Widerstand der Ästhetik – Peter Weiss

Fehlt Peter Weiss? Fehlt er uns? Fehlt uns, dass er uns nicht fehlt? Manchmal, vielleicht liegt es an der Schweiz, in der ich schon so lange lebe, frage ich mich, ob wir nicht schon längst tot, erstarrt, versteinert sind, nur haben wir es noch nicht gemerkt. Uns wird von überall her gesagt, dass alles, alles anders geworden sei und wir mit unseren Erfahrungen von Zeit, von der Widerständigkeit der Zeit, der Widerständigkeit mit der Zeit und in der Zeit, passé. Vorbeigegangen, nicht mehr gültig, tot, außer, wir „gehen mit der Zeit“. Mit dem, was uns unter diesem Begriff an Diskursen, Urteilen und Zuschreibungen angetragen wird. Dass Ästhetik, die Anstrengung der Form, etwas mit Widerstand und dieser mit Wiederholung, – der schwierigsten, der unhintergehbarsten Form des Widerständigen – zu tun hat, wird auf den medial verstärkten Kulturmärkten, im Kunstbetrieb, in den Schreibschulen mit ihren Bachelor- und Masterabschlüssen zum Verschwinden gebracht. Ganz konkret, indem Fertigkeiten beigebracht werden, die dabei helfen sollen, Fehler zu vermeiden, die doch oft das Kostbarste bergen. Eine Auffassung, die freundlich belächelt und als nicht weiter zielführend abgetan wird. Mit der Wendung, dass die, die mit Widerständigem, mit Anstrengungen der Form, mit Fehlern und Fehlen arbeiten, zu schwierig, nicht unterhaltend, eben nicht mehr zeitgemäss sich verhielten. Nach den Unvernünftigen sterben nun auch die Ungeschickten aus, die dem Ungeschickten und seinem Grüßen zu antworten versuchen. Vor allem nach dem Scheitern der großen Utopien, wie das jetzt heißt, was nicht nur Peter Weiss umgetrieben hat. Das Scheitern der großen Utopien ist nichts neues, wird uns aber als neue Ära verkauft. Was an dieser neuen Zeitrechung vielleicht neu ist, besteht darin, dass sie mit dem Impetus des Realistischen, des der Wirklichkeit Angemessenen daherkommt und dass die Anstrengung der Form heutzutage darin bestehe, damit fertig zu werden, dass es keine Utopien mehr gebe, denn sie haben sich als gescheitert erwiesen. Also bitte, nicht noch einmal. Doch wenn Kunst nicht an sowas wie der Utopie (ihrer selbst, das immer das andere ist), also am Unbestimmten arbeitet, an dem, was ungeortet bleibt, was noch werden kann, was noch immer zu kommen aussteht, das des Eintritts, des Ereignisses bedarf, um da zu sein, dann haben wir keine Zeit mehr. Weder die, die wir haben, noch die, die wir nicht haben, aber brauchen. Wo sind die Abweichler, die Widerständigen geblieben? Weichen sie entschieden genug ab, widerstehen sie ausreichend, das heißt widerständig? Gerade in der Kunst? Ist Kunst zum Medium der Anpassung geworden? Sie soll neuerdings massentauglich sein, mehrheitsfähig. Armierung durch Kunstfertigkeit? Risse werden geglättet, Formen darüber gebreitet, die aufgehen, die nicht abbrechen, und die, was sie darstellen, auch wenn sie es im kritischen Gestus tun, dennoch affirmieren. Hier also etwas zu Peter Weiss zu schreiben, hat mit der Arbeit an Zeit zu tun, mit der Notwendigkeit, sie in Frage zu stellen, sie aufzubrechen und zurückzuweisen, wie es Weiss in seiner Arbeit nicht aufgehört hat, zu versuchen. Das hat vielleicht mit Gerechtigkeit und Genauigkeit zu tun. Auch mit Verantwortung in dem Sinne, dass es in der Verantwortung um ein Antworten geht. Wem also antworten? In unserer Zeit, die keine Zeit mehr hat und darum sich auch nicht mehr befragen lässt, so dringend, so drängend stellt sie sich uns unablässig dar. Wollen wir diesem Drängen folgen? Oder genauer gefragt, können wir diesem Drängen folgen? Geht es dabei um ein Folgen? Was würde uns vorausgegangen sein, wessen Nachfolger wären wir? Antworten auf Peter Weiss. 2. Gespenster, auch die von Peter Weiss Wenn ich mir die Stücke, Überlegungen, Auseinandersetzungen, die Peter Weiss geführt, geschrieben, verfasst hat, anschaue, lese, überdenke, dann wird mir schwindlig, wie fern sie zurückschauen. Als erstes soll hier also der Schwindel einer Ferne kommen, die viel zu nah geht. Da ist das Suhrkampbändchen es 68: Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade, 14. Auflage, 211.