Räuberische Verschleppung

Vortrag gehalten am 1.9.2019 Walser-Skulptur Biel

Von Räubern und ihren Verschleppungen 

Kleine Vorrede

Vor kurzem habe ich im Rahmen einer Sommerakademie in Schrobenhausen ein Schreibseminar gegeben. Schrobenhausen gibt es wirklich, es ist eine Stadt in Bayern mit geschlossener Ringanlage um den alten Stadtkern. Der grosse Ethnopoet Hubert Fichte (er schrieb den unvollendet gebliebenen Romanzyklus ‚Die Geschichte der Empfindlichkeit’) war gegen Ende des zweiten Weltkriegs dort als Halbjude in einem Waisenhaus untergebracht, über das er ein Buch geschrieben hat, mit dem Titel: Das Waisenhaus.

Friederike Kretzen bei ihrer Lesung in der Walser - Skulptur.

Eine Schreibende in meinem Seminar las uns eine kurze Szene vor, die von ihrer Ausbildung als Trauerbegleiterin handelte. Im Gespräch beklagte sie sich über einen Teilnehmer des Ausbildungskurses, der immer das Gegenteil von dem mache, was man ihm beizubringen versuche, damit er Trauernde entsprechend begleiten könne. Ich dachte sofort, wie gut, dass es diesen Teilnehmer gibt, der immer alles anders macht als es richtig zu machen wäre für die richtige Trauerbegleitung. Und ich sagte der Schreibenden, was für eine tolle Figur sie da habe. Eine, die mit den einfachsten Mitteln all das entsetzliche Zeug, das wir lernen und können sollen, um nichts mehr zu empfinden und denen, die trauern, auch das noch möglichst schnell auszutreiben, vom Tisch wischt. 

„Man muss mit einer gewissen Schwäche, einem Mangel in den Krieg ziehen gegen die grossen Mächte.“ Das sagt der iranische Filmemacher Abbas Kiarostami. Ein Satz, der haargenau auf diese Figur zutrifft, die mit einer gewissen Schwäche die Professionalisierung von Trauer und ihrer Begleitung zurückweist, und das ist eine Form von Gnade. Ich kann nicht anders als zu denken, dass dieser Mann eine Figur von Walser sein könnte. Wenn nicht gar Walser selbst.

1.„In Gefahr und größter Not // Bringt der Mittelweg den Tod.“ Diese Zeilen stammen von dem deutschen Dichter Friedrich von Logau aus der Barockzeit. Alexander Kluge zitiert sie, um davon zu erzählen, was Menschen vermögen, wenn sie spüren können, dass sie gemeint sind. Walser wäre nicht Walser, wenn seine Anwendung dieser Zeilen nicht so aussehen würde, dass er in der allergrössten Not immer den Mittelweg wählt. Ich glaube, das nennt man Todesmut. Radikaler lässt sich jedenfalls die allergrösste Not nicht wenden, als immer auf dem Mittelweg weiter zu gehen, der zum Tod führt. Das ist so radikal, dass sich damit nicht nur jede Mitte auflöst, sondern auch alles, von wo aus eine solche noch bestimmbar wäre. In dieser völligen Ungesichertheit gibt es dann überhaupt keinen Weg, ausser man geht ihn. Radikalität ist keine Angelegenheit des Willens, sondern der Erfahrung. Aus dieser Erfahrung kommt Walser, in ihr ist er immer weiter in der Mitte gegangen.  

2.Irgendetwas hat mich beim Schreiben und Zusammentragen meines Vortrags unablässig hingerissen, über die Ränder zu gehen, abzuirren, weiter zu irren, ja, sozusagen nach Unsinn auszuschauen. All das geschah auf der Suche nach dem Räuber Walser, der, ich vertraue es ihnen hier gleich zu Beginn an, für nichts zu gebrauchen ist. Das allerdings ist, was wir an ihm so dringend brauchen.

Bei dem Maler Braque habe ich einmal gelesen, dass Beweise die Wahrheit schädigen, darum halte ich mich im weiteren lieber an all das, was nicht zu gebrauchen ist.  

