Nein, der Aufbruch darf noch nicht vorbei sein / WOZ

Ein Text wie ein traumartiges Gespinst. Friederike Kretzen erinnert sich in ihrem neusten Roman an die kreative Identitätssuche in den frühen achtziger Jahren. Den aufgeladenen Sommer 82 verwebt sie mit der Vergangenheit von 68 und der Gegenwart.

Im August 2009 hörte Friederike Kretzen am Radio „Gedenksendungen“ zum 40. Jahrestag des legendären Woodstock-Festivals. Darin wurde vom Grossereignis der Hippies erzählt, als wäre es der Schlusspunkt einer Bewegung gewesen, die sich damit endgültig erledigt hätte.

Gegen diese Art von Gedenken und Begraben regte sich in der Autorin Widerstand. Zwar war sie zur Zeit von Woodstock, 1969, erst dreizehn Jahre alt gewesen, aber ihre Jugend war geprägt von den Aufbrüchen der sechziger Jahre. Zum Beispiel wäre der wichtige Sommer 1982, so wie sie ihn erlebte, ohne Woodstock, ohne Janis Joplin und Jimi Hendrix, ohne das Nachdenken über die Veränderung der Gesellschaft, ohne die verräucherten Diskussionsabende mit den trotzkistischen GenossInnen nicht möglich gewesen.

Friederike Kretzen, die in Basel lebende Autorin, debütierte 1989 mit dem Roman „Die Souffleuse“ und publizierte zuletzt die Romane „Ãœbungen zu einem Aufstand“ (2002) und „Weisses Album“ (2007). Ihren neuen Roman „Natascha, Véronique und Paul“ widmet sie dem Sommer 1982.

Ein Brief an Wim Wenders

Den Namen Véronique wählt Kretzen für sich selbst, denn eine „schöne, feingliedrige Französin mit dunklen Augen“, die an der ­Sorbonne Philosophie studiert, wäre sie damals gerne gewesen. Von Frankreich träumten viele junge Theaterleute, die sich in Köln an ihren ersten Inszenierungen versuchten – Kretzen selbst ist in Leverkusen bei Köln geboren und war lange Zeit als Dramaturgin in verschiedenen Theatern tätig. Natascha wiederum suchte sich Edward Bonds Stück „Die See“ aus, Paul war Regieassis­tent bei einem shakespeareschen „Som­mer­nachts­traum“, überwarf sich aber mit dem Regisseur, und Véronique selbst war als Dramaturgin bei der Abschlussinszenierung der Kölner Schauspielschule dabei.

Das „Monster“ von einem Drama, das sie einstudieren, handelt von Wanderschauspieler­Innen im Hochland Brasiliens, die der Landbevölkerung ein Stück über den Viehtreiber „Speckhut“ vorspielen, der aus Eifersucht seine schöne Frau umgebracht hat. Theater im Theater ist also angesagt. Das bringt nicht nur auf­regende Verfremdungseffekte mit sich, es gibt den angehenden SchauspielerInnen auch die Möglichkeit, sich in der südamerikanischen Truppe zu spiegeln: „Die meisten der Schauspielschüler kamen aus armen Verhältnissen, und sie suchten nach einer Form, wie von dieser Armut zu handeln und zu spielen sein könnte im Theater. Da kam ihnen Südamerika entgegen“, heisst es an einer Stelle. Und weiter: „Die Bücher und Stücke, die sie von da hatten und lasen und verschlangen, handelten alle von Armut und wie in Armut zu leben war und gelebt wurde. Doch war da auch immer die Idee, durchzubrechen auf etwas hin, was uns ebenso durchdrang und grundlos begeisterte. Etwas, was weder Realität noch arm war. Sondern das Thea­ter, das realistische Theater des Imaginären, das wir in diesem Sommer, wenn auch nur in unseren Köpfen – was kein schlechter Ort dafür war –, machten, dachte ich, und ich fühlte mich für einen Moment ganz französisch.“

Darüber hinaus ist ganz Köln für die Schau­spiel­stu­dent­In­nen eine Bühne in jenem heissen Sommer 1982 – ein imaginärer Raum, in dem sie ihre Rollen als junge KünstlerInnen spielen. Noch wichtiger als die Theaterproben aber sind für Véronique die Abende mit Natascha und Paul. In Nataschas Küche, bei den ewigen Spaghetti mit „Knoblauchsahnesosse“, wird alles nochmals reflektiert, die Theaterarbeit, die Ästhetik und das Leben überhaupt, das ja vielleicht auch ein Traum ist.

Schon in diesem Sommer 1982 beginnen sich die jungen Leute gegen das Begraben der lebendigen Bewegung zur Wehr zu setzen. Deswegen können sie sich nicht abfinden mit Wim Wenders’ Kultfilm „Der Stand der Dinge“. Darin wird ebenfalls der kreative Akt gespiegelt: Ein Regisseur versucht, einen Film zu drehen, und ist offensichtlich zum Scheitern verurteilt. Aber warum wird er zum Ende erschossen? Ein Mord als Schlusspunkt, welch einfältige Dramaturgie, finden die drei JungkünstlerInnen und schreiben einen Brief an den Meister: „Lieber Wim Wenders, nichts gegen den Tod am Ende der Filme, aber alles gegen den Tod als Folge ­einer unabschliessbaren Geschichte.“

Licht in Vollmondnächten

Muss eine Geschichte immer nach dem gleichen Raster erzählt werden? Anfang, Entwicklung, Verwicklung, Höhepunkt und Ende? Und wenn sich kein logischer Schlusspunkt aus der Geschichte ergibt, muss dann unbedingt getötet werden?

Es ist nur logisch, dass Friederike Kretzen ihren Kampf um die Lebendigkeit und ums Weiterwirken der eigenen Vergangenheit nicht auf diese Weise erzählen will. In ihrem Buch sind die Zeitebenen von 1982 – mit Rückblenden auch in die Kindheit – und die Gegenwart der Schreibenden locker verwoben. Der Text wirkt oft wie ein traum­artiges Gespinst, in dem Gedanken und Stimmungen flirren wie das Licht in sommerlichen Vollmondnächten. Das macht die Lektüre zwar nicht immer ganz einfach, aber wenn man sich dar­in vertieft, gerät man in einen beinahe meditativen Zustand, und man kann sich sehr gut in jenen heissen Sommer versetzen, der noch von der Nachkriegszeit geprägt ist mit Brachflächen mitten in der City – und mit vielen jungen Menschen, die nach dem radikalen Bruch der Geschichte durch den Zweiten Weltkrieg auf der Suche nach neuen Identitäten sind.

Vierzig Jahre nach Woodstock resümiert Friederike Kretzen rückblickend: „Angst zu sterben hatten wir nicht. Nur wollten wir nicht als die, die schon damals etwas wollten, was es gar nicht gab, was sie sich irgendwie eingebildet hatten, beschrieben werden.“ Denn Woodstock bedeutete auch für diese Generation eine neue, wachere Zeit.

Eva Pfister