-230. Tausend 1972. Darin eine dünne, schiefe Schrift, mit der ich mir damals Anmerkungen in den Text geschrieben habe: Theater im Theater, Moritat, Anarchie, Angst, permanente Revolution, Trotzki, Exil, Trennung vom Volk, die Freiheit wird die Freiheit besiegen, Ermordung Marats, Dantons Tod, die Köpfe im Korb, die sich küssen, kein Henker, der das verhindern könnte. Ich muss siebzehn gewesen sein. Ich glaubte an Gespenster. Wie Marx an sie glaubte in der Folge von Hamlet. Freud erwartete sie, hörte sie sprechen, Derrida lieh ihnen seine Stimme, Kafka wusste, wovon sie lebten (geschriebene Küsse) und sie alle waren sich gewahr, dass die Gespenster da waren, überlebten, wiederkamen, immer zum ersten Mal, und wir nie wissen konnten, wann sie erschienen. Eine Ästhetik des Widerstands lässt sich ohne sie nicht denken. Wie aber mit ihnen? Wie zu ihnen sprechen? Mich haben sie, so weit ich mich erinnern kann, begleitet. Nicht die von den Geisterbahnen, auch wenn mich deren Einrichtung mit Skeletten, Wölfen, Tundren, den Sichelmännern und Erhängten interessierten, sie mich gruselten, waren sie als Erfahrung von Gespenstern nicht wirklich ernst zu nehmen. Die, die ich ernst nahm, deren Existenz mich in Atem hielt, kamen aus dem Zweiten Weltkrieg, – vor allem die jener, die aus ihm nicht zurückgekommen waren. Sie bestimmten das Leben, in das die Generation der geburtenstarken Jahrgänge, zu der ich gehöre, hineingeriet. Sie waren überall, in den Zimmern, Schränken, auf Fluren, Straßen, in der Schule, im Kindergarten, in den Gärten wisperten sie in den Hecken. Wann würden sie uns in den Weg treten, die Richtungen vertauschen, die Wörter im Mund umdrehen und von uns verlangen zu schwören? Sie nicht denen zu überlassen, die „zu siegen nicht aufgehört haben“ wie Benjamin schreibt. Je älter ich geworden bin, um so klarer kann ich erkennen, wie viele es waren, wie sie sich in Lücken setzten, die Ritzen stopften, über den Lampen schwebten und alles verkehrten: Was wir wünschten, zurücklassen zu können, fiel uns hinterrücks als Heimweh an, wovon wir weg wollten, verwandelte sich zu dem, dem wir entgegenstrebten. Wir fürchteten uns, ohne uns in der Furcht gemeint fühlen zu können. Solche Furcht ist gespenstisch, sie kommt aus der Zeit, die nicht da ist und ist die Furcht, die wir geerbt haben. Erben sind traurig. Als ich dann das Gespenst, das bei Marx in Europa umgeht und den Anfang macht, kennenlernte, war das eine Erlösung. Mühelos und beglückend konnte ich es auch in den Figuren Becketts wiederfinden, die sich in ihrem ewigen Endspiel mit ihm und all den anderen Gespenstern zu unterhalten schienen. Das war im gleichen Deutsch Leistungskurs ‚Modernes Drama’ bei Frau Krause, in dem ich ein halbes Jahr später den Marat/Sade las und meine Anmerkungen ins Buch schrieb. 1974, BRD. Wir fuhren von Leverkusen nach Köln ins Schauspielhaus, um uns Hans-Günther Heymes Inszenierung anzuschauen. Noch heute dehnt sich vor mir die Bühne aus, – in der Erinnerung weit, unzusammenhängend, aus verschiedenen Ebenen zusammengesetzt. Entsprechend einer versetzten Zeitlichkeit, die sich an diesem Abend dort im Theater ereignete. Alle waren irre, alle interniert, alle spielten Theater. Wir auch. Wurden zu Reflexen, Spektren, rasenden Teilchen eines Geschehens, das einmal die Französische Revolution war, unklar, ob es sie je gegeben hatte, ob sie dem Wahn der Spielenden entstiegen war, ob sie sie träumten, – spielen taten sie auf jeden Fall. Durchdrungen von etwas, das auf verschiedenen Ebenen, in Räumen unterschiedlicher historischer Wirklichkeiten, herumraste, um sich als Irrenhaus zum Ganzen zu verschränken. Hier sah ich sie, meine Gespenstermeute, halb Körper, halb Geist. Hier liefen