Einführung von Samuel Moser zur Lesung aus „Weisses Album“

Literaturhaus Basel, 13. März 2007

Ich möchte hier nicht etwas sagen zur Jugend Friederike Kretzens und zu den 60er/70er Jahren. Auch nicht zu Leverkusen, Bayer-Leverkusen. Darüber redet das Buch. Wie übrigens andere Bücher von Friederike Kretzen auch schon. Weder Eltern, noch Grosseltern, noch Geschwister, noch Tanten, Onkel, Cousinen, weder Orte und Zeiten noch Handlungen sind neu. Und auch viele Motive nicht. Was aber dann? Das Buch, seine Sprache.

Ich möchte etwas sagen zum Buch, zum „wie“ es darüber redet. Das, was ich für sein eigentliches Interesse halte. Ich nenne es: die Anatomie der Erinnerung. In einem Album können wir blättern, mal hier, mal da, und uns und andere wiedererkennen oder kaum noch wiedererkennen, und uns Fragen stellen zum Lauf der Zeiten und wieviele Leben man in einem Leben führen kann. Fragen, die unsere Identität betreffen und uns unsere Sterblichkeit bewusst werden lassen. Und nur deshalb sind wir sterblich, weil wir uns dessen bewusst sind. Die Erinnerung des Lebens ist von seinem Verschwinden nicht zu trennen.

Natürlich denken wir von der Friederike-Kretzen-Generation beim „Weissen Album“ auch an ein Doppelalbum der Beatles von 1968, das einfach hiess „The Beatles“ und Songs enthielt wie „O-bla-di-o-bla-da“, „Revolution“ oder „Back from the USSR“, von denen man dann reden wollte und dazu brauchte man einen Ort, wo man sie hintun konnte, in dieses Album eben, das man so das „weisse“ nannte. Im Grunde aber hiess es gar nicht.

Immerhin gab es in der Zwischenzeit noch ein anderes „Weisses Album“ von den „Böhsen Onkelz“, die aber weniger meine sind als die vier legendären Liverpooler.

Und nun gibt’s also das „Weisse Album“ der drei Freundinnen aus Leverkusen, nimmt man die Autorin dazu, kommen wir auch auf vier, und auch Leverkusen hat ja mit Liverpool einiges gemein, z.B. das grosse L. Legendär sind Hannah, Elschen und Gitti für Kretzen-Leser jedenfalls auch. Die Beatles spielen natürlich in ihrem Leben eine Rolle (wie buchstäblich alles) in oder back from the USSR, denn als Kinder und Studentinnen spielten sie Theater (die „Drei Schwestern“, wie könnte es anders ein) und sie wollten dann nach Moskau auswandern, lasen Trotzki und Lenin usw. Schliesslich war es die Zeit der „Revolution“. Die Zeit des grossen Aufwachens, wenn es denn eines war.

Damit kommen wir der Sache näher, die da heisst „Weisses Album“, und eben nicht „Das weisse Album“. Denn es handelt nicht von einem „weissen Album“, es ist ein „weisses Album“. Also ein Buch ohne Titel. Aber doch ein Roman. Ein Roman ohne Inhalt. Jedenfalls ohne Romaninhalt, der da erzählt würde wie am Schnürchen von einer guten, alten Erzählerin. Wenn Inhalt, dann so wie im Beatles-Album: eine Collection eben von Songs verschiedenster Stilrichtungen, Rhythmen und Klangfarben. Die sprachliche und formale Vielfalt in Friederike Kretzens Roman ist tatsächlich enorm.

Anders aber als beim „Weissen Album“ der Beatles ist der Titel von Friederike Kretzen bewusst gesetzt. Er enthält sozusagen die Ladung geballt der folgenden 200 Seiten. Er befindet sich in einem explosiven Widerspruch, der auf eine komplizierte und für das Schreiben gefährliche, nämlich es gefährdende Weise aber ein kreativer Widerspruch ist. Und um das Schreiben geht es letztlich in diesem Buch: was bedeutet es, weisse Seiten zu füllen mit schwarzen Buchstaben? Noch auf den letzten Seiten treibt das Buch sich an: „Schreib, schreib weiter“ – als ob Schreiben allein Leben wäre.

Gleichzeitig behauptet der Titel, dass wir ein „weisses“ Album in den Händen halten. Also ein leeres. Ein vollgeschriebenes leeres Album, das gerade deshalb leer ist, weil es voll ist. Das sich leert beim Füllen. Wie Bilder in unterirdischen Kavernen, die nur existieren, solange sie ungesehen bleiben. Wenn wir die Kavernen öffnen, um sie zu sehen, verblassen ihre Farben durch den Kontakt mit dem Sauerstoff. Ein Album ist immer weiss, sonst würde es nicht „album“ heissen. Es versinkt mit seinem Namen. Wie Rumplestilz, der Schutzpatron von Friederike Kretzen.

