Zur Erfahrung von gewaltiger Wirklichkeit in Texten

Studienbereich Theorie, HGKZ Literatur, Mai 1996

„Warum sich in Wörtern totstellen?“fragt Rolf Dieter Brinkmann in seinem Reise Zeit Magazin „Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand“. Und da er es nicht tun will und sich wehrt, indem er schreibt, auch da, wo er, wie er schreibt „keine Wörter mehr“ hat, gelingt ihm eine Zustandsbeschreibung der ihn umgebenden und durchdringenden Kultur. Allerdings ist diese Zustandsbeschreibung keine Beschreibung, sondern eben dieser Zustand, in dem die westdeutsche Nachkriegskultur als eine „Kultur, die auf undurchschauten Tierversteinerungen beruht“ deutlich wird. Und zwar so deutlich, dass wir uns beim Lesen als Teil dieser Versteinerungen und als Tier empfinden.
Die zerfetzten, zerstückelten, ausgespuckten und herumgeschleuderten Wörter und Bilder, die Brinkamnn schreibt ohne links und rechts auf Konstruktion und ordentlichen Verlauf seiner Texte zu schauen, erfahren wir beim Lesen als eine physische Ansteckung, die uns aus eben den Versteinerungen und den Tierreflexen, dem „Totstellen in Wörtern“, löst. Brinkmann ist einer der wütendsten und radikalsten Schriftsteller der deutschen Nachkiegsgeschichte, einer, der die Wut geschrieben hat, und den wir nicht lesen können, ohne nicht Teil dieses wütenden Prozesses zu werden. Dem unaufhörlich die Wörter ausgehen, was dazu gehört, schliesslich will er „den Wortidyllen die Häute“ abziehen, um sich nicht totstellen zu müssen in Wörtern.
Rolf Dieter Brinkmann war wie kein anderer einer Wirklichkeit auf der Spur, die durch nichts als durch seine Zerstörungsarbeit Bestand haben sollte. So dass uns aus seinen Texten die Wirklichkeit einer Wut entgegenspringt, die vielleicht die genaueste Wahrnehmung und Erzählweise der Wirklichkeit dieser Zeit war und ist.
Und Brinkmann ist einer der wenigen, die an so etwas wie der Sprache der Gewalt gearbeitet haben. Andere sind vielleicht Antonin Artaud oder George Bataille oder der von Brinkmann oft zitierte Karl Philip Moritz. Eine andere ist Anne Duden, und auf eine vertrackte Weise Simone Weil. Anhand von Texten dieser Autoren und Autorinnen möchte ich mit Ihnen Möglichkeiten und Wirklichkeiten von Texten erörtern, in denen Wut, Zerstörung, Gewalt in einer Intensitätsform niedergeschrieben sind, dass sie sich immer auch mit zerreissen. Es sind dies Texte, die an der Grenze des Schreibens dennoch weiterschreiben.

Ich möchte Sie aber auch eigene Texte schreiben lassen. Texte, die sich dem annähern sollen, was alles Wirklichkeit ist. Und zwar schwarz auf weiss. Denn das ist das Praktische beim Schreiben. Dass es uns schwarz und weiss in einem anderen Raum gegenüber steht. Und wirklich. Und ob wohl Wörter sehen können? Sehen sie uns an?

1940 geboren, ist Brinkmann mit 35 Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Bis auf seinen ersten und einzigen Roman mit dem programmatischen Titel „Keiner weiss mehr“ sind die meisten von seinen Texten posthum erschienen.