sie, sprachen sie, wiederholten, was so nicht geschehen sein konnte. Nein, das konnte nicht wahr gewesen sein, das war der Tagtraum ihres Autors, das selbstquälerische Verlangen ihres Regisseurs de Sade, die Todesangst ihres einstigen Anführers Marat, das verwirrte Begehren der Mörderin Corday. Es war all das, was sie überlebte, was durchhielt mit ihnen und gegen sie, was sie irre machte, an dem sie irre geworden waren, damals als sie das Stück das erste Mal spielten, 1808, bis heute. Die Inszenierung stellte keinen Aufruhr dar, der Aufruhr war im Theater, jenem gastfreundlichen Ort, der sich erlauben kann, mit den Toten zu sprechen, sie einzuladen mit ihren sich in ihnen aufhaltenden Zeiten, und sie mit uns zu teilen, sie mit uns sprechen zu lassen, und sie von uns sprechen zu hören. Wir hatten an diesem Theaterabend das Gefühl von einem Aufstand mitten unter uns, in uns. Wir waren angesteckt von der Französischen Revolution, vom Spiel der Gegensätze, ihrer Wiederholung und Gewalt. Von Marat: “Wenn ich schrieb / so schrieb ich immer im Fieber / und hörte schon das Dröhnen der Handlungen / […] Das Geschrei ist drinnen in mir / Simonne / Ich bin die Revolution“, von Sade: „Marat / als ich in der Zitadelle lag / dreizehn Jahre lang / da habe ich gelernt / dass dies eine Welt von Leibern ist / und jeder Leib voll von einer furchtbaren Kraft / […] Eingeschlossen hinter dreizehn Riegeln / den Fuß in der Kette / träumte ich nur / von diesen Körperöffnungen/ die dazu da sind / dass man sich in ihnen verhakt und verschlingt / […] Marat / diese Gefängnisse des Inneren / sind schlimmer als die tiefsten steinernen Verliese“, von den Sängern, dem Ausrufer „Es gehört zu de Sades künstlerischem Duktus / dass er jetzt einschaltet einen Interruptus / und zwar soll Marat in dieser Stunde / vorm Ende noch hören aus unserem Munde / was nach ihm kommt wenn er nicht mehr ist / und was ihr alle dort unten wisst“, und von der schönen jungen Frau mit dem Messer „Und könnt ich meine Tat noch einmal begehen / ihr würdet mich wieder vor diesem hier sehn“. Während der Fahrt von Köln zurück in der Strassenbahn hätten wir am liebsten die Häuser angezündet, die Strassenbahn, in der wir saßen, die Autos, die Trümmergrundstücke, öden Plätze, die es damals noch überall in Köln gab, und in denen sich nichts anderes als die uns wohl vertraute Leugnung der Geschichte aufhielt, hässlich, entstellt, irre. Die radikale Zerlegung, mit der das Stück arbeitet, brachte uns auf, gab uns ein Gefühl davon, dass Revolutionen Wunden waren. In ihnen stand etwas auf dem Spiel, das uns so anging, wie jene da auf der Bühne im Hospiz zu Charenton. Mochten sie nun tot sein oder nicht. Das war das einzige, was uns an diesem Abend nicht beunruhigte. 3. Waren wir verrückt? Wir müssen verrückt gewesen sein. Wir hielten das Stück für wahr. Wie die Irren in Sades Stück, spielten nur in einem etwas größeren Irrenhaus, spielten die Schülerinnen im Deutsch Leistungskurs Modernes Drama, fuhren mit unserer jungen Lehrerin nach Köln ins Schauspielhaus, waren sofort ergriffen vom Raum, von der Bewegung der Schauspieler, von der Zeit, den Wörtern, die vor uns und mit uns herumirrten, anderen Verbindungen auf der Spur, vage und schön. Verstanden habe ich damals, jedenfalls ist es mir so geblieben, die Zerstückelung von Raum und Zeit in der Gegenwart unserer Anwesenheit im Kontinuum des Theaters. Und als hätte sich eine bestimmte Zeitlichkeit, die so in diesem Raum versammelt war, sich mir eingeprägt, und wäre mir als diese Zeitlichkeit geblieben, dringend wie an jenem Abend. Das ist die Erfahrung widerständiger Energie, die dieses Stück noch immer durchdringt. Ich war verwirrt von diesem Theaterabend, ich hatte noch nicht so viel Theater gesehen, aber es war genau diese Verwirrung, die mir den Abend so unvergesslich einprägte. Der ja von einer ungeheuren Verstörung handelte, sie uns vorspielte, uns miteinbegriff, – auch