Eine Opiumraucherin
Einmal hatte ich eine Begegnung mit einer Opiumraucherin. Das war in einem Western, einem wilden und er spielte im Schnee. Solche Western werden Schneewestern genannt. Die Frau bekommt ihr Opium von den Chinesen. Die haben den Amerikanern die Eisenbahn gebaut. Männer im Wilden Westen sind Cowboys, Falschspieler, sie bauen Häuser, Fabriken, trinken, schiessen wie die Verrückten. Frauen sind Saloonfrauen, Bordellbetreiberinnen, manchmal auch Ehefrauen mit Kindern, später Witwen. Der Wilde Westen ist vielleicht so etwas wie die Traumsprache Amerikas, jedenfalls seines Westens. Jede Sprache, so sagt es der ungarische Psychoanalytiker Sándor Ferenczi, hat ihre Sprache des Traums. In ihr erzählt der Film die Geschichte von einem Mann, der kommt, einen Ort aufbaut, indem er Spielhöllen und ein Bordell einrichtet. Eines Tages kommt eine professionelle Bordellbetreiberin mit ihren Frauen in den Ort und die beiden verhandeln. Die Frauen bekommen ein ordentliches Haus mit Bad gebaut. Ihnen gelingt es, ein bisschen Zivilisiertheit in den Ort zu bringen und die Männer, so weit das geht, zu besänftigen und sogar ein bisschen auch zu lieben. Sie sind darin mindestens so professionell wie die Männer wild. Das ist vor allem dem Vermögen ihrer Chefin zuzuschreiben, eben der Opiumraucherin. Auch sie arbeitet in ihrem Gewerbe, allerdings zu einem um vieles höheren Preis. Der Gründer des Bordells würde sie gerne lieben, wäre da nur nicht all das Ungeschick des Lebens. Sie bleibt auf Distanz und trägt jeden verdienten Cent zum Chinesen. Dort legt sie sich mit ihrer Pfeife in einen langen Traum, treibt dahin wie Johnny Depp als wiedergekehrter William Blake auf den ewigen Gewässern der Indianer. Das geschieht in einem anderen Western. Er ist jener ‚Dead Man’, nach dem sich der Film von Jim Jarmusch nennt. Viele Jahre später nach dem Film von Robert Altmann ‚McCabe and Misses Miller’ gedreht. Die Bilder gleichen sich. Sie, gespielt von Julie Christie, ganz eingenommen in ihrem Opiumrausch, er, Johnny Depp, auf seiner letzten Fahrt im Kahn auf einem ruhigen, nebligen Gewässer treibend und schon fast tot. Beide in einem Western, also an der äussersten Grenze des Westens und am Rand einer Erfahrung zwischen Leben und Tod.
Zurück zum Schneewestern. Während die Frau in ihrem Rausch so dahingleitet, wird McCabe von den Auftragskillern der Bergwerksgesellschaft gejagt und schliesslich auch getötet. Er hockt am Rand des kleinen Orts unter Sträuchern verborgen, harrt dort aus, bis er auch den letzten der Killer getötet hat. Unablässig fällt auf diese Szene der Schnee. Wie wenn sein langsames Versinken in der Landschaft und Unkenntlichwerden im Schnee ihre Opiumreise in ein ungewisses Inneres begleiten würde. So dass die Beiden vielleicht doch noch zu einer gemeinsamen Erfahrung finden können.
Schnee evoziert den Raum des Irrtums, sagt Blanchot. So ein Schnee fällt in diesen Western, deckt ihn zu und macht ihn zugleich anders sichtbar. Dazu singt Leonard Cohen unablässig wie der Schnee von der Winterfrau, vom Fremden und der Fremde, und nie wird klar, wer wer ist und was das Andere der Fremde sein könnte. Vielleicht ist es das Lied von ihm. Auf seine Art die Traumsprache Amerikas sprechend, unberührbar fremd und gerade darin ungeheuer berührend.