3. Schon öffnet sich der Vorhang, wir schwärmen aus, betreten die Bühne. Um uns herum klares Sonnenuntergangslicht, das so bleibt. Wir werden Teil des Geschehens, in dem vor unseren Augen ein Wald, ein See, ein Herz auf die Bühne treten. Das Herz ist so gross wie die Schweiz und viel schwerer. Darum kann es nicht bleiben und wälzt sich gleich weiter zum See, über die Böschung, fällt ins Wasser, und schwimmt. Wenn alles gut geht, wird es die Petersinsel werden, der alte Walfisch in seinem Ozean. Aus dem Off ist ein Liedchen zu hören ‚Junge, komm bald wieder’. Das ist das Zeichen für die anderen Figuren aufzutreten. Sie kommen von hinter den Bäumen, die eine Urweltsprache sprechen -, um die es im Weiteren unablässig gehen wird. Davon aber später mehr, wie Walser sagen würde. 

Nacheinander treten nun auf: Eine Mutter und ihr Kind, ein Dichter, eine Dichterin als Gast, ein paar Schauspieler aus dem Ausland, des weiteren Röbi und die Katze. Die schaut blöd, kann aber lesen. Für sie schreibt Röbi am liebsten. Dazu gesellt sich jede Menge Unsichtbares und Stummes. Alle und alles sind verkleidet und unter ihren Kostümen Räuber. 

Als Räuber sind sie Heimsuchungen. Wurden in früher Zeit selbst heimgesucht und verliessen daraufhin ihr Haus. Das sie seitdem nun suchend immer bei sich tragen. Sie sind die Liebenden des Terrains.

4. Die Metapher von Räuber ist Räuber. Das heisst, Räuber sind keine Räuber, sondern Metaphern. Allerdings sind sie Metaphern, die keine sind. Sie spielen ein doppeltes Spiel, denn sie sind Räuber. Klar, dass sie Sprachräuber sind. Sie rauben die Sprache und sind die von ihr Beraubten. Jeder gute Räuber ist sprachlos, daher sein räuberisches Verhältnis zur Sprache. Die Räuber, mit denen wir hier zu tun haben werden, können etwas, das die wenigsten von uns können, was vielleicht nur die können, die ihre räuberische Kunst so offen und gefährlich wie möglich halten: Sie können Nicht-Können. 

Nur, wer das Nicht-Können kann, weiss, wieviel Können verdeckt, wieviel Ungekonntes, Kleines, Ungeschicktes in ihm zum Schweigen gebracht wird. „Mich entsetzt der Gedanke, ich könnte in der Welt Erfolg haben.“ Sagt der Oberräuber Walser und ich frage mich, ob wir hier als Unräuber das verstehen können. Ob es uns dafür nicht an jenem kindlichen Adel mangelt, der die räuberischen Walserfiguren beseelt. Für sie gehen Können und Nicht-Können auseinander hervor wie Schatten von Träumen, und keiner kann sagen, was vorher da war, der Schatten oder sein Traum.

5. Sollten Sie jetzt erraten haben, wo wir sind, so werden Sie richtig geraten haben,- wir sind in Biel in Roberts Wald, in dem alle Botschaften immer ankommen, sie müssen noch nicht einmal die Richtung wechseln. Weil, ja, weil- so sollte man nie einen Satz anfangen,- sie sind immer zu mehreren, treten aber auf als wären sie einzeln. (Siehe Metaphern)

Jeder Versuch, in Walsers Wald von Walsers Wald zu sprechen, lässt uns schlagartig ins Walser’sche Universum stürzen und wir folgen schon, sprechen nach, was er geschrieben hat, wiederholen, was er uns lesen macht, winden uns in seinen unnachahmlichen Wendungssatztänzen, und haben jedes Gedächtnis verloren, wo der Honig zu holen wäre. Denn für dieses, das Walserwalduniversum, in dem alles, was gesagt wird, alles Ungesagte, Nie Gesagte, alle Stummheit und Nie Gewesenheit mit sich bringt, gilt: Je mehr ich es verstehen will, um so weniger werde ich verstehen, je mehr ich in sein innerstes Geheimnis vordringen will, um so äusserlicher wird mir alles, was ich suche. 

