelt im Zwischenreich, wo Tote und Lebendige in eins fallen. Da sind Studium, lange Auslandsreisen, die siebziger Jahre – und die Rote Armee Fraktion: „Diese Geschichte ist wie ein Betonklotz. Man findet keinen Zugang. Es wurde kein bisschen angerührt, was den Terroristen eigentlich geschehen ist, die Verkennung von innerer und äusserer Gewalt. Da ist etwas durch die Menschen hindurchgegangen, das ist noch gar nicht verarbeitet.“ Und so geistern sie weiter und knistern im „Weissen Album“ von Kretzen: die kommunistischen Splittergruppen, im Schlepptau die Mädchen, die Toten der Weltkriege, die sterbenden Industriegebiete, die Kindheitserlebnisse, Gespenster, Gespenster. Das ist die deutsche Geschichte, irr und wirr. Friederike Kretzen zitiert, was Alexander Kluge in seinem Film „Die Patriotin“ über eine Geschichtslehrerin sagt: „Meistens ist sie verwirrt. das ist eine Frage der Zusammenhänge.“ Die Zusammenhänge zwischen Wirtschaft, Politik und Privatem, sie sind nicht so, dass man sie auf den ersten Blick durchschauen könnte. Sie durchdringen die Wahrnehmungssysteme. Hier hilft nur eine dialektische Denkbewegung weiter. Kretzen meint: „Je verwirrter man ist, desto mehr Zusammenhänge kann man wahrnehmen. Wir leben in einer komplexen Welt; die verlangt, dass wir sie auch wahrnehmen, und dazu muss man eben noch verwirrter werden, das gibt Bewegungsfreiheit.“ Die Aufgabe beim Schreiben ist es, die Verwirrung zu nutzen und die Verschwommenheit präzise zu gestalten. Gleichzeitig durchlässig zu bleiben wie Kretzens drei Frauen. Sie funktionieren wie ein Filter, durch den Geschichte strömt; völlig unterschiedliche Teilchen bleiben haften, lagern sich an die drei Figuren an, wachsen sich scheinbar von selbst aus.Die Absichtslosigkeit ist Methode. Nur so entkommt man den Vorgaben, den vorgefassten Meinungen und vorgegebenen Schreibweisen. Auch die drei Mädchen wissen:“Wenn wir das Leben finden wollen, müssen wir es erst einmal verloren haben.“ Was geht verloren? Dieser Roman hat keine keine chronologische Handlung, keinen Spannungsbogen. Man kann ihn nicht hintereinander „weglesen“ wie andere Romane, sondern man muss sich in ihm und mit ihm bewegen, hin und her. Das ist nicht einfach. Seite für Seite lesen, von Schwelle zu Schwelle gehen, lesen, nachdenken, spekulieren – und manchmal tut sich ein Fenster im Text auf. Dann leuchten poetische Bilder voller Ãœberraschungen: „Was steht da herum und ist eine Stadt? Ein Herbst hängt vom Himmel, der ist ein Mobile aus gelben Blättern, flachen letzten Sonnenstrahlen zwischen den Kaminen, aus Äpfeln, kleinen Stücken von durchsichtigem Stoff, Bögen rauchblauen Transparentpapiers.“ Zwischendrin gibt es viele witzige Beobachtungen: „Der Parkplatzwächter trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift: .“ Immer wieder blenden sich Märchen ein. Rumpelstilzchen. Heiligenbilder. Todmüde Arbeiter, sie träumen sich im Schlaf einen uralten Baum herbei – oder ist es umgekehrt: „Er ist ihnen gefolgt und legt sich zu ihnen in eines der Betten im grossen Schlafsaal der Geschichte.“Andere Autoren nehmen einen Standpunkt ein und ent-werfen von dort eine Geschichte. Bei Kretzen geht die Phantasiebewegung hin und her. Da ereilt die Geschichte die drei Mädchen, die auszogen, sie zu suchen: „Wir wollten das Fürchten lernen und erschauern vor den Katastrophen, die zuvor stattgefunden haben.“ Und häufig zieht eine Traurigkeit schmerzlich durch die drei Frauen zum Leser hin: „Ich bin, du bist, wir sind schon nicht mehr da…“ „Irre“ hätte man so einen Roman genannt in den siebziger Jahren, damals, als Friederike Kretzen jung war. „Cool“ würde man heute sagen. Auf alle Fälle gilt: Dieses Buch ist ein Ereignis. Das ist wörtlich zu nehmen. Das Buch erzählt keine Geschehnisse nach; Ereignis ist das Buch. Das Sprechen selber schafft Realität. Elschen, Gitti und Hannah. Das Ungeheuerliche ist der Zustand, in den der Lesende hineingerät durch die Macht der Sprache: Lesen wird hier ein Schweben, ein dahintreibendes Denken, ein Träumen, Taumeln, Sinken, Steigen, Vergessen, Erinnern… Friederike Kretzen sagt: „Die drei Frauen versuchen, zwischen Leben und Tod die Zeit anzuhalten und Erfahrungen zu verräumlichen.“ Das Kunstwerk erweitert den Raum, in dem wir gegenwärtig sind. Wir können eintreten. Mit konventioneller Lektüre hat dieses Eintreten in den Text nichts mehr zu tun. Das alles klingt schwierig, ist aber in anderen Künsten längst Tradition und ein Genuss.Bei Gemälden kennt wir den Effekt. Je länger wir ein Bild anschauen, desto mehr dehnt es sich, desto tiefer können wir hineingehen. Zumal die Musik kennt die zu einem Raum gestaltete Zeit. György Ligeti etwa schuf völlig eigene Klangräume: In „Continuum“, seinem Solostück für Cembalo, werden die Tasten so schnell angeschlagen, dass sich für das Ohr ein wellenartig sirrender Tonraum ergibt. „Continuum“ entstand 1968. Friederike Kretzens „Weisses Album“ erreicht diesen spannungsreichen Schwebestillstand jetzt vierzig Jahre später. Es geht keineswegs um ein selbstgenügsames ästhetisches Experiment; es geht um Rückgewinnung eigener Spiel-Räume. Um Räume, in denen der Mensch sich als Subjekt der Geschichte(n) behaupten kann – wenngleich zunächst nur auf den Gebieten des Schreibens und des Lesens. Friederike Kretzen nimmt ihre Leser ernst.Nur wer Ligeti aushält, hält sich auch gerne in Kretzens Roman auf. Wer nur die Beatles mag, ist verloren in Kretzens „Weissem Album“. Wer Alexander Kluge gelesen hat, wird es leichter haben. Wer den Orientierungsverlust schätzt, um eine neue Richtung einschlagen zu können, ist hier genau richtig. Kretzens „Weisses Album“ ist ein Hit für neugierige Abenteurer-Naturen. Alle anderen dürfen einem Buch begegnen, das ist, wie kein zweites.