Manchmal gibt es die Erfahrung, an ein Wort dieser Sprache des Traums zu grenzen. Das Wort Opium ist ein schöner Kahn für die ewigen Gewässer der Indianer in uns Westlern. Vielleicht hat jede Sprache nicht nur ihre Traumsprache, sondern auch ihre Indianersprache. Und um noch einen Schritt weiter zu gehen, sie hat vielleicht auch ihre Opiumsprache.
Opium ist ein Wort
Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück. Sagt Karl Kraus. Ist Opium denn ein Wort? Wie sollen wir es näher ansehen und wie sollte es fern zurücksehen? Heisst näher genauer? Und ferner fremder? Und heisst näher auch anders und ferner unwahrscheinlicher? Oder ist das schon die Wirkung des Opiums? Können wir es lesen, denken, schreiben, ohne ihm und seinen Wirkungen schon anheimgefalllen zu sein? Können wir Opium sagen, und nicht schon bis oben hin in der Geschichte verstrickt sein, die Opium heisst? Gibt es einen kleinen Raum der Distanz, in dem wir uns beim Wort Opium fragen können, was es ist oder sein soll, ob wir es kennen und was kennen bedeutet bei so etwas wie Opium? Das wäre dann Opium ohne Opium.
Es gibt Wörter, die brauchten hundert Jahre des langsamen, langsamen Anschauens, Schicht um Schicht, bis sie, was sie sagen, sagen können, ohne es sein zu müssen. Das war ja zunächst einmal die Errungenschaft des Worts, an der Stelle von etwas, das nicht Wort war, sagbar zu werden. Was Wörter wie Opium dabei gar nicht brauchen können, sind mehr als hundert Jahre Drogenpolitik, Kolonialismus, Imperialismus, Krieg, Schmerz und ein ihn immer nur bekämpfen wollender Umgang mit ihm.
Stimmt es, wie berichtet wird, dass Opium die Reise zurück erlaubt? Bis dahin, wo Tod und Geburt auseinander hervorgehen? Dass die Wirkung von Opium erlaubt, die widerständigsten, beängstigensten Schwellen, die wir in uns errichtet haben gegen solche Reisen in rückwärtige Gegenden, leicht wie von selbst zu nehmen? Dann wäre solch eine Opiumerfahrung gerade richtig, um uns dem Wort so zu nähern, dass es dabei ein bisschen unverständlicher, unbekannter, ja widerständiger werden könnte gegenüber all dem, was immer gleich mit ihm zusammen in uns angesprochen, aufgerufen, eingebunden und ausgeschlossen wird.
Sind die Märchen eine jahrhundertealte Arbeit an den Wünschen, dann sind die Geschichten, die sich um Opium drehen, die es zu fassen und zu lassen versuchen, eine jahrhundertealte Arbeit an den unzugänglichen Gegenden, die wir in uns haben, und die uns, ob wir wollen oder nicht, mit den Träumen vom Paradies, das verloren ist, aber vielleicht doch nur verborgen, durch die Zeiten hin verbinden.
Geben wir dem Wort Opium also, und geben wir uns eine Chance. Machen wir uns auf in ein Gebiet zwischen Ferne und Nähe, das es zu durchmessen gilt in unbekannte Richtung, und das nicht denkbar wird, wenn wir nicht bereit sind, uns auf jede Menge Schwierigkeiten einzulassen.