wir waren eine Gruppe von Schauspielern, Irren, Internierten. Waren Schüler nicht politische Gefangene? Die Revolution eine Notwendigkeit? Ihr Scheitern nur die Möglichkeit, wieder zu beginnen, um besser zu scheitern, wie Beckett sagt? Nach dieser Theatererfahrung war Revolution jedenfalls eine Frage der Analyse, der Beschreibung, des Entwurfs und erneuten Wagnisses. Bei dem nach wie vor auf dem Spiel steht, wer wir eines Tages gewesen sein werden, wenn eine andere Theatergruppe, in einer anderen Irrenanstalt den Besuch einer Gruppe Schülerinnen mit ihrer jungen Lehrerin in Köln darstellen wird. Wie sie sich angesteckt gefühlt haben von einer Energie, einer Art, das Geschehen auseinander zu nehmen, seine Bestandteile so zu montieren, dass sich andere Schichten von Zeit und Geschichte öffnen. Und Wahrnehmungen zum Tragen kommen, die sich zwischen den Positionen, den Theorien, den Gegensätzen ergeben, offen für den Irrsinn des Inkongruenten, der Widerstände, der Grenzen und ihrer sich anders gebenden Verbindungen. Würden wir uns künftig erinnert haben wollen, diese Schülerinnen gewesen zu sein, an jenem Abend in Köln, im Schauspielhaus und die Revolution war da, teilte sich uns mit, erfüllte uns? Auch das ist eine Frage des Stücks. Wir liefen durch die Stadt, fuhren mit der Straßenbahn, waren so wütend und dachten, das muss alles anders werden. Das wollten wir uns in die Erinnerung vorausschreiben. So wie in dem Stück Marat und Sade, dieses unpassende Paar, in eine Erinnerung eingeschrieben werden, ringend und sorgend um einander, um die Positionen, für die sie standen, miteinander und gegeneinander, nicht aufhörend, sie zu sagen, sie zu spielen, in der Gesellschaft der Übriggebliebenen, wie sie es in ihrer Zeit waren und wir heute. 4. Vom Durchhalten widerständiger Energien. Es geht mir um die Erfahrung des Stücks in jener Zeit, als es überall gespielt wurde, als viel von ihm gesprochen, geschrieben wurde, als es überall war, und wie es sich mir seither eingeprägt hat in seiner ungeheuren Montiertheit. In der es Weiss gelingt, das, was Revolution, was Aufstand bedeutet, so zu entbinden, dass die vielen, uneinheitlichen, disparaten Kräfte des Aufstands durchs Theater wirbelten, wo sie seitdem geblieben sind. Ein Schneegestöber des Aufständischen. Mit toten Revolutionären, die nicht tot sind, und die wieder und wieder ermordet werden müssen, so wenig sind sie zum Verschwinden zu bringen. Etwas verliert sich, aber ob wir es damit auch verloren haben, und was das für uns bedeutet, ist eine andere Frage. Geht es nicht noch immer, und schon wieder um eine andere Ästhetik, um andere Formen des Sprechens, Schreibens, Gedenkens? Um eine Sprache, die sagen kann, was ist, bzw. was dieses IST an NICHTSEIN bedeutet? An Ausblendung, Leugnung, Löschung? „Roux schreit durch den Tumult: Wann werdet ihr sehen lernen. Wann werdet ihr endlich verstehen.“ Hier wäre auch die Frage der Beschreibung und Beschreibbarkeit wichtig. Können wir beschreiben, was sich uns als wirklich darstellt? Wie fiktiv das ist, was wir wirklich nennen? Wie, mit welchen Mitteln, für wen? Und wenn nicht, ist das vielleicht das, um was es heute wie zu Zeiten des Stücks geht? Ohne die ständige Arbeit an den Formen (und damit meine ich nicht Formen ohne Inhalte oder Inhalte ohne Formen, sondern dass das eine nicht ohne das andere zu haben ist, dass das eine nicht ohne das andere existiert), die Bereitschaft, sie in Frage zu stellen, sie aufzubrechen und zurückzuweisen, werden uns schützende Möglichkeiten zu den uns selbst immunisierenden Unmöglichkeiten. Das ist, was Coulmier, Direktor der Anstalt, weiß, worauf er sich verlässt. Wenn er de Sade inszenieren lässt, dass der Revolutionär Marat ermordet wird, für den de Sade 1793 tatsächlich die Totenrede verfasst hat. Weiss hat die großen revolutionären Themen verhandelt. Wo er sie zerlegt hat, wo er sie der Montage überantwortet hat, wie im