Rede Widerspruch-Heft 82/24

Die nachfolgend abgedruckte Rede wurde von Friederike Kretzen am 10.02.2024 an der Gedenkfeier für Pierre Franzen im Kulturmarkt Zürich gehalten.

Wie widersprechen? Also, wie nicht widersprechen? Und: Können wir leben ohne Widerspruch?

«Ah, die alten Fragen, die alten Antworten, es gibt nichts Vergleichbares!» Das sagt Hamm aus Becketts Endspiel, das nicht aufgehört hat, uns das Ende zu spielen. Play it again, so möchte ich hier gleich am Anfang sagen – denn auch das Endspiel ist, wie Casablanca und der Widerspruch, eine alte Liebesgeschichte.

Als ersten Widerspruch möchte ich meinen Kollegen Peter Kurzeck zitieren:
«Ich bin Schriftsteller. Ich glaube nicht an den Tod und auch nicht an die Vergänglichkeit … Wir können Menschen, die von uns gehen, nicht austauschen und auch nicht ersetzen. Wir müssen sie uns, genauso wie die eigene Lebensgeschichte, aus der Erinnerung jeden Tag neu erschaffen. Dann sehen wir, dass die Toten nicht wirklich gegangen sind. Sie sind nicht gestorben. Sie leben mit uns. Keiner stirbt.»

In die Widerspruch-Schule des genauen Lesens bin ich spät gekommen. (Gegründet wurde die Zeitschrift von ein paar jungen Männern von vor dreiundvierzig Jahren.) mit einem Text zu Aufständen. Damals hat mich Nina Schneider angefragt, und zusammen mit Julia Klebs haben sie so mit mir und meinem Text gearbeitet, wie es in der Widerspruch-Schule üblich war. Ich zitiere Stefan Howald zu Pierre Franzen: «Hier war ein Wort nicht präzise genug, dieser Übergang stimmte argumentativ nicht ganz, und jener Hinweis sollte noch berücksichtigt werden.» Mein Text hatte die Überschrift: «We can’t go home again.» Womit ich vor allen Dingen warnen wollte, dass wir nicht wieder in etwas zurückgehen können, was auch kein

Zuhause war. Sondern dass wir weiter nach Aufständen suchen sollten, also nach Löchern, Rissen, Widersprüchen. Allerdings ohne irgendetwas, was geschehen ist, als vergangen zu betrachten, und nichts von dem, was wir ge.liebt haben, aufzugeben. Auch das ist eine Schule des Widerspruchs, den wir so wenig lernen können wie den Aufstand und das Leben. Und doch ist jedes Heft des Widerspruchs eine Übung im Widersprechen, auch sich selbst, so präzis und damit einhergehend so kühn wie möglich.

Kommen wir nun zu den schwachen Mitteln. Emily Dickinson fragt in einem ihrer Gedichte den Vogel, warum singen, wenn es keiner hört? Der Vogel sagt, singen ist meine Art zu sein. Mit dem Widerspruch ist es auch so; er ist eine Art zu sein und am Leben zu bleiben.

Widersprechen ist kein Einsprechen, Widersprechen ist robuster, steht wi.der, lässt sich nicht in etwas ein, sondern bleibt dort, wo das Dagegenstehen, das Widersprechen überhaupt erst möglich wird. Zum Widersprechen ge.hört einerseits das Sprechen, andererseits auch das Hören von dem, was auch noch spricht. Also das andere Sprechen, die andere Äusserungsform, die wir erst noch erhören, erwarten, erfinden müssen. Vergessen wir nicht, dass der Geist des Widerspruchs aus dem Geist der Utopie kommt. Beiden geht es um den Geist, der da ist und auch nicht, der seinen Ort im Ortlosen hat. Günther Eich sagt in seiner Büchnerpreisrede: Seid unnütz. Das ist so utopisch wie widersprüchlich.

In einem frühen Wenders-Film, Im Lauf der Zeit, erzählt Kamikaze, Sohn eines Zeitungsmachers, der alles, was er denkt, schon gedruckt vor sich sieht, einen Traum: Dass er mit einer Geheimtinte schreibe, die, was geschrieben steht, löscht, und im gleichen Moment schreibt sie genau das wieder hin, was sie gerade gelöscht hat. Zwar träumt er dann, endlich eine Tinte zu finden, die nicht löscht, sondern schreibt, stehen lässt, hinzufügt. Doch sein Freund bleibt skeptisch: Du sitzt in der Tinte, sagt er. Wie wir. Kein schlechter Ort für den Widerspruch. Und auf die Frage, ob wir je so sehr in der Tinte gesessen haben wie heute, würde ich sagen, ja. Bei Borges gibt es übrigens einen Tintenaffen, der die von den Schreibenden übriggebliebene Tinte säuft. Ein sanftes Tier voller Widersprüche, mit einem sehr weichen, schwarzen Fell.

«Wer immer hofft, stirbt singend!» (Alexander Kluge) Es ist notwendig, dass sich der Widerspruch noch eine Weile diesem Hoffen, der Arbeit daran widmet, und, wenn es dann mal so weit sein wird, singend zu sterben – und zwar so, dass es uns allen eine Lehre sein kann. Eine Lehre, die es nicht geben kann, die nicht zu lernen ist, der immer nur zu widersprechen ist: Singend zu sterben? Wär doch gelacht! Oder, wie ich in meiner Kindheit sagte, das kann doch jedes Baby!

Gibt es einen Widerspruch zu Unheil, Mutlosigkeit, Ohnmacht? Einen Widerspruch, der aus dem kommt, was nicht aufgehört hat, uns heimzusuchen? Uns die Hoffnung zu rauben, uns Gerechtigkeit immer unmöglicher erscheinen zu lassen? Wie sich weiter auf die schwachen Mittel der Sprache beziehen? Wie uns weiter begleiten in allem, was wir tun, was wir denken, – wenn die Länder, die Gemeinschaften, die Gesellschaften versinken in der Agonie?
Verwirrt sein, ratlos, ungewiss ist meine Praxis als Schreibende. Und ich spreche hier nicht von Krisen, die ich überstehe oder auch nicht. Nein, es ist das Leben, das ich schreibend begleite und das längst mich begleitet als Möglichkeit von Schrift und Sprache. Ich fühle mich dabei dem Knie aus Christian Morgensterns Gedicht sehr nah; dieses Gelenk, das für mich die genaueste Anschauung von Gedächtnis ist: weder Vergessen noch Erinnern, sondern in ständiger Mitteilung immer dazwischen. Aus diesem Knie spricht der reine Widerspruchsgeist – der der Toten wie der der Lebenden. Ihm, dem ständigen Mittler, dem Garanten des Weitersprechens, soll das letzte Wort gehören:

Ein Knie geht einsam durch die Welt. Es ist ein Knie, sonst nichts! Es ist kein Baum! Es ist kein Zelt! Es ist ein Knie, sonst nichts.
Im Kriege ward einmal ein Mann erschossen um und um. Das Knie allein blieb unverletzt – als wär’s ein Heiligtum. Seitdem geht’s einsam durch die Welt. Es ist ein Knie, sonst nichts. Es ist kein Baum, es ist kein Zelt. Es ist ein Knie, sonst nichts.

DAS KNIE Christian Morgenstern