So dass wir, ob wir uns nun mit der Grubenlampe auf dem Kopf im Walsertextstollen mit Schaufeln und Hacken abmühen, oder im freien Fall, völlig angesteckt über eine seiner schroffen Textkanten weit hinausstürzen, wir uns berglos, schatzlos, sinnlos, mitten in Walsers Wald finden, weit entfernt davon, nützliche Menschen zu sein, unbrauchbar, freundlich gestimmt und wir harren der Dinge. „Nothing left to do when you‘ve got to go on waiting for the miracle to come.“ Das singt der alte Leonard Cohen. 

6. Denn jener, der Robert, hatte sich vorgenommen, – wie er in einem frühen Brief an seine Schwester Lisa schreibt: „Man muss alles schön finden.“ Daran hat er sich gehalten. Eine der härtesten Forderungen, denen ein Künstler sich unterwerfen kann. 

Alles, was Walser schreibt, ist schön, tanzt uns voraus, unterbricht mit grösster Heiterkeit, geht seinen Gang durch die Mitte, von Satz zu Satz, bis der einfach irgendwo stehen bleibt und wir rennen wie die amerikanischen Büffel über die Klippe in den Abgrund. Alles schön zu finden, das war sein ästhetisches Mass im Leben, seine Sturheit, seine Lampe. Es war auch das, was ihn sich schön finden liess, das, was die Schönheit seiner Texte schön macht, die Heiterkeit seiner Texte heiter. Denn heiter sind sie nicht, nur angenommen heiter, vorgestellt schön, von solcher Lässigkeit, dass sie uns glauben machen können, sie brauchten gar nicht sein, wären unnötig, also ohne Not. So geschieht in seinen Texten, was geschieht, weil es sowieso geschieht. „Schrieb je ein Schriftsteller so aufs Geratewohl?“

Als Walser dann nicht mehr schrieb, hielt er auch das noch für schön, was seine Art war, weiter zu schreiben, als er es schon lange nicht mehr tat. 

Walser an Lisa Walser 

Brief, Zürich, undatiert (Herbst 1904)

Liebe Lisa.
Deine Briefe haben mich nicht nur sehr gefreut, sie haben mir auch viel zu sinnen gegeben. Ich hätte Dir so vieles zu sagen, Dich so vieles zu fragen. Wenn nur die Tage nicht so kurz wären. Es ist oft schrecklich. Ist Dir das Leben oft unerträglich? Ja? Oft? Was ist da zu machen? Willst Du zu mir kommen? Ich werde mit meinen f 150.– Gehalt für beide Mäuler sorgen. Wir essen, wie in Täuffelen, wenig aber fein. Du kochst und besorgst die kleine Wohnung, Küche 2-3 Zimmerchen. Ich trage Dich auf Händen! Glaubst Du’s? Ich werde den Widman parodiren, damit Du lachen kannst. Es gibt hier überhaupt viel zu lachen. Es ist eine so tolle, leichte Stadt. Man weint hier süß und schön. Du könntest auch etwas Geld verdienen, bei feinen Herrschaften, vielleicht. Oder wollen wir uns beide zu einer Herrschaft begeben, für unser ganzes Leben, [Du] als Hausmädchen, ich als Hund?  Ich wenigstens träume immer von so etwas. Man muß alles schön finden. Man muß nichts fliehen wollen. Dein Schicksal rührt mich sehr. Weißt du, ich liebe die Mädchen, die leiden, so sehr. Ich bin sonst ein gefühlloser Hallunke, aber hier, nun ja! Willst Du Deine Heimat oder Dein Wohlbehagen verlassen? Kannst Du Dich dort in Biel nicht mehr wohlfühlen? Sieh, ich verstehe Deine Schmerzen sehr, sehr gut. Wir werden darüber plaudern. Nur nicht denken. Liebe Lisa, das ist die größte Sünde, die es gibt. Lieber liederlich, als traurig sein. Gott haßt die Traurigen. Doch es geht alles so schnell vorwärts. Man stirbt so schnell. Versimple nur. Es ist etwas herrliches um’s Versimpeln. Aber man muß es eigentlich nicht tun wollen, es macht sich von selbst. Denke, daß ich dein treuer Bruder bin. Soll ich dich, wie ein ganz kleines unglückliches Kind, auf meinen Händen tragen? Ich bin’s schon im Stande. Ich kann das. Dein Robert.
 