Schwierigkeiten
Es gibt Zusammenhänge, die nicht schwierig sind, uns aber so erscheinen. Den Satz: Ordnung ist das halbe Leben, kennen wir und finden ihn wahrscheinlich in Ordnung. Schwieriger wird es, wenn sich der gleiche Zusammenhang so formuliert: Keine Ordnung ohne Unordnung. Oder: Ordnung hätte oder wäre kein Mass, wenn sie nicht aus Unordnung bestünde. In diesen beiden Formulierungen äussert sich plötzlich zwischen Ordnung und Unordnung eine Unauflösbarkeit. Sie bleiben aufeinander verwiesen, ineinander enthalten, untrennbar, wenn auch unterscheidbar. Ordnung und Unordnung stehen eben nicht in Opposition zueinander, sondern gehören zusammen, wie Leben und Tod, das eine nicht ohne das andere. Von daher lässt sich Unordnung nicht durch Ordnung bekämpfen. Und Ordnung nicht durch Unordnung. Denn, hier kommt eine weitere Schwierigkeit ins Spiel, was wir zu bekämpfen versuchen, machen wir zugleich auch stärker, ja, wir bringen es dadurch mitunter allererst hervor. Ebenso geht es mit dem, was wir, um es los zu werden, auszuschliessen versuchen. Wir binden es damit nur umso fester an uns.
Im Leben, und so lange wir leben, verschwindet nichts, auch wenn es nicht mehr da ist. Freud sagt an einer Stelle in ‚Der Mann Moses’, wo er die Entstellung eines Textes mit dem Mord vergleicht: “Die Schwierigkeit liegt nicht in der Ausführung der Tat sondern in der Beseitigung ihrer Spuren.“ Das heisst, dass die Tat nicht verschwindet, nur weil sie kein Problem war. Und was, liesse sich hier anfügen, ist schon ein Mord, gemessen an dem, wie sich seine Spuren ausbreiten, vermehren, weiter vererben. Unabhängig von uns und unserem Willen.
Es gibt etwas Unlöschbares in allem, was wir tun. Unlöschbar im Raum und in der Zeit. Das sorgt dafür, dass die Vergangenheit niemals zu Ende ist. Das weiss Charlie Brown besser als so mancher Historiker. Linus fragt Charlie Brown: „Meinst Du nicht, dass wir uns um morgen gar nicht kümmern und uns aufs Heute konzentrieren sollten?“ Darauf Charlie Brown: „Das wäre Resignation. Ich arbeite immer noch daran, dass gestern besser wird.“ Denn nur so können wir uns um das Heute kümmern. Und da steht jetzt hier das Wort Opium und hat schon angefangen, fern zurückzuschauen.
Der graue Vogt
Eine schöne Figur für unlösbare Zusammenhänge, die nicht schwierig sind, nur sind sie nicht leicht zu ertragen, ist das bucklicht Männlein. Jene Gestalt aus dem Deutschen Kinderbuch von Georg Scherer, die uns Walter Benjamin aufs Genaueste zu verstehen gegeben hat: „Will ich in mein Küchlein gehen, / Will mein Süpplein kochen; / Steht ein bucklicht Männlein da, / Hat mein Töpflein brochen.“ Was, um Himmels Willen, macht dieses Wesen in unseren Küchen, Gärten, Kammern? Es grüsst vom Ungeschickten. Das hat ihm, so Walter Benjamin, seine Mutter verraten, wenn sie seinen Ungeschicktheiten mit den Worten begegnete: Ungeschickt lässt grüssen.
Das Ungeschickte ist zunächst einmal das, was nicht geschickt worden ist, das also dageblieben ist in seinem ganzen Unglück oder eben Ungeschick. Als Rest, als das, was keinem Austausch, keiner Korrespondenz zugänglich ist. Übrig geblieben, nicht weiter zu verbrauchen, störend, widerständig, vergessen. „Wen dieses Männlein ansieht, gibt nicht acht. Nicht auf sich selbst und auf das Männlein auch nicht.“ Das also ist sein Schicksal. Nicht nur macht es uns ungeschickt, es ist die Ungeschicktheit in Person. Selbst nicht blind, sieht es uns im Moment der Blindheit an. Es erinnert uns daran, dass wir, wenn wir blind sind, blind sind. Wenn wir achtlos sind, entgeht uns, was geschieht. Tautologisch ist das nicht, es hat vielmehr mit der Ausgesetztheit zu tun, in der wir leben, und die durch keine Achtsamkeit zu verhindern ist. Nichts anderes nennt man Schicksal. (Siehe die vielen Geschichten, die davon handeln, dass ein Mensch, im Bemühen, dem Tod davonzueilen, ihm nur umso unbedingter entgegengeht.)
