Schule der Indienfahrer, Literaturhaus Basel, 3. 5.17

Friederike Kretzens Schule der Indienfahrer ist keine Sonntagsschule, auch kein Kindergarten, überhaupt keine Schule für Kinder. Es ist eine Schule für solche, die Kinder werden wollen. Man muss dazu bereits einiges Gepäck mitbringen. Man muss ein gewisses Alter und vorallem die Erfahrung des Alterns haben, um das Kind zu werden, das man noch gar nie war, nicht einmal damals, als man es war. In der Schule der Indienfahrer gilt es zur Unreife zu reifen. Oder: ein «altes Kind» zu werden.
Es gibt weder Eintrittsprüfung noch Abgangszeugnis, weil es überhaupt keinen Abgang gibt. In der Schule für Indienfahrer bleibt man für immer. Friederike Kretzens Buch ist also auch kein Schulbuch, sondern ein Lebensbuch. In doppeltem Sinne: es erzählt ein oder gar mehrere Leben, aber es erzählt auch ums Leben. So wie man ums Leben läuft. Auf Leben und Tod. «Indien» steht in der «Schule der Indienfahrer» für beides: für Leben und Tod. Für den Wunsch nach dem einen und für die Angst vor dem andern.
Die Indienfahrt beginnt in Armut und Not. Die Not heisst aber «deutsches Wirtschaftswunder». Die Schüler, die Ende der sechziger Jahre von Indien träumen, sind Kinder der Prosperität der Nachkriegszeit. Sie kommt ihnen vor als Tod bei lebendigem Leib. Die Arbeit, Konsum und Erfolg verweigernden Hippies und die klassenkämpferischen Studenten behaupten zu verhungern mitten in einer satten Gesellschaft. Und ihren Hunger wollen sie stillen ausgerechnet in einem Land, in dem die Armut zum Himmel schreit: in Indien – oder dem, was sie dafür halten. Was vielen, gerade den Wohlmeinendsten, absurd erscheint. Und das ist es ja auch. Die einen sprechen vom Geld, das es zum Glücklichsein brauche, die andern von einer Glückseligkeit, die durch kein Geld der Welt gekauft werden könne. Nennen wir diese andern, wie sie sich selber: Indianer. Oder «Indiander», die wir schon kennen aus Friederike Kretzens Roman von 1996 kennen, nur etwas älter geworden.
Es geht also um den Hunger der Gesättigten. Man kann ihn auch Überdruss nennen, aber er verursacht dasselbe Unwohlsein, tut gleich weh wie der Hunger. Vielleicht noch mehr, weil er materiell nicht zu stillen ist. Weil er auch gar nicht gestillt werden soll. Denn Sättigung hiesse für die Indienschüler, die Orientierung zu verlieren. Deshalb darf ihr Orient, darf ihr Indien nie erreicht werden. Und deshalb reden sie so miteinander: «Ja, Helmudo, Sehnsucht zu haben und nicht zu wissen, nach was, das Gesetz dieses Abstands, diesen Abstand finden. Wenn die Welt fort ist, wenn wir sie tragen müssen. Was wird geschehen? Was wollen wir, dass geschehen wird mit uns? Wir brauchen die Zeit, die wir nicht haben, genau die. Und reisen ihr nach, der schnellen, der rasenden, Indien, Raum vor dem Raum, nie werden wir es erreichen. / Ja, Abdul, wir müssen fahren. Ins grosse Schneegestöber des Nichts, und der Schmerz wird unsere Lampe sein. Weisser Hauch von den Wiesen der Kirschbäume.»
In der «Schule der Indienfahrer» sind Vernunft und Träume Zwillinge. Auch die Angstträume. Sie reiben sich an- und nähren sich voneinander. Das entfacht Feuer, Wärme, Explosionen – Leben eben. Die «Schule der Indienfahrer» ist das Lebensbuch einer bestimmten Generation, nennen wir sie die 68er, und also auch ihrer bestimmten Art zu träumen. «Klare Bilder, vage Ideen», heisst die Losung im Buch. 68 nannte man es die «konkrete Utopie». Die Indienschüler sagen, sie seien «Schüler der Geschichte». Ja, aber diese lernen sie nicht ohne die Geschichte und Geschichten der Schüler selbst. In jeder Lektion der äusseren Welt begegnen sie ihrer inneren. Der Abstand zwischen objektiver Wirklichlichkeit und subjektiven Vorstellungen, Bildern, Träumen, Phantasien ergibt den Tonus und den Ton in Friederike Kretzens Buch. Sie ist selber zu oft in Indien, Afghanistan etc. gewesen, um die Augen zuzumachen und sich dem Traum eines realitätsfernen Glücks hinzugeben. Im Gegenteil: der Traum öffnet ihr die Augen für das traurige Indien. «Wehe dem, der Indien in Indien sucht», sagen die Indienschüler.