Kannst Du nicht mit Feuer schulm[eistern], dann hat man Dir einen schauderhaft schlechten Dienst erwiesen, als man dich in dem Vorsatz bestärkte, Schullehrerin zu werden. Aber eben, man ist so roh, so dumm auf dieser Welt. 

Ich fange an, mit Innbrunst an eine Allmacht zu glauben, die mit uns [macht], was sie will! liebe S[chwester] 

7. Jetzt sind wir schon mitten in Walsers Wald und sehen vor lauter Wald den Wald nicht mehr. Zudem der nicht irgendein Wald ist, sondern der vom Maler Diaz gemalte, in dem von den Stämmen der Bäume, ich erwähnte es schon, eine Urweltsprache gesprochen wird. Was auch eine Kostümierung ist. Wie alles, was mit Urwelt, Ursprung und anderen solchen Ur-Silben daherkommt, um etwas zu verbergen. 

Unter dem Urweltsprachen-Kostüm ist diese Sprache die der Räuber. Sie arbeiten in dem Gebiet, in dem es nichts gibt ausser: Vogel friss oder stirb. Das gilt auch für ihre Sprache. Sie ist wie ein Schnitt, sie schneidet bis auf die Knochen, trennt, zerteilt, nimmt auseinander. „Mütterchen und Kind standen still“, schreibt Walser. Da sind sie noch zusammen, wissen längst, was geschehen wird. „Das Laub am Boden raunte: ‚Was in diesem kleinen Aufsatz steht, ist scheinbar sehr einfach, aber es gibt Zeiten, darin alles Einfache und Leichtbegreifliche drum sich vom Menschenverstand total entfernt und daher nur mit grösster Mühe begriffen wird.’“ 

Nun, sind Sie bereit? Are you experienced? Dann kommen Sie mit in den Wald von Diaz, in dem eine Sprache zu Wort kommt, die uns von all dem, was wir lieben, abschneidet, um aus uns Liebende zu machen. Solche Liebende, wie es die Räuber sind, an denen nichts verloren ist. 

Transkription des letzten Textes auf dem «Mikrogramm» Nr. 255 

Der Wald von Diaz. 

In einem von Diaz gemalten Wald standen Mütterchen und Kind still. (gestr.: Ihr) Vom Dorf waren sie wohl eine Stunde weit entfernt. Knorrige Stämme redeten (gestr. Silbe) in einer Urweltsprache. Die Mutter sprach zum Kind: «Ich bin der Meinung, dass du dich nicht so an meine Schürze klammern solltest. Als wenn ich nur für dich da wäre. Unbesonnenes, was denkst du eigentlich? Du Kleines möchtest die Grossen abhängig von dir machen. Ei, wie gedankenlos. Es ist nötig, dass einiges (gestr.: Gedanken) Denken in dein schlummerndes Köpfchen kommt, und (gestr.: zu dir um?) damit das wirklich eintrifft, lasse ich dich jetzt allein. Sogleich hörst du auf, dich mit deinen Händchen (gestr.: zu) an mir zu halten, Unflätiges, Aufdringliches. Ich habe Grund, böse mit dir zu sein, und glaube auch, ich bin es. Man muss endlich mit dir deutsch reden, sonst bleibst du dein Leben lang ein hülfloses Kind, in einem fort auf die Mutter angewiesen. Damit du die Liebe zu mir kennen lernst, musst du auf dich selbst angewiesen sein, musst zu fremden Leuten hin und ihnen dienen und darfst nichts zu hören bekommen als harte Worte, ein Jahr, zwei Jahre lang und noch länger. Alsdann wirst du wissen, was ich dir gewesen bin. Immer nur um mich, bin ich dir unbekannt. Ja, Kindchen, du gibst dir keine Mühe, du weisst gar nicht, was Mühe ist, geschweige Zärtlichkeit, du Unzartes. Mich immer zu haben, macht dich ganz denkfaul. Dann denkst du keine Minute, und eben das ist die Denkfaulheit. Du sollst arbeiten, mein Kind, und du bringst es fertig, wenn du willst, und du wirst schon wollen müssen. So wahr ich hier mit dir im Wald stehe, den Diaz malte, sollst du dir den Lebensunterhalt sauer verdienen gehen, damit du mir innerlich nicht verwilderst. Viele Kinder werden roh, weil man sie verzärtelt, weil sie nie denken, danken lernten. Die geben alle später nur äusserlich schöne und feine Damen und Herren ab, bleiben selbstsüchtig. Um dich davor zu bewahren, dass du grausam wirst, (gestr.: in) Törichtheiten dich hingiebst, behandle ich dich roh, denn aus zu sorglicher Behandlung stehen Gewissen- und Sorgenlose Leute auf». Als das Kind diese Sprache vernahm, (gestr.: machte) öffnete es die Augen schreckensweit, es zitterte, und durch die Blätter des Diazwaldes fuhr ebenfalls ein Zittern, aber die kräftigen Stämme standen fest. Das Laub am Boden raunte: «was in diesem kleinen Aufsatz steht, ist scheinbar sehr einfach, aber es gibt Zeiten, darin alles Einfache und Leichtbegreifliche drum sich vom Menschenverstand total entfernt und daher (gestr.: nicht) nur mit grosser Mühe begriffen wird». So raunte das Laub. Die Mutter war gegangen. Das Kind stand allein da. Vor ihm stand die Aufgabe, sich in der Welt, die auch ein Wald ist, zurechtzufinden, von sich selbst eine geringe Meinung hegen zu lernen, die Selbstgefälligkeit aus sich zu vertreiben, damit es gefalle. 

