Laudatio Barbara Schibli GEDOK Literaturförderpreis

Verehrte Preisträgerin, liebe Barbara, sehr geehrte Jury, meine Damen und Herren

Es ist mir eine grosse Freude, das soeben erschienene Buch von Barbara Schibli – seine stille Kunst, geheime Wucht, seine Hoffnung – hier würdigen zu dürfen. Die Freude ist eine besondere, weil wir uns seit langem persönlich kennen und freundlich zugetan sind.

Vor vielen Jahren kam Babara Schibli als junge Studentin zu mir in die Schreibarbeit an der ETH Zürich und blieb eine Weile, in der ich Bruchstücke des nun vorliegenden Buchs, – einige seiner Keimzellen – kennenlernen konnte.

Wie immer bei der Arbeit mit Texten, die noch nicht fertig sind, die sich gerade erst auf den Weg gemacht haben, ist es jedes Mal wieder eine Freude und ein Staunen, wenn etwas auftaucht, das spürbar die Kraft hat, nur die Spitze eines Eisbergs zu sein. So erinnere ich mich noch gut an das Auftauchen von Postkarten am Kühlschrank, an die plötzlich anwesende Schwester, an Anrufe oder waren auch das Postkarten? des Vaters, an eine kaum merkliche Mutter, von der Verstörung herkam.

Mit dem Auftauchen solcher Spitzen an der Textoberfläche, öffnet sich auch, gewollt oder nicht, die Tiefe einer unermesslichen Geschichte, und diese Tiefe, die zieht. Sodann hebt für die Schreibende ein anderer Tauchgang an, beginnt die Arbeit daran, was sich gezeigt hat, nicht mehr loszulassen, ihm zu folgen, sich ihm zu überlassen, sich seiner noch unsichtbaren Ausmasse und Konturen zu nähern, sie zu vermessen, – und – so vorsichtig wie möglich, sie zu übersetzen in das Medium der Schrift, des Berichts, der Erzählung.

Was ich von Barbara Schibli, als sie schon lange nicht mehr in mein Seminar kam, erfahren habe, war ihr unbedingter Wille, ihr Weitermachen, ihr Dranbleiben. Also auch ihre Geduld, ohne die kein literarisches Werk möglich wäre. Eine Geduld, mit der wir Schreibenden uns einerseits immer wieder in den Abgrund der Sprachlosigkeit stürzen müssen und andererseits nichts anderes tun können, als zu erwarten, dass sich eine Wendung, ein Wort, ein Satz, ein anderer Rhythmus unter den Schreibhänden bilden wird.

Kafka: „Es gibt zwei menschliche Hauptsünden, aus welchen sich alle andern ableiten: Ungeduld und Lässigkeit. Wegen der Ungeduld sind sie aus dem Paradiese vertrieben worden, wegen der Lässigkeit kehren sie nicht zurück. Vielleicht aber gibt es nur eine Hauptsünde: die Ungeduld. Wegen der Ungeduld sind sie vertrieben worden, wegen der Ungeduld kehren sie nicht zurück.“

FLECHTEN ist ein subtiles Buch, das aus einer langen Taucharbeit entstanden ist. Es liest sich leicht, nimmt uns mit, beeindruckt durch die Gemessenheit seiner Form. Doch Achtung, es erzählt von einer sehr grundsätzlichen Arbeit am Grund, den es hervor- und zur Sprache bringt. Eine Arbeit, die Strenge, Treue und Mut verlangt, ohne die keine Verborgenheit so zu heben wäre, dass sich nichts von ihrem Geheimnis verliert.

Etwas ist in diesem Buch geborgen, das auszusprechen jede Bergung zunichte machen würde. Vielleicht liesse sich das am ehesten als ein Schweigen bezeichnen, von dem Ilse Aichinger sagt, dass es „Das Ergebnis des genauesten, stillsten Hinhörens, das Ergebnis des Schreibens, das Schreiben selbst“ sei.

Ich erinnere mich auch, Barbara Schibli irgendwann das Buch von Christoph Hein, sein erstes und härtestes, ans Herz gelegt zu haben: Drachenblut. Etwas an ihren Texten liess mich an dieses Buch denken. Nun, wo uns die Ergebnisse ihrer Forschungsreise vorliegen, die weniger den Flechten als ihrer Anzahl – immer eine zu wenig – gilt, die den Verflechtungen folgt, gegen die allerdings kein Kraut gewachsen ist, deren Gültigkeit aber unablässig geleugnet wird, kommen wir mit einer Geschichte in Berührung, die sich in Drachenblut gewälzt hat. Und das ist auch die Geschichte davon, dass keine Schutzhaut ohne empfindliche Stelle wäre, dass kein Schutz möglich ist, der nicht zugleich schutzloser macht. Was sich gefährlich aufführt, ist im gleichen Mass, wie es Feuer speit, gefährdet.

Wir kennen so viele Bilder von Georgs Lanze, die dem Tier in den nicht mehr feuerspeienden Rachen gestossen wird, dem vor Schmerz und Entsetzen weit zum Schrei aufgerissenen Maul.

Wer seinen Schrei, den stummen, hören kann, der wird ihn auch in diesem Buch hören. Hinter seinen Bildern, unter den Oberflächen der erzählten Geschehen. Schliesslich geht es in ihm um die Beziehung von Bild und Tat, von Spur und Löschung. Also um: „Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern Die Frau mit der Überdosis AUF DEN LIPPEN SCHNEE Die Frau mit dem Kopf im Gasherd.“ Wie Heiner Müller den Schauspieler – oder soll ich sagen Zwilling – Lessings in ‚Lessing Schlaf Traum Schrei’ sagen lässt.

