Schule der Indienfahrer

10. Lektion, die nach einem kleinen Ausflug wieder zurückkehrt zu Helmudos Anruf am Abend, der Rhein führt Hochwasser, die Luft röhrt, der Fluss wirft sich auf gegen Ufer und Himmel. Noch ist unklar, wann das war, dann kommt schon der nächste Abend und wieder ruft er an. Hier spricht Helmudo, mir geht es gut, ich kann mich rasieren, mir die Zähne putzen, Kaffee trinken, Musik hören, Fernsehgucken. Alles so viel ich will. Verrücktsein ist nur Verrücktsein, nicht auch plemplem. Ich weiß was von Alexander. In Indien. Seine Filme, sollen in der Schweizer Botschaft gezeigt werden, irgendein Jubiläum, nächsten Herbst, November. Er ist Schweizer, sagt er und lacht, hättest du auch nicht gedacht, was? Wir müssen hin, Indien, das wollten wir doch, wir müssen fahren. Feed your Head, sagt die Haselmaus. Wie früher, Véronique, durch die Gegend gefahren, immer auf Achse, Günther dabei, Alexander hat gefilmt, auf Tonband aufgenommen. Das ist Soziologie, haben wir gesagt. Futter für unsere Köpfe. Sachen hin und her tragen, auch denken, fühlen, mit den Leuten reden, beobachten, forschen, Bürgerinitiativen, Anti-Atombewegung, nein danke, Frieda Kahlo an den Wänden, Hirsch mit Pfeilen im Leib, die gebrochene Wirbelsäule von tausend Nägeln zusammegehalten, zwei offene Herzen in zwei Frauen, sitzen da auf den Stühlen, alle schon ganz irre geworden von ihren Bildern, konnten nicht genug kriegen davon, egal, nach Wyhl auf den Bauplatz gefahren, Kaiserstuhl, erinnere dich, Véronique. Du spinnst, sage ich. Nein, sagt Helmudo, ich bin nur verrückt. Dann hast du es dir ausgedacht. Nein, im Fernsehen, ein Bericht aus Bangalore, der Stadt des Weißen Tigers, Alexanders Name, wiederaufgetauchter Film aus den späten siebziger Jahren, von ihm, neu geschnitten. Wo ist er? Irgendwann in der Nacht, ich weiß nicht mehr, auf welchem Sender, BBC vielleicht, sagt Helmudo. Du hast geträumt, irgendwelche Pillen genommen, eine zum Grösserwerden, eine zum Träumen, wir wissen doch gar nicht, ob er noch lebt. Peanuts, sagt Helmudo nach so vielen Jahren, legt auf, und ich rufe Abdul an. Was sollen wir tun? Abdul lacht. Er ist in Gießen geblieben, als einziger, die ganze Zeit, einfach geblieben, was auch eine Art Indien ist. Theater sowieso. Wer im Theater lebt, der hat die ganze Welt. Seit Helmudo angerufen hat, habe ich das Gefühl, es wäre das Jahr 1976, sage ich. Es ist Sommer, und ich fahre nach Indien. Als erste, danach fängt das Verschwinden an. Vorher noch dieses Folk-Festival in der Stadt, lauter junge Menschen in dörflichen Kleidern in den Ruinen des Schiffenbergs unterwegs, singen Lieder mit deutschen Texten, viele Gitarren, Helmudo spielt alle Lieder nach, noch Jahre später. Ein Schiff sticht in See, sein Steuermann ein windiger Kerl. Wir segeln mit, spielen ein Stück von einem schwarzen Fisch, der ist Iraner, ein kleiner, und bald werde ich durch das Land fahren, aus dem er kommt. Land vor dem Land. Wüste in der Wüste. Unendlichkeit. Als die Iraner von der Revolution träumten, sagt Abdul, als der Schah ihr Feind war, als noch so viele von ihnen in Gießen lebten, hier studierten, sich bereithielten für die Revolution, die meisten von ihnen in der CISNU organisiert, Trotzkisten, schöne, höfliche, junge Männern, Orientalen, nicht zu vergleichen mit unseren Revolutionären. Die glaubten, revolutionär zu sein, für etwas zu kämpfen, würde ihnen erlauben, sich gehen zu lassen, die Form zu verlieren, wenn nur der Kampfeswille stark war, dabei war es doch umgekehrt, sagt Abdul. Die Iraner in