8. Eine Mutter schickt ihr Kind weg, schneidet es sich vom Leib, damit es lerne, nicht zu verwildern und um jede Selbstgefälligkeit aus sich zu vertreiben. „Damit es gefalle.“ 

Diese Mutter, es wäre leicht, sie monströs zu nennen, ist eine Sprachmutter, und zwar eine gute. Sie weiss etwas von der Urweltsprache. Sie übersetzt sie für uns, versucht, uns vor ihr zu schützen, indem sie uns auf uns selbst verweist. Immer wieder trennt sie uns los von sich, schickt uns fort, macht uns sprachlos, lässt uns zurück, damit wir ihre Liebe lernen können, ihre Verlässlichkeit, ihre Gültigkeit, mit der sie uns begleitet, indem sie uns von sich trennt. „Tod oder Kaiserschnitt“, heisst diese Operation bei Heiner Müller.

Ohne den Wald von Diaz sähe die Landkarte der träumenden Welt, ihrer Wachträume und Halluzinationen anders aus. In diesem Wald findet eine Szene statt, die von der Bedingung des Schreibens, von der Möglichkeit der Sprache handelt: Aufzuwachen. 

Hier, in diesem gemalten Wald aus Text, in dieser mehrfach kostümierten Szenerie, in einem Inneren, das von überall zu sehen ist, spricht eine Sprachmutter eine Grausamkeit aus, die sagen zu können der Schutz vor dieser Grausamkeit ist. Hören Sie: „Man muss endlich mit dir deutsch reden, sonst bleibst du dein Leben lang ein hilfloses Kind, in einem fort auf die Mutter angewiesen. Damit du die Liebe zu mir kennen lernst, musst du auf dich selbst angewiesen sein, musst zu fremden Leuten hin und ihnen dienen und darfst nichts zu hören bekommen als harte Worte, ein Jahr, zwei Jahre lang und noch länger. Alsdann wirst du wissen, was ich dir gewesen bin. Immer nur um mich, bin ich dir unbekannt. Ja, Kindchen, du gibst dir keine Mühe, du weisst gar nicht, was Mühe ist, geschweige denn Zärtlichkeit, du Unzartes. Mich immer zu haben, macht dich ganz denkfaul. Dann denkst du keine Minute und eben das ist die Denkfaulheit.“

Walser als Mutter seiner Texte und Kind seiner Figuren legt uns in diesem Text ans Herz: Lerne die Dankbarkeit, sie ist Denken. Lerne sie von dir und an dir. Lerne das Unlernbare, aber lerne es. Schon umschwirren uns die nichtsnutzigen Räuber und geben uns ihr Fleisch und ihre Knochen. 