Das bucklicht Männlein gemahnt uns an unsere Zerbrechlichkeit, die wir lieber nicht wahrhaben möchten. Auch wenn uns das nicht gelingt. Da steht es dann, macht deutlich, dass mindestens die Hälfte des Lebens aus Unbewusstheit, Unsichtbarkeit, Achtlosigkeit besteht. Also aus all dem, das uns hindert, Herr im eignen Haus sein zu können. Seine bucklige Weise uns zu erinnern, ist etwas anderes als das Erinnern, das zumindest in der Kunst zur Mode geworden ist. (Und das auf das Verschwinden der Zeit reagiert, indem es sie mit der ganzen Erinnerungskunst oder Künstlichkeit weiter zum Verschwinden bringt.) Es ist vielmehr jene Form des Erinnerns, aus der Prousts Suche nach der verlorenen Zeit besteht: Das unfreiwillige, das ungewollte Erinnern, das uns zustösst, und das durch keine Willensanstrengung hervorzurufen ist. Auch nicht wieder wegzuschicken. Es ist ein Erinnern, das nicht wir tun, vielmehr werden wir erinnert, unbedingt und ungeschickt. „Doch sonst tat er mir nichts, der graue Vogt, als von jedwedem Ding den Halbpart des Vergessens einzutreiben.“ Schreibt Benjamin. Sein bucklicht Männlein will Vergessen, macht Vergessen, es ist seine Aktivität. Es treibt nicht Erinnerung ein, sondern Vergessen. Denn dieses Vergessen ist die sicherste Form eines Gedächtnisses, das die Ungeschicktheit unserer erfahrenen Eindrücke aufbewahrt. Es ist ein Gedächtnis, das nichts begründet. Wie das Meer. „Es nehmet aber und giebt Gedächtniß die See.“ Sagt Hölderlin.
Benjamin kommt in seinem Nachdenken über dieses Wesen zu einer ungeheuren Überlegung. Ob vielleicht der Film, von dem es heisst, er liefe in rasendem Tempo und in umgekehrter Richtung vor den Augen des Sterbenden ab, aus jenen Bildern sich zusammenfügt, die das bucklicht Männlein von uns allen hat. Und dabei sagt es in seinen angemessen kleinen Worten: „Liebes Kindlein, ach ich bitt,/ Bet fürs bucklicht Männlein mit.“
Auf Englisch würde es das so sagen: Please make friends with the necessity of dying.
Das arme Herz
„Der Mensch hat in seinem armen Herzen/ Gegenden, die noch nicht existieren/ und wo der Schmerz eintritt/ damit es sie gibt.“ Das sagt Godard in seiner L’histoire du cinema.
Die Bewegung, um die es mir im Folgenden geht, hat mit diesem Eintreten oder Übergehen in ein Gebiet in uns zu tun, das so lange nicht existiert, bis der Schmerz eintritt. Vielleicht ist damit nicht nur gemeint, dass dieser Eintritt Schmerz bereitet, sondern, dass der Schmerz selbst es ist, der eintritt. Doch macht Schmerz auch Schmerzen, wenn durch sein Eintreten etwas zu leben beginnt, wo vorher nichts war? Oder ein leeres Herz, das wir gelernt haben, möglichst von Schmerz frei halten zu wollen. Warum eigentlich? Gehört der Schmerz nicht zu uns? Schmerz ist die Erfahrung des Unwillkürlichen, des Unverfügbaren, Ohnmächtigen. Er ist schmerzhaft, aber spricht das gegen ihn? Warnt er uns nicht? Markiert er nicht Grenzen, die zu überschreiten uns in Gefahr bringt?
