Einführung Buchvernissage von Samuel Moser: Bild vom Bild vom grossen Mond 

Literaturhaus Basel, 8. September 2022

Vor vier Jahren, nach dem letzten Buch von Friederike Kretzen, der «Schule der Indienfahrer», dachte ich: das ist nun das Ende. Weiter geht’s nicht mehr. Die mehr oder minder muntere Truppe, die wir schon aus vielen ihrer Bücher kannten, hatte ihre letzte Mission erfüllt, wenn auch ohne Erfolg, aber doch. Zeit sich zu trennen. 

Und nun schreibt Friederike Kretzen in ihrem «Bild vom Bild vom grossen Mond», es habe doch über dem Ende der «Schule der Indienfahrer» gestanden: «Fortsetzung folgt». Immerhin formuliert sie es als Frage. So ganz sicher ist sie sich auch nicht. Vielleicht legt sie sich das ja bloss zurecht. Einfach weil sie erfahren musste, dass sie nichts losgeworden ist seither, dass sie aus der Schule der Fahrenden immer noch nicht rausgekommen ist.

Wie auch immer: es geht weiter. Auch die Truppe ist wieder da, diesmal nicht in Indien, sondern in Persien. Und auch wenn die Erzählerin diesmal alleine reist: Natascha, Paul, Camille, Kamal, Abdul, Helmudo, Véronique und wie sie alle heissen sind da, nicht physisch, aber im Kopf der Erzählerin, die auch jetzt wieder Véronique heissen könnte. Sind sind da, nicht bloss erinnert, sondern als Partner ihrer imaginierten Gespräche, als Empfänger ihrer vielleicht nie ankommenden Botschaften. Wenn Friederike Kretzen reist, dann reist eben immer alles mit, ihr ganzes bisheriges Leben, ihr ganzes Reisen und ihr ganzes Werk, ihr ganzes Reisewerk. Und wenn man als Leserin oder Leser mit ihr reist, macht man nicht nur eine Reise mit ihr, sondern immer alle ihre Reisen. Auch in einem Persienbuch, als das man das «Bild vom Bild vom grossen Mond» gerne bezeichnen möchte, ist man fast nahtlos in Paris, Indien oder Detroit. Als gäbe es keine Distanzen. Als wäre alles gleichermassen präsent – oder gar nie wirklich präsent gewesen. Im Fall von Detroit zum Beispiel sind wir nicht in Detroit, sondern in einem Film über Detroit, jetzt wie damals, denn Detroit war immer schon nicht Detroit, sondern ein Fim über Detroit. 

Friederike Kretzens Koffer haben tatsächlich doppelte und mehr als doppelte Böden, wenn ich sie mir auch höchstens mit Handgepäck reisend vorstellen will. Denn raumgreifend, sich und ihr Leben ausbreitend ist sie ja auch beim Schreiben nicht. Nicht auswandern, nicht irgendwo sich niederlassen, nicht Kolonien gründen will sie, sondern: vorbeiziehen, sich treiben lassen, nomadisch, auf leisen Sohlen. Eine Fremde bleiben in der Fremde, wo sie nichts verloren hat, wie man so treffend falsch zu sagen pflegt. 

Man kann im «Bild vom Bild vom grossen Mond» viel über Teheran, Isfahan, über Persien und den Iran erfahren. Auch über die Grenze zwischen Okzident und Orient, ebenso oft gezogen wie überschritten, in den Köpfen hüben und drüben, und oft genug auch nicht nur in den Köpfen. Man kann aber auch erleben, dass Reisen nichts mit Sehenswürdigkeiten zu tun hat. Jedoch viel mit der Würde einer Sehenden, der nichts zu nahe kommt und die für alles offen bleibt. So dass ihr alles des Sehens würdig wird. Egal wo. Es geht um die Imponderabilien, um die Räume um die Dinge herum: die Anfahrten, die Wegfahrten, es geht um Kreisel, Vorgärten, Hinterhäuser. Es geht um das, was vor den Museen passiert. Und selbst im Museum sind es dann die dösenden Besucher, die die Erzählerin in ihren Bann ziehen, bis sie selber hinübergleitet in eine Welt, in der die Zeiten und Räume sich derart dehnen, dass alles oder nichts mehr Museum ist. In solchen Passagen wird das Reisen Friederike Kretzens zu einem Bereisen des Reisens selbst. 