9. Denn der Wald von Diaz ist ein Heim der Kunst, wo all das zur Sprache kommt, was so oft ausgeschlossen, vor die Türe verwiesen wird. Der Wald von Diaz mit seiner grausamen Urweltsprache ist zugleich die Gegend, in der alle unzustellbaren Botschaften, alle verlorengegangenen Sendungen und Schickungen Obdach in der Sprache finden. Alles, was darin vorkommt, sagt die Möglichkeit der Sprache und der Literatur, und dass es im Schreiben genau darum geht, auf all das zu hören, was da ist, was spricht, es nicht abzutun, sondern es reinzulassen. Das wäre die Bedingung der Möglichkeit, dass sich die Zeiten, in denen das Einfache und Leichtbegreifliche, gerade weil es einfach und leichtbegreiflich ist, nicht begriffen wird, wie das Laub beklagt, auch wieder ändern können. 

10. Ich habe mir darum erlaubt, im Wald von Diaz noch ein paar wenige Gäste auftreten zu lassen. Da ist zum einen die verwandte Dichterin Adelheid Duvanel. Es gibt sie, auch wenn sie so schnell, so gerne übersehen wird. Ich würde mal sagen, vor lauter Angst vor ihr. Klar, dass diese Dichterin nochmal ganz andere Räuberbanden und Metaphern bildet, in denen sie in ihren Texten hausen. Aber was das Räubern, den Mut, die Notwendigkeit, sich von keinem Versprechen von Erfolg beeindrucken zu lassen angeht, sondern dem, was sie erfahren hat, dem, dessen sie sich verpflichtet fühlt, treu zu bleiben, ist sie eine direkte Verwandte Walsers. Sie kommt aus dem Land Duvanel, das in Basel liegt.

Am Ende werden noch ein paar persische Räuber zu Wort kommen, die mich eines Abends auf einer Ansichtskarte in Isfahan anschauten. Sie waren eine alte Theatergruppe, die Räuber spielte. Sie wollen Grüsse an die Waldgemeinschaft überbringen. Jener Radikalen, die in grösstem Leid und Schmerz fähig waren, klar zu sehen, dass so lange sie der Sprachmutter, ihrer grausamen Lehre zuzuhören wagten, sie nicht verloren waren.

11. Die Dichterin, die nun gleich spricht, hat ihr Lebtag geschrieben. Wie Roberts Figuren kommen auch die ihren aus dem, was gemeinhin als Wahnsinn bezeichnet wird. Sie schrieb eine Menge Bücher, voll mit vielen kleinen Texten, die, ähnlich wie bei Walser, immer mit der Tür ins Haus fallen. Eine bewährte Räubermethode, um unsere Häuser mit einem Satz undicht zu machen. Schon sind sie uns mit ihren Figuren und Situationen viel zu nah gekommen, sitzen uns gegenüber im Wohnzimmer und wir hatten keine Zeit, den Säbel rauszuholen. 

„Edith liebt ihn. Hievon nachher mehr.“ So der Anfang von Walsers Räuberroman. 

Die Anfänge Duvanels gehen so:„Über Nacht ist die Welt reif geworden, ein zarter, weisser Schimmel ist auf ihr gewachsen – Frühlingsschnee.“/ 

„Im sich schliessenden Kelch des Himmels schimmert wie ein Wassertropfen der Mond; das Lied einer Amsel schlingt Girlanden aus Duft um die Stadt.“/ 

„Der Kastanienbaum streckt seine roten und weissen Blüten wie ein Sieger in die Luft: Er wird Früchte tragen.“/ 

„Arthur war keineswegs gedankenfaul, und er bildete sich weiter, indem er Kurse besuchte, die ihm gewandte Umgangsformen, Kochen, Fotografieren und Stenographie beibrachten. Er bemühte sich, den menschlichen Kontakt zu pflegen, doch wo er sich auch in die unsichtbaren Zelte einschleichen wollte, in welchen er die anderen einzeln oder in Gruppen vermutete – stets stand ein Engel davor und verwehrte ihm den Eingang mit der Geste eines Coiffeurs, der es bedauert, keine weitere Kundschaft mehr bedienen zu können.“

Walser wie Duvanel gehören zu den Schreibenden, die, wären sie nicht die Schreiber und Schreiberinnen ihrer Figuren, wären sie die Figuren ihrer Texte. So schreiben sie ihre Figuren und die leben dann das Leben ihrer Schreiber, halten sie fest im Griff, damit sie nicht vom Weg abkommen. In ihren vielen kleinen Texten schreiben sie ihren grossen Ich-Roman, gut getarnt als diese vielen einzelnen Texte, die am Rock keiner Sprachmutter hängen, die gelernt haben, für sich zu stehen, nicht selbstgefällig, nicht innerlich verwildert, sondern zart.

