Grenzgänge üben / Interview: Kathrin Fischer

Friederike Kretzen*, Schriftstellerin mit Wohnsitz in Basel, spricht über die Schweiz-Deutsche Grenze, über die Grenzen in unseren Köpfen, über das Schreiben, über die Grenze des Möglichen und Sagbaren, über Totstellungen und Versteinerungen von Geschichte und Gegenwart, über lebensbejahende Formen des Kämpfens und über ihren letzten Roman „Übungen zu einem Aufstand“ (2002).

Frau Kretzen, Sie stammen aus Deutschland, sind Schriftstellerin, Publizistin und Dozentin und leben seit 1983 im Grenzland Basel auf exterritorialem Posten. Ist Basel für Sie eher Guckposten oder Ausgangspunkt für Grenzgänge? Hat die Allgegenwart der Grenze eine Bedeutung für Sie?

Friederike Kretzen: Weil die Grenze so nah ist, kann ich zu einem deutschen Zahnarzt gehen. Für mich ist das sehr wichtig. Zahnärzte behandeln am offenen Kopf bei offenem, bzw. anwesendem Bewusstsein. Bei einem schweizer Zahnarzt hätte ich noch viel mehr Angst, mundtot gemacht zu werden als bei einem Deutschen. Bei dem kann ich mir nämlich auf meine deutsche Art helfen, so lange wie möglich am Reden zu bleiben. Würde ich bei einem schweizer Zahnarzt die selben Witze machen wie bei meinem deutschen Zahnarzt, er würde mich besorgt und vorwurfsvoll anschauen. Jedenfalls stelle ich mir das so vor, und das ist schon Teil der Grenze, die vielmehr durch mich durch geht als durch Basel. Anders gesagt heisst das, ich bin in zwei Kulturen nicht zuhause. Die eine kenne ich von Kindheit an, die andere seit mehr als zwanzig Jahren. Beide sind mir miteinander und gegeneinander fremd geworden, und in gewisser Weise hoffe ich, dass sie mir noch fremder werden können. Denn zwischen zwei Fremdheiten kann vielleicht so etwas wie eine gültige Fassung des Eigenen, des Nahen entstehen. Es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, dass ich lieber nicht zuhause bin als zuhause. Ohne mein Fremdheitsgefühl in Basel und zugleich auch in Deutschland, hätte ich es vielleicht nie begriffen. Die Grenze ist nicht nur eine Ausschliessung bzw. Einschliessung, sondern erlaubt eine andere Begegnung des Begrenzten. Die Begegnung zwischen Fremden beispielsweise.

Sie haben Soziologie, Ethnologie und Politikwissenschaften studiert und sich dem Theater zugewendet. Also den Blick von der Analyse menschlicher Beziehungen auf deren Inszenierung gerichtet. Mit Ihrem ersten Roman „Die Souffleuse“ (1989) schrieben Sie ironisch und nüchtern eine Metapher für die weibliche Existenz unter den herrschenden gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Wenn Sie so zurückblicken, was war der Antrieb für Ihr literarisches Schaffen? Mit was für Grenzen, gesellschaftlichen Problemen, Klischees mussten und müssen Sie sich immer wieder auseinandersetzen?

Mein liebster Ort im Theater war hinter der Bühne, wo sich Inszenierung und das, was jeder Inszenierbarkeit widersteht, treffen. Einerseits war da jeden Abend die kolossale Theatermaschinerie der Machbarkeit von Inszenierung am Werk, andererseits war auch jeden Tag das leibhaftige Vergehen von Zeit und ihrer Unvorhersehbarkeit gegenwärtig. Was ja womöglich die Grundlage der Spannung ist, die das Theater vor allem bedeutet. Während die Zeit jetzt vergeht, sehen wir einer alten, wiederbelebten Vergänglichkeit zu, wie sie sich ereignet. In gewisser Weise kann darum auf der Bühne nicht gestorben werden, es bliebe doch Theater. Nicht umsonst sind die Legenden des Theaters die, in denen Schauspieler auf offener Bühne verrückt wurden, oder plötzlich in einem anderen Stück steckten und eine Stunde Empedokles rezitierten. Diese Unsterblichkeit des theatralischen Settings meine ich, wenn ich sage, es kann nicht gestorben werden auf der Bühne. Eines meiner Bücher „Ihr blöden Weiber“ versucht dieses theatralische Setting für sich zu nutze zu machen. Drei alte, dem Tod nahe Frauen gehen auf die Bühne und sagen, lebend gehen wir hier nicht mehr runter. Sie sind so etwas wie die Wiedergekommenen drei Schwestern von Cechov. Und was wiederkommt, will vielleicht nicht mehr gehen, es sei denn, es könnte sterben.

Womit ich bei einer möglichen Antwort ihrer Frage bin. Ich setze mich mit (gesellschaftlichen, historischen, geschehenen und geschehenden) Totstellungen auseinander, um ihnen nicht anheimzufallen. Also mit Tot-Gestelltem, das dich, kaum drehst du dich um, von hinten anfällt. Diese Totstellungen sind in der Sprache an den Stellen zu vernehmen, wo Sprache wie nicht anwesend, wie nicht sagbar zu sein scheint. Wo uns die Worte fehlen. Wo wir nichts sehen oder hören. Diese Gebiete interessieren mich, weil sie blockieren, beschweren, betäuben, was wir von der Welt wissen und wahrnehmen können.