Im Iran ist sie nicht zum ersten Mal. Aber diesmal ist es anders, keine Durchreise nach Indien, sondern ein Ziel von zwingender Notwendigkeit. Es brauchte dazu allerdings eine Umkehr, eine Art Erweckung oder Verheissung, vielleicht im Nachhinein erst als solche begriffen: vor Mumbai liege gar nicht der Indische Ozean, sondern das Arabische Meer, hatte ihr einmal jemand in Mumbai gesagt. Da wandte sich ihr Blick um und zurück und begriff: auch der Orient hat seinen Orient, und der liegt in seinem Westen, in Persien eben. Und dieses Persien liegt und lag immer schon in der Erzählerin Friederike Kretzen selbst. Persien ist der Mond, auf den sie als Kind mit den andern Kindern im vorweihnächtlichen Kindertheater reiste, um von der Erde zu träumen. Und deshalb darf der Iran Friederike Kretzens auch jetzt noch Persien heissen. 

Die weiteste Reise, eine endlose Reise, mache ich mit Friederike Kretzen also dahin, wo sie Kind ist und war. In den  Hof ihrer Grossmutter in Leverkusen, wo sie in den im Wind zum Trocknen aufgehängten Leintüchern mit den Schatten spielt und das Kino erfindet, in dem sie dann ihr Leben lang bleiben möchte. Oder in die Küche der Grossmutter, wo sie am Tisch sitzt und in ein Heft schreibt, Strafaufgaben wegen ihrer Schreibschwäche, und dabei früh schon lernt, dass Fehler die Sprache erst in Gang setzen. Dass die Schwächen die Stärken sind und die Schwachen die Starken, die Kinder eben.  

Weggehen von zuhause ist, wie es im Roman heisst, «die Übersiedlung in ein fernes Gebiet meiner selbst». Dieses Gebiet ist nicht nur das der Kindheit, sondern auch das der Toten. Beide Gebiete grenzen bei Friederike Kretzen zwingend aneinander. Auch die Toten haben die Stärke der Schwachen. Auch Friedhöfe und Museen prägen Friederike Kretzens Reiseerlebnisse. Friedhöfe wie Museen, Museen wie Friedhöfe. Dabei geht es nicht nur um Gedächtnis, Geschichte, um unsere eigene Zeit. «Die Verbindung mit den Toten» sagt die Erzählerin, «ist wie die mit den Wörtern. Ohne das Gespräch mit ihnen haben wir keine Sprache zu sagen, wer ist. Sie sind die andere Wirklichkeit, das zusätzliche Licht.» 

Es ist dieses Gespräch mit den Wörtern, das auch das schreibende Kind an Grossmutters Küchentisch führt. Überall taucht es auf in Friederike Kretzens Buch, schon auf der ersten Seite sitzt es da –  in Isfahan – und schreibt in ein Heft. Bis es im vierunddreissigsten und letzten Kapitel der Erzählerin buchstäblich das Heft in die Hand gibt, in dem vielleicht steht, wie ein Kind an einem Tisch sitzt und im vierunddreissigsten Kapitel usw., welches dann also vielleicht wieder nicht das allerletzte Kapitel Friederike Kretzens gewesen sein wird. Denn in diesem vierunddreissigsten Kapitel steht auch, dass dieses Kind sie erwartet, seitdem sie es in Isfahan gesehen hat. 

Und so ist dem Buch etwas Grossartiges gelungen: am Ende am Anfang zu sein und genau das, was wir alle doch hinter uns haben, vor sich gebracht zu haben: die Kindheit. Unter anderem natürlich. Oder, und das heisst es eben auch: das Buch, das die Erzählerin schreiben möchte – und das also nicht das Buch ist, das wir jetzt in den Händen halten. Schreiben und Reisen, so wie Friederike Kretzen es versteht, heisst eben nicht Ankommen, ein Ziel erreichen, sondern Weggehen, Anfangen. Wäre es eine Schule, so wäre sie eine, die das Scheitern zwar nicht als Lernziel hat, denn das kann man nicht, aber es doch für kurze, vielleicht auch lange Augenblicke zulässt.  

Für solche Augenblicke hat Friederike Kretzens Roman buchstäblich eine Katze im Sack. Es ist die Katze, die am Ende von Claude Lévi-Strauss «Traurige Tropen» sitzt, die notabene mit dem Satz beginnen: «Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende». Und trotzdem hat Lévi-Strauss ein Leben lang nichts anderes getan. Ein Fehler war es nicht. Aber gewiss ein Widerspruch. Und nur der Blick, der Austausch eines Blicks mit der Katze, erlaube es ihm, schreibt er, diesen Widerspruch auszuhalten, nicht für lange, für einen Augen-Blick eben. 

Manchmal taucht eine Katze auch bei Friederike Kretzen auf, manchmal spricht sie, manchmal schweigt sie, dann verschwindet sie wieder. Eine Katze eben. Eigentlich wolle ihr Buch, sagt sie, nur das: mit der Katze von Lévi-Strauss das Gespräch anfangen. Ich denke, der Anfang des Anfangens dazu ist ihr gelungen. 