Ich stelle mir die «Schule der Indienfahrer» als Seefahrerschule vor. Obwohl doch alle übers Land oder durch die Luft nach Indien gelangen. Auch unsere Schüler, wenn sie sich denn einmal auf den Weg machen. Aber Kolumbus und die Indianer sind einfach nicht wegzudenken. So ergeht es wohl auch Friederike Kretzen, denn nichts liebt sie so sehr wie die Metaphern der Seefahrt. Sie oder Véronique, ihr Ich im Buch, hat sie vom Vater. «Schon entfernt sich das Land, komm.» Das waren seine letzten Worte, als er 1973 starb und sie zugleich mitgenommen und allein gelassen hat: «und dann stirbt mir der Vater, der mir doch aufgegeben war zur Obhut, dass ich mich um ihn kümmere, ihn heile, froh stimme – Wahn der Tochter – und ich konnte es von Anfang an nicht.» Vielleicht ist das die entscheidende Stelle: nicht den Vater heilt sie, sondern – gerade indem ihr das nicht gelingt – sich selber. Sie entwickelt nicht ein Schuldgefühl, sondern eine neue Aufgabe: das Aufgeben. Der Tod des Vaters hat eine ambivalente Spur oder die Spur der Ambivalenz überhaupt hinterlassen. Die Ambivalenz von Finden und Verschwinden. «Gerade in Indien fehlt einem Indien sehr», sagt Véronique. Wenn die Indienreise eine Reise zu sich selbst sein sollte, ja, dann führt sie genau dahin, wo man selbst nicht ist. Und da ist man dann. Indien ist das Fehlen Indiens und dieses kommt nicht nach der Schule. Es ist die Schule. Hic India, hic salta.
Ich sagte, dass die Indienschule eine Seefahrerschule sei. Damit meinte ich auch: eine harte Schule. Dennoch, und das widerspricht sich nicht, tut man gut daran, sich an die andere Bedeutung von Schule zu erinnern: ludus, Spiel. Die Indienfahrschüler verwandeln alles, auch sich selber in Spiel. Sie leben als Theater, Film, manchmal sogar als Roman. Hic India, hic salta ist die Aufforderung zum Tanz und Spiel da, wo nichts nach Tanzen und Spielen aussieht. Spielend im Sinne von schmerzlos geht das nicht. Spiel ist Widerstand. Immer wieder taucht ja diese Verbindung in Friederike Kretzens Büchern auf. Ich erinnere an Titel wie: «Übungen zu einem Aufstand» 2002 oder «Die Probe» 1991. Wir haben es alle oft genug am eigenen Leib erfahren: es ist «nur» eine Probe, sagt der Lehrer. Aber in der Endabrechnung zählt es dann doch.
Metaphern prägen die Sprache der Indienfahrer, die einst mit den Katzen in der ABC-Schule das Schreiben in den Schnee gelernt haben. Die «Schule der Indienfahrer» ist eine Schule der Poesie. Friederike Kretzens Sprache ist voller ansatzloser Übergänge von Schilderungen zu Reflexionen zu Parolen und zu lyrischen Bildern. Der Text ist buchstäblich ein Gewebe: aus Reportage, Dialog, Theater, Roman, Hymne, Märchen und Traktat. Die Sprache fliesst ganz leicht, dann plötzlich Stromschnellen, Wirbel, Walzen, und alles schiesst zusammen. Jede einzelne der insgesamt siebenundzwanzig Lektionen des Indien-Lehrgangs ist hologrammartig das ganze Pensum. Die beruhigende Trennung verschiedener Erzählpersektiven, von Vergangenheit und Zukunft, von Hier und Dort ist aufgelöst. Nach der Lektüre erwachen wir wie aus einem Traum. Gerade waren wir ganz woanders. Die Zeit wie ausgesetzt. Aber ihr Verschwinden macht das Gegenteil nur deutlicher. Die Zeit läuft. Und immer in die eine Richtung. Wenn am Ende ein Anfang stehen soll, den die Indienschüler suchen, so stand am Anfang auch schon das Ende. Was ihnen bevorsteht ist, was sie hinter sich haben.

Eine Indienfahrt ist eine Endlosschlaufe. Dennoch tritt Friederike Kretzens Buch nicht an Ort. Auch wenn es kein Entwicklungsroman ist, gibt es doch eine Entwicklung und zu einem Roman doch eine spannende, nahezu klassische Disposition. Eines Tages im Jahr 2014 ist genug geredet und Véronique und ihre närrische Truppe von Studienfreunden brechen tatsächlich nach Indien auf. Für Véronique ist es das zweite Mal und die Reise soll den wiederbringen, den sie nach ihrer ersten Indienreise 1976 an eben dieses Indien verloren hatte. Eine veritable «Mission» also: Verschollene suchen im Herz der Finsternis. Anders als bei Joseph Conrad aber werden sie nicht gefunden, und es endet auch nicht mit dem Tod, sondern in der Schweizer Botschaft von Delhi da, wo Indien angefangen hatte. Es endet mit der Vorführung der noch nicht verschwundenen Reste eines Films, den der Verschwundene im «Krofdorfer Forest» bei Giessen gedreht hatte. Er zeigt die Indienschüler vor vierzig Jahren: tanzende, gefallene Engel im Schnee. Der Film heisst: «Die Verschwundenen».
Die Lektion der Indienschule also lautet: Was fehlt, ist das, was bleibt. Manchmal hat es auch einen Namen. Für Véronique heisst es: Alexander, der Regisseur des Films. Friederike Kretzens Buch ist eine Liebesgeschichte, ein Liebesbrief an Alexander, den dieser nie abholen wird. post restante in Delhi.
Die «Schule der Indienfahrer» ist vorallem eine Schule der Liebe. Der Liebe und der Trauer. In die eine Richtung liest sich Friederike Kretzens Buch wie ein Manifest. In die andere aber wie eine Elegie. Eine spannende, eine ergreifende Mischung.
Samuel Moser