Marat/Sade, da hat sich die Geschichte auf ihre vielen zuwiderlaufenden Geschichten geöffnet, hat Gewicht verloren, konnte von anderen Kräften übernommen werden, wilderen, halluzinierenden, jenseits der Opposition von Tod und Leben. Da sind die Gespenster, sie versammeln sich, spielen zusammen am Rand der Vernunft, der Ordnung, des Irrsinns und um all das. Was uns mit Peter Weiss verbindet, ist Widerstand. Der der Zeit, der Formen, der Sprache, also all das, was Analyse in Gang setzt, Übersetzung, Kritik, und auch das, was auf eine unhintergehbare Weise da ist im Widerstand, anders da, als wir denken, wahrnehmen, dichten können: Kräfte, verschiedene, dunkle, helle Felder von Kräften, die nicht zu erklären sind, sondern zu entbinden, umzuformen, zu übersetzen. Sodass es wieder geschehen kann, dass ein Kritiker wie Ernst Wendt, der in London die Peter Brook Inszenierung von Marat/Sade gesehen hat, schreibt: „Die hinreißende Gewalt der Aufführung lag nun darin, dass man – als Zuschauer – mehrmals Angst bekommen konnte, dem Sade möchten die Zügel über die Bewegungen, die er arrangiert hat, entgleiten und der grausige Irrsinn möchte über dem Parkett zusammenschlagen. Diese jammernswerten Gestalten auf der Bühne, so nah, so voll tückischer Einfälle, Bildern Goyas entstiegen, in Hysterie ausbrechend und in konvulsivisches Zucken, … die machten wirklich mehr als einmal fürchten.“ Widerstand ist nie einfach, er gibt sich nicht, sondern bleibt. Bleibt Grund und Ungrund ästhetischer Verwandlungsarbeit, auch in an-ästhetischen Zeiten, wie den unseren. Nach wie vor geht es darum, sich die eigenen Widerstände zu bewahren, auf das zu achten, was sich in ihnen erhält, was uns an sie bindet und zugleich nach Entbindung verlangt . Aufbrüche, Revolutionen, Erhebungen, verloren vielleicht, gescheitert, aber unaufgebbar, ohne Ende. Noch immer gilt es, die doppelten Bindungen des Widerständigen zu übersetzen, den kleinen Fährbetrieb der politischen Literatur weiter zu betreiben, mit all den gespenstischen Fahrgästen, die da herumlungern und auf Übersetzung warten. Vielleicht nicht so sehr, um sie ans sichere Ufer zu bringen, sondern um mit ihnen an Bord den gewaltigen Abgrund des menschlichen Herzens zu queren, die Webarbeit der Sprache zu betreiben. Die Schönheit solcher Übersetzung liegt weniger darin, ob wir gerettet wurden, ob etwas gut geworden ist, sondern ob wir etwas gesehen und erlebt haben, was wir nicht kannten, wovor wir uns nur immer fürchteten. 5.Schönheit, Tollheit und haben wir den Mond gesehen? Im japanischen No-Theater geht es nicht um die Schönheit der Geste des Schauspielers, mit der er uns den Mond gezeigt hat. Es kommt darauf an, ob wir den Mond gesehen haben, ob er sich uns in seinem vagen und wunderbaren Licht gezeigt hat. Mit der Schönheit des Spiels von Marat/Sade verhält es sich ähnlich. In einem vielleicht nicht in einer tollen Sprache geschriebenem Stück, haben wir das Tolle erfahren. Montage, Godards schöne Sorge, ihre aufbrechende Kraft ist, was Marat und Sade rettet. Auch wenn es ihnen den Verstand raubt. Morgen werden sie wieder an ihren Stellen sein, abermals beginnen und vielleicht ein bisschen besser scheitern. Die Erfahrung sich durchhaltender widerständiger Energie, ist auch die Erfahrung, von etwas durchgehalten zu werden, wie von denen aus dem Stück, aus der Irrenanstalt der Revolution. Daran wollten wir uns damals, nach diesem Abend im Theater in Zukunft erinnert haben können. Friederike Kretzen Januar 2016 Literatur Peter Weiss: Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn des Sade, edition suhrkamp 68, 14. Auflage, 211.-230. Tausend, 1972 Frankfurt am Main 1964 Ernst Wendt: Brooks Inszenierung in London, S. 85 in Materialien zu Peter Weiss’ ‚Marat/Sade’, es 232 4. Auflage 30.-35. Tausend 1973, Frankfurt am Main 1967 Walter Benjamin: Illuminationen S. 253 Über den Begriff der Geschichte VI, st 345, Frankfurt am Main 1977 6