der Stadt machten sie schöner. Sie sprachen in Bögen, verschlungen, über viele Nebenwege, und waren dann doch da. Nie näherten sie sich einer Sache auf gerader Linie. Einer von ihnen spielte mit bei dem Stück, es war seine Idee, dass wir es spielen. Ich war der kleine schwarze Fisch, hast du das vergessen, Véronique? Er spielte den großen. Kiu. Der große Fisch gab den Auftrag zurück, Ende, keine Revolution. Er war müde, ausgeblutet, er hatte allen Mut verloren, schon damals. Ich, der kleine, mahnte ihn, sprach ihm Mut zu, Kraft. Was wir nicht ganz machen, kehrt zurück, sagte ich ihm. Oder ich sagte ihm: Wir wollen an den anderen glauben, wie wir verzweifelt an uns selbst glauben wollen. Oder ich rief: Himmel, du mein Bruder, sei auf der Hut. Ja, sagte der große Fisch, es lebe die Revolution, und er zückte sein Messer. Ja, sagte ich, erst ist es heute, dann gestern, dann vor einer Woche, einem Monat, ein Jahr schon, noch eins, die Revolution bricht aus, sie ist siegreich, der Schah flieht, der Revolutionsführer Chomenei kehrt zurück aus seinem Pariser Exil, die Ordnung bricht zusammen, unfassbar die vielen Toten, die von vorher, die von nachher und die, die noch sterben werden. Wieder Tage, Monate, Jahre, wo die nur wieder herkamen. Du wirst zurückkehren, du wirst weggehen von hier, deine Freunde, Genossen, ihr schönen höflichen Männer in unserer traurigen Garnisonsstadt, ihr geht, macht noch ein Abschiedsfest, dann werden wir nichts mehr von euch hören, die Revolution frisst alle auf, bis hierher. Wir haben uns angeschaut, der kleine und der große Fisch auf der Bühne des Schiffenbergs, die anderen standen im Hintergrund, haben den Vorhang gehalten, den sie jetzt über uns breiten, die Szene zu Ende. Sind wir tot? Das Stück, was wir gespielt haben, unabschließbar wie das Leben. Kein Ende steht auf den Kartons, die die anderen nun über die Bühne tragen, eine Art Endlosband mit den immer gleichen zwei Worten. Anstelle Sichel und Hammer ziehen sie einen Stern mit Schweif auf. Morgenland. Lucy, how are you in the sky? Es ist so lange her, ein anderes Leben. Nein, sage ich, es ist ein und dasselbe. Die Zollstation hinter dem Ararat, Grenzübergang, Täbris die erste Stadt im Iran. Straßen durch die endlose Wüste, lang, gerade, einmal in der Nacht ein brennender Tanklastwagen, kommt auf uns zugerast, nein, ein Traum, ein Schrei, vielleicht Kojoten, und enden an einer Verkehrsinsel, alle Straßen Irans, in der Mitte eine Art Blumenbeet, von lila Pflanzen bewachsen, die Blätter wassergepolstert, speckig, kleine helle geduckte Blüten, Wüstenfüchse, einmal im Kreis fahren und dann weiter. Weiter Richtung Osten, manchmal auch Ortschaften hinter den Verkehrkreiseln. Langes Band von Reparaturwerkstätten aller Art. Teehäuser, geduckte Häusern, auf deren Dächern die Wäsche weht. Wir fahren schnell, wir wollen nicht bleiben, uns nicht umdrehen. In Teheran Tee getrunken, Lammfleisch gegessen, langes, dünnes Brot, zum Kaspischen Meer hoch, und von Kreisel zu Kreisel weitergeworfen, um die eigene Achse gedreht und wieder geradeaus. Das ist der Weg nach Indien. Wir baden im Kaspischen Meer, kochen Tee, baden nochmal, übernachten am Strand, brechen früh auf zur letzten Etappe. In Afghanistan ist alles anders. Fritz war schon mal da mit Petra, ein Jahr vorher. Sie wissen wohin, kennen Hotels, Campingplätze, wegen des Autos. Die Betten im Freien, auf der Wiese, unter Bäumen, Pinien und Kiefern. Afghanistan, ein Märchen. Es war einmal ein uneinnehmbares Land. Es gab einmal Buddhisten im Orient, Nomaden