Walser aus „Eine Art Erzählung“

Ich weiß, daß ich eine Art handwerklicher Romancier bin. Ein Novellist bin ich ganz gewiß nicht. Bin ich gut aufgelegt, d. h. bei guter Laune, so schneidere, schustere, schmiede, hoble, klopfe, hämmere oder nagle ich Zeilen zusammen, deren Inhalt man sogleich versteht. Man kann mich, falls man Lust hiezu hat, einen schriftstellernden Drechsler nennen. Indem ich schreibe, tapeziere ich. Daß mich einige freundliche Menschen für einen Dichter meinen halten zu dürfen, lasse ich mir aus Nachgiebigkeit und Höflichkeit gefallen. Meine Prosastücke bilden meiner Meinung nach nichts anderes als Teile einer langen, handlungslosen, realistischen Geschichte. Für mich sind die Skizzen, die ich dann und wann hervorbringe, kleinere oder umfangreichere Romankapitel. Der Roman, woran ich weiter und weiter schreibe, bleibt immer derselbe und dürfte als ein mannigfaltig zerschnittenes oder zertrenntes Ich-Buch bezeichnet werden können. 

12. Nun aber spricht die Dichterin: Weisst du noch, sagt sie. So fangen alle Sätze an, die einen Schatz bergen. Weißt du noch, als wir uns das letzte Mal sahen, hatte sich uns der Wald von Diaz genähert und für Momente glaubten wir, die Kinder Macbeths zu sein, denen sich als alte Rache der Wälder immer wieder der wandelnde Wald von Birnam näherte. Dabei war der Wald ja unser Kind, und wir die Eltern einer Alpenrepublik, in die wir hineingeboren wurden. Schnörkellos, ungefragt und mit etwas ausgestattet, das uns wehrlos machen sollte gegen die Unmöglichkeit wegzubleiben. So dass wir schnell begriffen, was es heisst, in Schweizer Körpern lebendig zu sein: räuberisch, verschleppt, zurückweisend.

Wobei es, wie du weißt, lieber Robert, bei mir schon früh anfing, gerade siebzehn geworden und schon mit der Dienstpistole des Vaters, eines hohen Richters, in die Schaufenster des Kaufhaus Knopf geschossen. Seitdem nur noch am Rand gelebt, fest entschlossen, keinen Klagelaut zu verlieren. Wie das Kind in einem meiner Texte, dass den Schmerz beim Zahnarzt aufhob und zu Gott sandte, mit der Bitte, seinen Vater umkommen zu lassen. Und unser Kind, das ist der Wald von Diaz, ein gemalter Textwald und wir seine leibhaftigen Bewohner. Gingen in ihm ein und aus, der Vogel frass, und starb nicht. Das Laub konnte schon damals sprechen, auch die Farben, das Licht. Später dann spielten wir Mutter und Kind, und wie sie sich trennen, auseinandergehen, um nicht zu verrohen, innerlich nicht zu verwildern. Im Trennen verstanden wir uns Wort für Wort. 

Jedes Wort war ein Schnitt ins Fleisch der Wirklichkeit, – wir schnitten uns aus, wir schnitten uns frei. Wir gingen weiter, als wir sehen konnten. Oder sahen wir weiter und konnten nicht gehen? Ich sehe uns tot daliegen. Jeder an seiner Stelle, unter freiem Himmel, du ausgestreckt auf weitem Feld am Rand des Wegs in frostklirrender Winterzeit. Ich im Wald, mitten im Juni, in einer Nacht voller Frost. Ein interessantes Wetterphänomen, haben die Meteorologen gesagt, diese Hofnarren. Sie treiben Schabernack mit unserem treuesten Begleiter, dem Wetter,- als ob sie etwas von ihm wüssten. Tod durch Erfrieren, mein Lieber, irgendwo hier im Jura zwischen Basel und Biel auf einem Berg, im Wald, mitten im Sommer. Das war ich. 