Samuel Moser

Friederike Kretzen: Bild vom Bild vom grossen Mond 

Einführung Buchvernissage im Literaturhaus Basel, 8. September 2022

Samuel Moser

Vor vier Jahren, nach dem letzten Buch von Friederike Kretzen, der «Schule der Indienfahrer», dachte ich: das ist nun das Ende. Weiter geht’s nicht mehr. Die mehr oder minder muntere Truppe, die wir schon aus vielen ihrer Bücher kannten, hatte ihre letzte Mission erfüllt, wenn auch ohne Erfolg, aber doch. Zeit sich zu trennen. 

Und nun schreibt Friederike Kretzen in ihrem «Bild vom Bild vom grossen Mond», es habe doch über dem Ende der «Schule der Indienfahrer» gestanden: «Fortsetzung folgt». Immerhin formuliert sie es als Frage. So ganz sicher ist sie sich auch nicht. Vielleicht legt sie sich das ja bloss zurecht. Einfach weil sie erfahren musste, dass sie nichts losgeworden ist seither, dass sie aus der Schule der Fahrenden immer noch nicht rausgekommen ist.

Wie auch immer: es geht weiter. Auch die Truppe ist wieder da, diesmal nicht in Indien, sondern in Persien. Und auch wenn die Erzählerin diesmal alleine reist: Natascha, Paul, Camille, Kamal, Abdul, Helmudo, Véronique und wie sie alle heissen sind da, nicht physisch, aber im Kopf der Erzählerin, die auch jetzt wieder Véronique heissen könnte. Sind sind da, nicht bloss erinnert, sondern als Partner ihrer imaginierten Gespräche, als Empfänger ihrer vielleicht nie ankommenden Botschaften. Wenn Friederike Kretzen reist, dann reist eben immer alles mit, ihr ganzes bisheriges Leben, ihr ganzes Reisen und ihr ganzes Werk, ihr ganzes Reisewerk. Und wenn man als Leserin oder Leser mit ihr reist, macht man nicht nur eine Reise mit ihr, sondern immer alle ihre Reisen. Auch in einem Persienbuch, als das man das «Bild vom Bild vom grossen Mond» gerne bezeichnen möchte, ist man fast nahtlos in Paris, Indien oder Detroit. Als gäbe es keine Distanzen. Als wäre alles gleichermassen präsent – oder gar nie wirklich präsent gewesen. Im Fall von Detroit zum Beispiel sind wir nicht in Detroit, sondern in einem Film über Detroit, jetzt wie damals, denn Detroit war immer schon nicht Detroit, sondern ein Fim über Detroit. 

Friederike Kretzens Koffer haben tatsächlich doppelte und mehr als doppelte Böden, wenn ich sie mir auch höchstens mit Handgepäck reisend vorstellen will. Denn raumgreifend, sich und ihr Leben ausbreitend ist sie ja auch beim Schreiben nicht. Nicht auswandern, nicht irgendwo sich niederlassen, nicht Kolonien gründen will sie, sondern: vorbeiziehen, sich treiben lassen, nomadisch, auf leisen Sohlen. Eine Fremde bleiben in der Fremde, wo sie nichts verloren hat, wie man so treffend falsch zu sagen pflegt. 

Man kann im «Bild vom Bild vom grossen Mond» viel über Teheran, Isfahan, über Persien und den Iran erfahren. Auch über die Grenze zwischen Okzident und Orient, ebenso oft gezogen wie überschritten, in den Köpfen hüben und drüben, und oft genug auch nicht nur in den Köpfen. Man kann aber auch erleben, dass Reisen nichts mit Sehenswürdigkeiten zu tun hat. Jedoch viel mit der Würde einer Sehenden, der nichts zu nahe kommt und die für alles offen bleibt. So dass ihr alles des Sehens würdig wird. Egal wo. Es geht um die Imponderabilien, um die Räume um die Dinge herum: die Anfahrten, die Wegfahrten, es geht um Kreisel, Vorgärten, Hinterhäuser. Es geht um das, was vor den Museen passiert. Und selbst im Museum sind es dann die dösenden Besucher, die die Erzählerin in ihren Bann ziehen, bis sie selber hinübergleitet in eine Welt, in der die Zeiten und Räume sich derart dehnen, dass alles oder nichts mehr Museum ist. In solchen Passagen wird das Reisen Friederike Kretzens zu einem Bereisen des Reisens selbst. 

