Lesung in Uster 15.6.23

Liebe Gäste, und ganz besonders liebe Friederike Kretzen, ich begrüsse Sie herzlich zu diesem Abend, der ganz im Zeichen des „Bilde(s) vom Bild des grossen Mondes“! steht.

Einführung:

Um es gleich zu gestehen: Ich befinde mich bereits seit Tagen mit Ihnen, liebe Friederike Kretzen, im Gespräch! Es ist ein inneres Gespräch, aber eigentlich ist diese Hinzufügung ganz überflüssig: In ihrem Werk – das meine ich verstanden zu haben – sind Inneres und Äusseres nicht getrennt, genauso wenig wie Gegenwärtiges und Vergangenes und hier und dort: Es gibt da Vorhänge, die sich öffnen können, Teppiche, die die „Wände aus Beton“, an denen sie in einem Museum in Teheran hängen, „steil nach oben zum Himmel auffahren“, und selbst in Bern, „wenn es Abend wird, und dieses irre Licht aus dem tiefen Einschnitt durch die Stadt aufsteigt“, lösen sich manchmal die „Berge von der Erde und nehmen die Stadt mit sich in die Höhe, ins Leichte, auf die Kreisbahn“.

Eine der Fragen in diesem Gespräch lautet, wie es sein könne, dass ich mich durch Ihren Roman so angezogen fühle, mich in ihn so gerne verwickle, während ich dafür, so kommt es mir vor, doch so wenige Voraussetzungen mitbringe: Ihr letzter Roman, „Schule der Indienfahrer“, war ein Reisebericht, das „Bild vom Bild vom grossen Mond“ ist der „Roman einer Reise“, in den Iran, besonders nach Teheran, mit Abstechern allerdings, z.B. nach New York und besonders nach Detroit. Die Sehnsucht zu reisen und auch die Begabung dafür, erfüllten Sie schon als Kind im Giessen der Nachkriegszeit. Sie sind eine grosse Reisende, das Reisen ist sozusagen Ihre Existenzform, souverän und demütig zugleich, beherrschen Sie diese Kunst in allen damit verbundenen Formen und Dimensionen.

Ich bin auch gereist, gelegentlich, – wie kann man darum herumkommen? Wenn Sie an San Francisco denken, dann sehen und spüren Sie die bergauf und bergabführenden Strassen, erwarten, dass im nächsten Augenblick die Weite des Meeres vor Ihren Augen sich öffnet, selbst dann, wenn Sie dabei auf einer Strasse in Teheran gehen. Wenn ich an San Francisco denke, dann sehe ich mich in einem Mietwagen vom Flughafen zum Hotel im Zentrum der Stadt fahren, aufs höchste angespannt, in jedem Moment mit einem Zusammenstoss rechnend, überzeugt davon, immer tiefer in die Irre zu gehen, und dann schliesslich doch in der Tiefgarage unter dem Hotel stehen, den Kopf erschöpft aufs Lenkrad gelegt. Je älter ich werde, umso mehr halte ich es mit Gottfried Benn: „Bahnhofstraßen und Rueen, / Boulevards, Lidos, Laan − / selbst auf den Fifth Avenueen / fällt Sie die Leere an − // Ach, vergeblich das Fahren! / Spät erst erfahren Sie sich: / bleiben und Stille bewahren / das sich umgrenzende Ich“.
Das Zweite, wofür ich – leider! – wenig Resonanz besitze, ist Ihre Liebe zum Film und zum Kino: das cineastische Sehen, Erfahren, Beschreiben; die Ausbildung in der Schule des Films. Der letzte Film, den ich gesehen habe, war der koreanische Film „Parasites“ – davor eine sicher zwanzigjährige Spanne der Lichtbildlosigkeit, danach sieht es auch nicht besser aus.

Die Antwort, darauf, warum ich mich so gerne von Ihnen einspinnen lasse, ist relativ einfach. Ich gebe sie mir oder lasse sie mir von Ihnen geben, wie Sie da in Teheran, in der Nähe „eines dieser höllischen Verkehrskreisel“, „mit dem Rücken zum Verkehr“ auf einem der „paar dahergelaufenen Plastikstühle, die früher einmal blau und weiss waren“, sitzen, „am liebsten den ganzen Tag lang“: Es ist gerade das Phobische, wenn es ums Reisen geht, verbunden mit dem ja doch auch vorhandenen Bedürfnis, die Mauern des sich umgrenzenden Ichs zu durchbrechen, das es mir erlaubt, mich ganz in Ihre Obhut zu begeben.

Dann lasse ich mir von Ihnen zum Beispiel die „grosse sanfte Welle“ zeigen, die sich über einen Platz in Teheran wölbt. „Dach einer weissen Moschee, die nicht wie eine Moschee aussieht. Kein Minarett, keine Kuppel. Kühner Entwurf einer begehbaren Dachlandschaft. Geschwungenes Tuch aus Beton mit Fensterschlitzen, schmalen Lichteinschnitten, das sich bis auf die Erde ausbreitet, den Park säumt, die Gebiete verbindet. Wurde sofort verboten. Eine Moschee darf den Boden nicht berühren, keiner darf ihr Dach betreten. Die Architekten erhöhen den Sockel, setzen das Fliessgewölbe vom Grund ab, machen es unbegehbar. Es bleibt verboten, Moschee und dazugehöriges Kulturzentrum seit vielen Jahren nicht eröffnet.“

Ich sehe, wenn Sie mir das so zeigen, mehr, als wenn ich tatsächlich vor dieser Moschee stünde, weil in Ihrer Schilderung, was diese Moschee ist und bedeutet, so klar zum Ausdruck kommt. Und gleichzeitig gilt auch das Gegenteil: Weil in der Weise, in der Sie über sehr vieles schreiben, dessen grossartige Rätselhaftigkeit sich ausspricht.

Und was die Lichtbildlosigkeit, betrifft, so wird da durch Ihre auch an der Ästhetik des Films orientierte Sprachkunst Abhilfe geleistet.

Nun muss ich mich aber schleunigst aus diesem Privatgespräch hinauswickeln und Ihnen, liebe Friederike Kretzen, wirklich das Wort geben. Ich hoffe, dass ich, obwohl es um Privates ging, auch Ihnen, liebe Gäste, die Sie ganz andere Voraussetzungen mitbringen als ich, unter der Hand einige nützliche Hinweise geben konnte.

(Villa Grunholzer, Uster, 15.6.23, Christoph Meister)