Blick in Zeitschriften /Literarischer Reigen / Neue Zürcher Zeitung, 21.12.2000, S. 60

Das Spiel ist so einfach wie reizvoll: Man nehme einen literarischen Text und lasse die Spuren, die er legt, von Autorinnen und Autoren lesen. Oder deuten. Oder beschreiben. Denn eigentlich ist Schreiben ja immer ein Versuch, sich mit der eigenen Erfahrung, zu der das gelesene Fremde selbstredend gehört, auf einem imaginären Weg fortzubewegen. Vielleicht seien Texte „Koffer oder ganze Gepäckwagen“, meint Friederike Kretzen, und Schreiben wäre dann ein „einziges Kofferpacken, Umziehen auch“.
Im neusten Heft der Literaturzeitschrift „drehpunkt“ wird dieses fortwährende Um- und Wegziehen in einer kleinen Momentaufnahme festgehalten. „So war es. So war es nicht“, heisst der Text von Erica Pedretti, den Friederike Kretzen ins Zentrum ihrer Spielanordnung stellt. Elf Autorinnen und Autoren hatte sie aufgefordert, weiter- und überschreibend mit ihm zu Werke zu gehen. Text um Text werden demnach Pedrettis literarische Realien in den eigenen Denkräumen neu angeordnet.
Ganz unterschiedlich ist dabei das Herangehen, variierend zwischen flüchtiger, fluchtartiger Distanz und intimer Nähe. Eleonore Frey und Theres Roth-Hunkeler beispielsweise suchen die Nähe, lesen den Ausgangstext wie eine alte Photographie, ordnen, ja erinnern das Ungesehene. Zsuzsanna Gahse, auch Judith Kuckart oder Sabine Peters hingegen stürzen sich durch Pedrettis Text-Bild hindurch. Auf dessen Rückseite finden sie andere, neue Geschichten, in denen sie sich einrichten. Michael Stauffer, Jürgen Theobaldy und Klaus Merz wiederum träumen darüber hinweg, halten zwar Distanz, aber somit Pedrettis Ursprungstext dennoch lose an der sicheren Leine.
Einzig Urs Widmer, der Letzte im Textreigen um „So war es. So war es nicht“, stellt sich in Denkerpose der inhaltlichen Spiegelung entgegen und liefert stattdessen eine kleine Selbstreflexion übers Schreiben, Erinnern und Tradieren. Am Ringelreihen vorbeigeschlichen sei er, könnte man meinen. Aber indem Widmer das reflexive Moment von Friederike Kretzens Spielanweisung wieder aufnimmt, hat sich unversehens der Kreis geschlossen.
„drehpunkt“. Die Schweizer Literaturzeitschrift, Nr.“108, November 2000. 80″S., Fr. 12.-.
Sibylle Birrer