Das Bild, das etwas in unser Herz eintritt, das schmerzt und damit beginnt etwas in diesem Herzen zu existieren, das es nicht gab, fordert die Frage heraus, wie kann es das? Wie kann etwas, das es nicht gab, da sein und damit es da ist, ist es ein Schmerz?
Ja, es geht hier um Gebiete, in denen die Kräfte wachen, die uns sehen machen, was es nicht gibt, die uns hören lassen, was nicht spricht, die darum aber kein bisschen weniger real sind als der Schmerz, der den Übergang bildet und uns wissen lässt, da ist was.
Schmerz als Erfahrung des Übergangs in unwegsames Gebiet anzunehmen, fällt uns schwer. Das hat mit unserer Kultur zu tun, die auf Schmerz mit jeder Menge Betäubungsangeboten reagiert. Schmerz scheint zu etwas geworden zu sein, das bekämpft werden muss, eine Art Feind.
So lange wir aber Menschen sind mit armen Herzen, haben wir diese Gegenden in uns, die so lange nicht existieren, wie wir nicht annehmen, dass es sie gibt. Dass ihre Entdeckung schmerzhaft ist, dass uns umhaut sie zu betreten, hat vielleicht mit der Schönheit zu tun, die es dabei zu entdecken gibt. Auch mit der Zerbrechlichkeit, von der wir uns plötzlich als unserem eigenen Leben berührt fühlen. Das ist der Schmerz, der eintritt, damit es diese Empfindsamkeit geben kann.
Schmerz würde sofort etwas anderes, wenn wir ihn als unseren treuen Begleiter, Wächter über die bekannten und unbekannten Gegenden in uns ansehen könnten. Dass wir ihn zu beruhigen versuchen werden, ist kein Widerspruch. Vielmehr geht es um das Verhältnis, das wir mit uns als schmerzerfüllten Wesen haben können. Denn der Schmerz, der in uns eintritt, wenn wir uns auf die Suche machen, ist schon dagewesen. Wir leben nicht allein, wir sind Erben, und wie alle Erben traurig. Die Gegenden, die wir in uns haben, liegen in der Zeit. Sie haben Zeit in sich, die nicht vergeht, die aber auch immer wieder noch nicht da ist.
Die hier nicht hingehörenden Hippies
Ich möchte diesen Text allen ehemaligen Hippies widmen, auch wenn sie nicht zaubern konnten. Sie waren auch keine Opiumesser. Haben also hier gar nichts verloren. Rauchten ihr eher dumpfes Haschisch, schwarzes, braunes, rotes, bis sie selbst zu einer Art dieser gefiederten Pflanze geworden sind. Oder sie spritzten sich Heroin in die Adern unter freiem Himmel in der Wüste. Später dann in schmutzigen, armseligen Absteigen, wo sie bald starben und nie mehr zurückkehrten. Sie waren blutjung und suchten etwas. Sie reisten gen Osten und fanden nur den Westen, von dem sie weg wollten, und der sie so hoffnungslos mit sich allein in ihrer Sehnsucht sterben liess. Ob sie nun in Afghanistan, in Indien, im Goldenen Dreieck oder in Recklinghausen waren.
Interessant an ihnen sind die Suche, der Aufbruch, die Sehnsucht und das Scheitern. Sie waren das mit grosser Wucht aufgebrochene Heimweh. Ihre Sucht, also das, was sie heimsuchte, war, heimgesucht werden zu wollen. Nach Hause kommen zu wollen, anstelle in die Gebiete weiter vorzudringen, die nur die inneren sein können; fremd, anders, weder zuhause noch unbehaust.
Dennoch, in den Hippies kehrte etwas wieder, was immer wieder zum Verschwinden gebracht wird. Das ist ihre erstaunliche Spur, in der sie als Erben einer alten Geschichte vom verschwundenen Paradies auftreten. Doch wie das Paradies, das, damit es existiert, verschwunden sein muss, suchen?