Gibt es das denn: eine Grenze des Sagbaren?

Es gibt eine Grenze des Sagbaren, aber das Ausgegrenzte ist dennoch da. Das Unsagbare, das Unerträgliche, das Unabänderliche sind denkbar und müssen ertragen werden. Das Ausgegrenzte zu denken und zu ertragen, auf beides kommt es an. Es kommt nicht darauf an, das eine für das andere zu tun. Ich glaube, diese Logik des einen für das andere ist eine alte Logik der Ausgrenzung. An sie ist die Wahrnehmung von Grenzen, die Arbeit an den Unterschieden zu wenden.

Ihre Arbeit an den Unterschieden besteht eindeutig n der Arbeit an der Sprache. Sie besitzen die Gabe, mit absoluter Selbstverständlichkeit das genaue Gegenteil dessen, was man erwartet, zu beschreiben. Sie unterwandern die vertrauten Wortbedeutungen und Bilder. Ihre Sprache ist geprägt von Assoziationen und Gedankensprüngen. Warum tun Sie das? Ist Ihnen die Sprache, in der Sie schreiben, zu eng? Wollen Sie vielleicht – wie es Ingeborg Bachmann in einem Bild eingefangen hat – mit der Sprache wie mit einer Schaukel so lange Anlauf holen, bis der Schwung ausreicht, um die Decke, die Grenze der Sprache, zu durchstossen?

Das mit dem Schaukeln ist eine schöne Idee. Doch glaube ich nicht, dass es ein „Ausserhalb der Sprache“ gibt. Es gibt zwar die Abwesenheit von Sprache, aber die ist ja nicht draussen oder ausserhalb, sondern Teil von Sprache. Ich habe von mir eher das Gefühl, als würde ich im Berg arbeiten, mir Tunnel graben, durch Stein, in engen Schächten herumkriechen. Diese Tunnel sind einerseits Ausgänge, andererseits auch Verbindungen. Das mit der Schaukel und dem Anlaufnehmen ist auch ein Versuch, woanders hin zu kommen, andere Zusammenhänge, andere Verbindungen zu finden. Zum Beispiel die zwischen den Abwesenheiten von Sprache, die zwischen den Grenzen von Sprache, auch die zwischen Luft und Himmel, Schwerkraft und Flugkraft. Die Sprache ist mir also nicht zu eng, sondern die Gewohnheiten und Arten, wie wir sie zu handhaben gelernt haben, sind es. Die Gebote und Konventionen, wie wir sie wahrnehmen, was wir ihr zumuten. Mit Sprache lassen sich die Berge, zu der Sprache erstarrt ist, durcharbeiten. Mit Sprache können die Versteinerungen von Geschichte und Gegenwart berührt, bewegt, womöglich gefasst werden.

In Ihrem neuen Roman „Übungen zu einem Aufstand“ (2002) arbeiten Sie die neuere Zeitgeschichte durch: die Siebziger Jahre. Junge Menschen finden in einer studentischen Theatergruppe zusammen, um das Aufstehen, den Aufstand zu üben. Am Ende legt sich der Aufstand hin und schläft ein. Siegt letztendlich doch das gesellschaftlich Zweckmässige? Worauf wollten Sie hinaus?

Ich wollte auf das Schlafen hinaus. Darauf, dass es noch nicht zuende ist, sondern dass der Schlaf eine Fortsetzung des Aufstehens mit anderen Mitteln ist. Es braucht diesen Durchgang des Schafs, mit dem die Träume kommen können. Sollen die Träume ein wenig weiterarbeiten an diesem schweren Übungen des Aufstehens. Kämpfen in dieser Widerständigen, anrennenden, hochturbulenten Weise ist ja nur eine Form des Kämpfens. Ich wollte damit auch hinweisen auf andere Bestände oder Bearbeitungsmöglichkeiten von Aufständen und offenstehenden Zuständen. Nur weil wir sie heute nicht sehen, so sind sie darum ja noch nicht „nicht mehr da“. Sie schlafen. Sie träumen. Sie sind vielleicht sogar für uns. Auch für mein Schreiben würde ich das gerne geltend machen können. Dass es geschrieben ist, damit es vergessen sein kann.

Frau Kretzen, an welcher Utopie halten Sie fest?

An der der Empfindlichkeit. Einer Empfindlichkeit, in der wir wissen können, was wir nicht wissen können. Mit der und in der wir uns auf andere, weitere und nähere Zusammenhänge einlassen können, die oft quer zu den Grenzen des Möglichen und des Sagbaren verlaufen.

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*Friederike Kretzen, 1956 in Leverkusen geboren, studierte Soziologie, Ethnologie und Politikwissenschaft. Anschliessend Theaterarbeit, u.a. Dramaturgin am Residenz-Theater München. Seit 1983 als freie Autorin in Basel. Dozentin für Theorie und Schreiben an der Schule für Gestaltung, nach Adolf Muschg Leitung der Schreibwerkstatt an der ETH Zürich.

Werke:
Die Souffleuse, Nagel & Kimche, 1989
Die Probe, Nagel & Kimche, 1991
Ihr blöden Weiber, Nagel & Kimche, 1993
Indiander, Bruckner & Thünker, 1996
Ich bin ein Hügel, Nagel & Kimche, 1998
Übungen zu einem Aufstand, Stroemfeld, 2002