Im Iran ist sie nicht zum ersten Mal. Aber diesmal ist es anders, keine Durchreise nach Indien, sondern ein Ziel von zwingender Notwendigkeit. Es brauchte dazu allerdings eine Umkehr, eine Art Erweckung oder Verheissung, vielleicht im Nachhinein erst als solche begriffen: vor Mumbai liege gar nicht der Indische Ozean, sondern das Arabische Meer, hatte ihr einmal jemand in Mumbai gesagt. Da wandte sich ihr Blick um und zurück und begriff: auch der Orient hat seinen Orient, und der liegt in seinem Westen, in Persien eben. Und dieses Persien liegt und lag immer schon in der Erzählerin Friederike Kretzen selbst. Persien ist der Mond, auf den sie als Kind mit den andern Kindern im vorweihnächtlichen Kindertheater reiste, um von der Erde zu träumen. Und deshalb darf der Iran Friederike Kretzens auch jetzt noch Persien heissen. 

Die weiteste Reise, eine endlose Reise, mache ich mit Friederike Kretzen also dahin, wo sie Kind ist und war. In den  Hof ihrer Grossmutter in Leverkusen, wo sie in den im Wind zum Trocknen aufgehängten Leintüchern mit den Schatten spielt und das Kino erfindet, in dem sie dann ihr Leben lang bleiben möchte. Oder in die Küche der Grossmutter, wo sie am Tisch sitzt und in ein Heft schreibt, Strafaufgaben wegen ihrer Schreibschwäche, und dabei früh schon lernt, dass Fehler die Sprache erst in Gang setzen. Dass die Schwächen die Stärken sind und die Schwachen die Starken, die Kinder eben.  

Weggehen von zuhause ist, wie es im Roman heisst, «die Übersiedlung in ein fernes Gebiet meiner selbst». Dieses Gebiet ist nicht nur das der Kindheit, sondern auch das der Toten. Beide Gebiete grenzen bei Friederike Kretzen zwingend aneinander. Auch die Toten haben die Stärke der Schwachen. Auch Friedhöfe und Museen prägen Friederike Kretzens Reiseerlebnisse. Friedhöfe wie Museen, Museen wie Friedhöfe. Dabei geht es nicht nur um Gedächtnis, Geschichte, um unsere eigene Zeit. «Die Verbindung mit den Toten» sagt die Erzählerin, «ist wie die mit den Wörtern. Ohne das Gespräch mit ihnen haben wir keine Sprache zu sagen, wer ist. Sie sind die andere Wirklichkeit, das zusätzliche Licht.» 

Es ist dieses Gespräch mit den Wörtern, das auch das schreibende Kind an Grossmutters Küchentisch führt. Überall taucht es auf in Friederike Kretzens Buch, schon auf der ersten Seite sitzt es da –  in Isfahan – und schreibt in ein Heft. Bis es im vierunddreissigsten und letzten Kapitel der Erzählerin buchstäblich das Heft in die Hand gibt, in dem vielleicht steht, wie ein Kind an einem Tisch sitzt und im vierunddreissigsten Kapitel usw., welches dann also vielleicht wieder nicht das allerletzte Kapitel Friederike Kretzens gewesen sein wird. Denn in diesem vierunddreissigsten Kapitel steht auch, dass dieses Kind sie erwartet, seitdem sie es in Isfahan gesehen hat. 

Und so ist dem Buch etwas Grossartiges gelungen: am Ende am Anfang zu sein und genau das, was wir alle doch hinter uns haben, vor sich gebracht zu haben: die Kindheit. Unter anderem natürlich. Oder, und das heisst es eben auch: das Buch, das die Erzählerin schreiben möchte – und das also nicht das Buch ist, das wir jetzt in den Händen halten. Schreiben und Reisen, so wie Friederike Kretzen es versteht, heisst eben nicht Ankommen, ein Ziel erreichen, sondern Weggehen, Anfangen. Wäre es eine Schule, so wäre sie eine, die das Scheitern zwar nicht als Lernziel hat, denn das kann man nicht, aber es doch für kurze, vielleicht auch lange Augenblicke zulässt.  

Für solche Augenblicke hat Friederike Kretzens Roman buchstäblich eine Katze im Sack. Es ist die Katze, die am Ende von Claude Lévi-Strauss «Traurige Tropen» sitzt, die notabene mit dem Satz beginnen: «Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende». Und trotzdem hat Lévi-Strauss ein Leben lang nichts anderes getan. Ein Fehler war es nicht. Aber gewiss ein Widerspruch. Und nur der Blick, der Austausch eines Blicks mit der Katze, erlaube es ihm, schreibt er, diesen Widerspruch auszuhalten, nicht für lange, für einen Augen-Blick eben. 

Manchmal taucht eine Katze auch bei Friederike Kretzen auf, manchmal spricht sie, manchmal schweigt sie, dann verschwindet sie wieder. Eine Katze eben. Eigentlich wolle ihr Buch, sagt sie, nur das: mit der Katze von Lévi-Strauss das Gespräch anfangen. Ich denke, der Anfang des Anfangens dazu ist ihr gelungen. 

Samuel Moser