Hinten herum, hat Kleist gesagt. Also nicht Richtung Westen, sondern dem Osten zu. Für viele Jahrtausende war das Paradies der Westen – Ithaka, Amerika. Die Hippies haben die Kleist’sche Umkehrung gemacht, die Reise hinten herum zu versuchen, dem Morgen, dem Licht entgegen. Dort, wo Mohn und Gedächtnis wachsen, Wange an Wange sozusagen. Das eine nicht ohne das andere, – und was hindert uns eigentlich daran, den Mohn als Gedächtnis anzusehen? Als Gedächtnis von jenen Gegenden des Vergessens, in die der Schmerz eintritt, damit sie existieren. Gegenden aufgehobener Ungeschicktheit, die uns den Zugang zu dem Land gewähren, das uns das nächste und das fernste zugleich ist und wo die wirklichen Abenteuer zu bestehen sind. Jenes Land in uns, Ort ohne Ort, ungeschickt und da.
Etwas an den Hippies bleibt uneinnehmbar, widersteht den Erklärungen. Was hat sie in so grossen Mengen dazu gebracht, ihrer unbestimmten und darin vielleicht äusserst bestimmten Sehnsucht zu folgen? Welche Energie hat sich in ihnen in einen bestimmten Moment der Geschichte Bahn brechen können?
Es muss eine ähnliche gewesen sein wie die, mit der Büchner seinen Danton sagen lässt: „Das leiseste Zucken des Schmerzes, und rege es sich nur in einem Atom, macht einen Riss in der Schöpfung von oben bis unten.“ Mit welcher Unbedingtheit wird hier der Zusammenhang der Schöpfung formuliert, die alte Idee einer Gleichheit alles Existierenden, die nichts ausschliesst. Auch und gerade den Schmerz nicht. Der ist hier ein kosmischer, kein individueller, schuldhafter, wie unserer. Dieser Schmerz macht Risse. Die gehen durch alles durch. Sie wirken, sie zerreissen. Das ist der Schmerz, getrennt von seinem Wort, das ihn immer weniger zu sagen vermag.
Der Schmerz unserer Zeit ist ein betäubter. Erstickt in seiner geschäftigen, eifrigen Sagbarkeit, die längst ein Zwang geworden ist. Der Riss des Schmerzes, der Riss, der durch uns alle geht, ist auch eine Öffnung. Und Sprache ist noch immer, unreduzierbar, Existenz. Sie sagt Sein und Nichtsein, indem sie nicht aufhört, etwas anderes zu sein; dazwischen und von beiden nicht eins. Da ist die Ferne, die auch eine Nähe ist. Eine Ferne, die uns vom Tod trennt und von dem, was tot ist. Zugleich gibt es diese Ferne nur, weil sich in ihr die Nähe des Todes aufhält, ganz unmittelbar, und uns von ihm trennt und bewirkt, dass wir nicht tot sind, wenn wir fern sind und dass wir, wenn wir an Tote denken, nicht tot sein müssen.
Opium ist eine Droge des Schmerzes. Sie überwindet den Schmerz nicht, sondern erlaubt, in ihn hinabzusteigen, in jenen dunklen, unwegsamen Bereich in uns, ins Herz der Finsternis, in dem ein anderes Licht nicht aufgehört zu leuchten, – das Wachen der Kräfte eines anderen Gedächtnis.
Literatur
- Karl Kraus, Die Fackel 8. Juli 1911 Wien
- Sigmund Freud, Der Mann Moses, Frankfurt a.M. 1979
- Friedrich Hölderlin, Andenken
- Jean-Luc Godard, Histoire(s) du cinéma, München 1999
- Walter Benjamin, Gesammelt Schriften, Bd.IV,1 Frankfurt a.M. 1991
- Charles Schulz, The Peanuts
Erschienen im Ausstellungskatalog „Opium“, Museum der Kulturen Basel, 2015