zogen vom Norden in den Süden, von den Höhen in die Niederungen, sie hatten Herden, trieben Handel, sie hatten Oasen und zogen weiter. Als ich nach Herat kam, stockte mir der Atem, oder das Blut. Ich schloss die Augen, ich war uralt und alles um mich herum fing gerade erst an, wuchs in den Himmel, drehte sich im All. Pferdekutschen fuhren eilig durch die Straßen, die von Kiefern gesäumt wurden. Es ist Nachmittag, schon gegen Abend, die Wüste liegt vor der Stadt, ihr Licht färbt die Schatten der Zweige erst rot, dann blau, dann dunkel. Die Luft ist so trocken, als wäre sie aus Stroh. Leichter Wind geht. Welche Vögel erheben sich zu dieser Stunde? Fliegen vielleicht ein Stück in die Wüste hinaus, den Bergen zu. Die Sonne brennt ihre Flügel, sie rufen nicht, singen nicht. Erst später lassen sich die Hähne hören. An den Kutschen kleine Glocken, bimmelndes Getrappel der Pferdchen, die Männer in Kaftanen, auf dem Kopf einen Turban. Frauen ganz in der Deckung. Hier ist die Revolution nur kurz gewesen, schon wieder vorbei, vor der Tür stehen die Russen, haben schon angeklopft, die Straße von Herat nach Kandahar und wieder hoch in den Norden nach Kabul, haben die Russen gebaut. Für ihre Panzer. Sie sagen es uns in jeder Teestube, in jedem kleinen Rasthaus am Rand der Strecke, wo wir anhalten, erschöpft schlafen, Tee trinken, Kuchen kaufen, das flache Brot, Joghurt. Sie können die Russen kommen hören, das Ohr am Asphalt. Überall das Geschirr der Engländer, weiß mit kleinen roten Rosen. In Herat die Straßen sind schmal, die Gehwege aus Lehm. Teestuben reihen sich aneinander, zeltartige Vorbauten, Männer hocken auf Teppichen, auch im Inneren der Räume sind die Böden aus festgeklopftem Lehm. Die Häuser fangen an zu strahlen in der Dämmerung, sie glühen, und ihre Farbe gleicht der Sonne. In den Bäckereien brennen die Öfen, der Bäcker, der die dünnen Brote gegen die Innenwand des Ofens schlägt, gleich sind sie gebacken, von unten das Feuer. Er trägt einen großen Lederhandschuh, seine Bewegungen wie eine große Marionette. Er arbeitet schnell, Kinder kommen und tragen Berge von Broten in den Armen. Sie laufen nach Hause. Schon werden in den kleinen Geschäften mit Gemüse, Obst, Getreide die Lampen angezündet, einzelne gelbe Elektrobirnen, die von der Decke hängen, Kerosinlichter. Wie Signale, wir sind hier auf hoher See, umgeben von Wüste, wir schwimmen, halten Kurs, legen uns auf den Teppich, um uns bald mit ihm zu erheben, zu schweben durch die Nacht mit den hellen, viel zu großen Sternen. Sie sind hier so dicht, so drängend, kommen immer näher, der Nachthimmel eine Ewigkeit, Rand der Zeit, gleich greifen sie nach dir, reißen dich los von deinem Lager, schleudern dich ins All, selbst ein brennendes Etwas, Fremde, Ferne, hier hast du sie. Da kannst du noch so viel Opium fressen, Heroin spritzen, dir das Hirn einnebeln, all das ist nichts gegen uns auf dem Weg durch die Nacht in der Zeit, die wir umkreisen, stetig, und in unablässiger Wiederholung; die Schiffe an Land, die am Rand der Wüste ankern, eine kleine Armada, dicht zusammengedrängt, nur wenige aus Stein, mit Fenstern aus Glas, mit Gittern versehen, umgeben von Hütten, zeltartigen Dächern, Stangen, Bretterverschlägen, sie alle treiben mit ihren Lämpchen in die Nacht, in die Wüste, die ist das Meer, der Himmel die Erde, die Sterne Löcher, in denen sich alles viel schneller bewegt als hier unten auf See im Florenz Asiens, wie es genannt wurde, Perle des Orients, Herat, noch immer stockt mir der Atem, das ist, was ich behalten habe von