13. Das können nur Dichter. Dichterinnen auch. Das sagt nun der Wald. Er ist vorgetreten, hat sich der Dichterin in den Weg gestellt. Dann gibt es hier auch noch Kollegen, sagt er, die als Hasen auf Schlittschuhen dem zugefrorenen See schön geschwungenen Bögen einschreiben. „Du weißt doch: der Osterhase kriecht bestimmt aus der Erde.“ Sagt der Kollege Jörg Steiner, der wie unsere Räuber aus der Schule von Biel kommt, die nie eine Schule war, nur eine kleine grosse Umarmung der Welt, die hier ihr Gasthaus hat mit dem Namen „Ende der Welt“.

„Warum haben wir die eigentlich? Wer hat uns die heimlich in die Westentasche gesteckt? Vielleicht ein Engel oder sonst eine trübe Null.“sagt der Dichter Walser. Er wurde manchmal als Fee gesehen, die am Ende ihres Lebens auf eine Schneepapierfläche fällt und sie mit ihrem, also seinem Körper, beschriftet. Schönes Bild. Aber Feen sind keine Engel, nur so ähnlich. Engel nämlich gehen immer vorwärts. Wobei man sie nie gehen sieht, sie gleiten dahin, ähnlich wie der Osterhase des Kollegen. Sie drehen sich auch nie um. Schweizer Engel besonders nie, sie sind vollkommen furchtlos. Denn wenn die Furcht kommt, sind sie schon lange weg. Es sind allesamt Unglücksengel, Irrsinnsengel, Pechvögel und manchmal auch Katzen. Natürlich immer Räuber.

Ihre Furchtlosigkeit kommt von der ‚Vogel friss oder stirb’ Sprache. Die hat sich in ihnen angesiedelt und ausgedehnt. Sie sind äusserste Realisten. Sie müssen sich nicht viel bewegen, um in der Welt herumzukommen. Ab und zu kehren sie zurück in den Wald von Diaz – Nabel der Welt -, wo sie als Kinder mit ihren Müttern hineingingen und ohne sie wieder hinaus. 

Ist es nötig zu erwähnen, dass es von der Engelsgeduld zur Engelsungeduld nicht weit ist? 

Hören Sie, so spricht der Dichter Walser: „Ein Knödli mit Senf schmeckte mir herrlich, was mich nicht hinderte, anzunehmen, in einem Ichbuch sei womöglich das Ich bescheiden – figürlich, nicht autorlich.“ Das bringt die Dichterin zum Lachen. Auch die Engel, die sich auf den Ästen der Bäume niedergelassen haben, müssen lachen. Das Laub raschelt uns raunt: Es war Vorfrühling, alles war noch nicht wirklich und stand noch bevor.

14. Machen wir uns nichts vor. Die Räuber und ihre Dichter sind verstörend, sie bleiben uns bei aller Nähe fern. Sie sind Mondabkömmlinge, Kinder einer lunatischen Ekstase, die im „Vielleicht“, im „Glaube ich“, im „Hievon später mehr.“ ihre Flügel bewegen, sich zum Flug erheben, um immer wieder nie zurück zu kommen. Sie sind Abschiedsfiguren, den Hinwegen verschrieben. Ihre Texte sind Durchbrüche auf zerstückelte Mythen und Märchen, Heim für alles ungeschickte Schicksal, Fluchtpunkt des Wahnsinns wie der genauesten Reflektion dessen, was einmal war und nie aufgehört hat, da zu sein. 

Sie kommen aus einer diffusen Dichte und Enge, und sie haben sie überlebt. Ihre Beute ist das Überlebthaben. Das macht die Stimmung ihrer Texte aus, dieser stille, beharrliche Jubel, da zu sein.

15. Am Ende, wir sind wieder aus dem Wald hinausgetreten, aber noch auf der Bühne, übergebe ich das Wort an die Räuber aus Isfahan. Ihr Gruss ist ein altes Sprichwort der Belutschen: Geboren werden, umherirren, sterben, verwesen, vergessen werden.

Nach diesen Schlussworten: Weiterspielen.

Friederike Kretzen August 2019