Weiss ist die Farbe des Todes, auf jeder Seite des „Weissen Albums“ stolpert man über seine Spuren. Besser gesagt: Weiss ist die Farbe der entleibten Seelen, die wir im Schattenreich begegnen. Und eine solche Unterweltsfahrt ist Friederike Kretzens Buch: eine Begegnung mit sich selber, die nur um den Preis dieses „selbst“ zu haben ist. Eine Fahrt in einem terrain vague, ein Fiebertraum, eine Dämmerung, die sich nicht entscheidet. Alles ist möglich; wirklich ist allein die Möglichkeit.

Wenn man es etwas weniger finster haben will: ein Besuch hinter Dornröschens Rosenhecken, im Reich des Träume und des Schlafs (des Bruder des Todes immerhin), der diesmal nicht nur die ominösen „Schlafmänner“ in der Pension von Hannahs Grossmutter ergriffen hat, sondern alle. Und auch alle ergreift, die ins verwunschene Land der eigenen Vergangenheit zurückkehren. Hannah, Elschen und Gitti treten ein ins Reich des Morpheus, des Gottes des Morphiums und der Morphologie, des Gottes der Euphorie und der traurigen „Gestalten“, der Namen auf der Suche nach ihrer Bedeutung.

Wachen und Schlaf sind eines im Reich der „traumlosen Träumer“, wie sie Friederike Kretzen nennt, die vielleicht dieselben sind wie Ilse Aichingers „unmüde Schläfer“. Und wenn man aus einem traumlosen Traum erwacht, wo ist man dann? Hannahs Grossmutter stirbt im Bombenhagel und dann weiss sie nicht, auf welcher Seite sie sich befindet, „auf der des Lebens oder auf der anderen“. An ihrer Seite liegt ein Hase, „er soll aufstehen, er ist nicht tot, es kommt ihm nur so vor“, sagt Hannah, das Grosskind, das grosse Kind. Friederike Kretzens Buch ist auch ein sehr erwachsenes Stück Kinderliteratur.

Ein Symbol geht mir bei seiner Lektüre nicht aus dem Kopf: das Band, das rund um die Erde läuft und zu seinem Anfang zurückkehrt, indem es sich verdreht aber diesen Anfang nie und nimmer mehr erreicht. Ich meine die Möbiusschlaufe.

Man kann Friederike Kretzens „Weisses Album“ auch mit einem Kaleidoskop vergleichen. Ein schönes Gerät natürlich, damit kann man spielen und diese Seite des Spielens gibt es natürlich in diesem Buch. Alles setzt sich immer wieder neu und auf wunderbare Weise zusammen. Aber das Bild ist mir zu harmlos. Friederike Kretzen ist keine „Lucy in the sky with kleidoskop-eyes“. Keine „Schönbildseherin“. Wenn wir schon beim Bild des Kaleidoskops bleiben wollen, dann so: die, die da dreht, wird mitgedreht!

Wo, wie in diesem Roman, alles und also nichts mehr Spiel ist und die Wirklichkeit auf die Bühne gebracht wird, scheint mir der Begriff der Zerstreuung angemessener. Das beginnt schon mit dem ersten Satz, der zwar Anfang und Sammlung verspricht, bei genauerem Hinsehen aber nur Löcher aufreisst. „Wir sind wieder da“ tönts im Kasperlesound. Aber wer ist „wir“, wo waren „wir“ in „unserer“ langen oder kurzen Abwesenheit? Und wo ist „da“? Da, wo wir sind? Nur unverbesserliche Positivdenker werden in Hannah, Elschen und Gitti drei Musketiere oder irgendeine andere unschlagbare Trinität sehen, die uns beschützt. Nein, sie sind drei, weil sich ihre Geschichten gerade nicht zusammenfügen.

In einem Film von Joseph Losey, „The Go between“, 1971 (nur drei Jahre nach dem „Weissen Album“ der Beatles) erschienen, fällt ein Satz, den wir damals immer wieder zitiert haben – wie eine Phrase, warum nicht wie aus einem Lied der Beatles: „The past is a foreign country, they do things differently there“. Zurückkehren in die Vergangenheit kann einer oder eine nicht, ohne aufzubrechen. Man geht nicht in ein fremdes Land, ohne das eigene zu verlassen. Wer sich in die Vergangenheit begibt, findet sich nicht oder findet nicht sich. Er findet einen Fremden. Um diesen Aufbruch geht es jetzt bei Friederike Kretzen. Um diesen Traum: den Traum, der das Träumen nicht verrät. Und ich bin geneigt, ihn (mit ihr) für den wesentlicheren zu halten als die Aufbrüche nach Moskau, Samara, Kreta, Granada, Paris, Chandighar oder wie die Orte alle heissen, die in Hannah, Elschen und Gittis Jugend eine Rolle gespielt haben.

Horaz schrieb einmal: Was du suchst ist hier, hier in Ulubrae. „quod petis, hic est / est Ulubris“. „Wenn dir das seelische Gleichgewicht nicht fehlt“, fügte er noch an. Aber nichts anderes üben ja Friederike Kretzens „traumlose Träumerinnen“ ein! Und wo ist Ulubrae? Na bitte! Das „L“! Und so bin ich nun doch noch bei Leverkusen, Bayer-Leverkusen, gelandet.