Herat. Kann das sein? sage ich. Nein, sagt er, es ist, als wäre die Zeit jetzt, das Jahr 2014, es ist Frühjahr und Helmudo, der Verrückte, hat angerufen. Es wird geköpft, gehäutet, die Augäpfel aus den Höhlen gerissen. Vor hundert Jahren machten sie sich gerade daran, die Gräben auszuheben, nach denen der erste große Weltkrieg benannt wurde. Die Menschen gingen in Stellung, in die Gräben, hinter Wälle, dann blieben sie so. Ihre Kinder in den nahegelegenen Dörfern spielten alles nach, liefen über die Erde, gingen in Deckung, erschossen sich, fielen zu Boden. Auch sie blieben so. Heute noch sind in Frankreich die Gräben zu sehen. In Wäldern, auf Hügeln, neben Flüssen. Zusammen mit den Friedhöfen für die Gefallenen. Wie die getöteten Soldaten im Krieg genannt werden. Fahnen wehen im Wind über sie hinweg, sie klirren. Und fällst du in den Graben, fressen dich die Raben. Nach zwei Weltkriegen wusste jedes Kind, das auf den Knien von Vätern oder Onkeln ritt, dass diese Raben keine waren. Sie herrschten in einem leeren Himmel. Unter dem sind wir herangewachsen, ruhelos, wie es unsere Art ist. Le Fou, sage ich. Wer hat ihn gerufen? Indien. Was sonst. Wo ich mein Gefühl für mich verloren habe, damals, als ich zurückkam und erst später merkte, dass ich gar nicht da war. Weißt du noch? Ich habe nie verstanden, warum Alexander nicht mit dir gefahren ist, warum bist du allein gefahren? Ich weiß noch, als wir uns das letzte Mal sahen, bevor du los bist, im Café, das Semester gerade zu Ende. Danach war nichts mehr wie vorher. Alexander hat immer gesagt, der Schnitt im Film ist wie der Tod im Leben, sage ich, ein Satz von Pasolini. Der mir Angst machte. Darum hat er mich fahren lassen. Hast du ihn verlassen? sagt Abdul. Wir schweigen. Komisch, sagt er, wie wir jetzt sprechen. Als würden wir wie der tote Jesus über die Erde fliegen und unter uns in unseren Zimmern, du in Basel, ich in Gießen, würden zwei Menschen stehen, Abdul und Véronique, den Hörer in der Hand, und sie würden miteinander sprechen wie zwei alte Geister, irgendwann abgehauen aus den Geisterbahnen der Kirmes. Und sie sagen, weißt du noch? Wie hast du dich gefühlt? Warum? Diese Fragen, die wir uns nie stellen, wenn sie angebracht sind, nicht, so lange wir jung sind. Fragen, die immer zu spät kommen, sagt Abdul. Ja, sage ich, sie sind das Zuspätkommen selbst und stehen uns noch immer bevor. Seit Alexander verschwunden ist, habe ich mich meinem indischen Gefühl, dem Gefühl für mich in Indien, nicht mehr auszusetzen. Ich habe mich nicht getraut. Bis jetzt, Abdul. Ich weiß, sagt er. Vielleicht gibt es einen Film, vielleicht lebt Alexander, sage ich. Ja, wir werden reisen, sagt er, wir werden ihn finden, Alexander, seinen Film, alles wird da sein, Günther, wir, die uralten Schüler der Geschichte, des Schneefalls. Noch immer wollen wir wissen, noch immer lieben. Alles und alle kommen mit. Jesus am Kreuz? sage ich. Ja. Die Kriegswitwen? Ja. Horstchen? Ja. Schwester? Ja. Edith, Susan, Trotzki und der tote Lenin? Ja. Die Verschollenen, die Buddhastatuen von Bamiyan, die Bäckersleute von der Bismarckstraße? Ja. Und wir, Abdul, die Zeit, der Wolf, die Geißlein, die Kreidefresser und John Lennon. Einmal explodierte in einem Bauernhaus ein roter Igel, danach kam ein Kind zur Welt und ich wurde Trotzkistin. Wir wollen es Indien nennen, sagt Abdul. Und Angst, Abdul. Angst, nicht sagen zu können, was ist, was war, was noch immer nicht ist, immer wieder nicht. Angst, keine Sprache zu finden für das Leben, das unablässig zu uns überläuft. 1