Die Geschichte von Anna, der Ich-Erzählerin des Buchs, der Forschungsreisenden, die Geschichte jener Anna, die nicht erwartet wurde, für die bei der Geburt ein weiterer Name fehlte, die seit der Trennung vom Vater von ihrer Zwillingsschwester unablässig fotografiert wird, zur Ansicht gebracht in der Deckung der anderen, – diese Geschichte ist eine der Drachen. Wie alle Drachengeschichten eine, für die der Tod keine Lösung ist. Jedenfalls ist es bisher keinem Drachentöter gelungen, nicht selber zum Drachen zu werden.

Annas Onkel ist womöglich so einer, jedenfalls heisst er Georg, Schutzpatron der Kreuzritter und Krieger, Bruder des verlorenen Vaters, dem er aus unausgesprochenen Gründen verpflichtet ist. So dass er die beiden Mädchen, Anna und ihre Zwillingsschwester Leta, als sie zum Studium aus Graubünden in die Stadt ziehen, bei sich in Zürich aufnimmt. Und wie von langer Hand vorbereitet, bilden sie das bekannte Dreieck von Drache, Georg und zuschauender Prinzessin am Rand der Szene. Die sich genau einprägt, was ihr bevorsteht, sollte sie es wagen, nicht still zu gehorchen. Doch wer ist Täter? Wer Opfer? Sind da die unheimlichen drei Stränge, die es zum Flechten braucht? Um wieder den alten Zopf zu flechten? Die alte grausame Geschichte, dass wenn zwei sich lieben, ein Drittes sterben muss?

Ist das überhaupt die Geschichte der Zwillingsschwestern, nicht eher die des Vaters, das Geheimnis seiner Homosexualität, von der einen Schwester gegen die andere durch eine geschenkte Kamera ausgespielt, vergiftetes Geschenk des Vaters, Gebot des distanzierenden Blicks, der immer der Kontrollblick des Vaters bleiben wird, dem keine der Schwestern entgeht: wehe du sagst was.

Die Geschichte der Mutter im Zimmer ihrer Mutter, die sich mit 87 Jahren erhängt. Die nie gereist war, und den Kindern von ihren Reisen in der Welt, in den Gegenden der Flechten erzählte, die eine Kämpferin, die aufständisch war, und nie sich bewegen konnte. Ihre Tochter, Mutter der Zwillingsmädchen, schiffbrüchig in der neuen Welt, aussichtslos der Kampf um den Mann, die sich in eine andere Verlorenheit begibt, der mit nichts zu begegnen ist, nur scheinbar geborgen in einem Mutterhaus in Bevers, in dem die Grossmutter der alte, unerfüllte Wunsch nach einem aufständischen Leben umtreibt, bis sie aufgibt.

In diesen Verfehlungen, schambesetzten Geschehen trennen, verstossen und verfolgen sich die Zwillingsschwestern, sucht die eine ihr Bild in der anderen, verbirgt sich, verschwindet und herrscht als Blick des chimärischen Vaters, dem selbst er nicht entkommt.

Während Onkel Georg und seine Zwillingsnichten die Szene des Drachentötens nachspielen, ist die Geschichte einer ganz anderen Dunkelheit unablässig präsent und nicht auszusprechen.

Es ist das Schweizer Herz der Finsternis, das da schlägt mit seiner Sprachlosigkeit der Frauen, dicht unter der Haut der Berge, und das macht, dass wer etwas zu sagen wagt, sterben muss. Jedenfalls wirkt es sich für die in diesem Buch so gefährdend aus, dass das Drachentöterspiel dagegen zum Kinderspiel wird.

Die besondere Kunst dieses Buchs besteht darin, nicht zu urteilen, die Türen offen stehen zu lassen, den Blick tief in die Nähe zu versenken, – wie es sich für eine Flechtenforscherin gehört – und die Ferne im Blick auf eine nahe Oberfläche zu suchen, bis diese sich öffnet.

Es ist ein Wahnsinn, der sich hier leicht, leise vor uns abzeichnet, der Wahnsinn einer so traurigen, schuldigen Geschichte, in der alle unschuldig sind. Es gelingt Barbara Schibli beinahe beiläufig, von all dem Verborgenen, um das es in diesem Buch geht, von all den Gewaltverhältnissen, die sich darin aufhalten, so zu erzählen, dass diese in ihrer Notwendigkeit, in ihrer ganzen unglücklichen Unschuld deutlich werden können. Nur so ist es möglich, all dem zu begegnen, was so lange, so bedrückend die zusammen gebunden hat, um die es im Buch geht.

Nachdem ich kurz vor dem Schlafengehen die ersten dreissig Seiten des Buchs gelesen hatte, wachte ich am nächsten Morgen mit dem Satz im Kopf auf: „Es war Mord.“ Der Satz hörte sich merkwürdig vertraut an. War ich über Nacht etwa zur Mörderin geworden? Zur Zeugin einer ungeheuren Tat? Nein, der Text hatte ihn mir über Nacht zurückgerufen, diesen letzten Satz aus Bachmanns Malina, dem dieses Buch antwortet. Den es fortsetzt und nicht den Mut verliert, durch die Wände zu gehen.

Enden möchte ich mit dem Foto von zwei sechsjährigen Mädchen, weisse Haut, weisses Haar, mit Augen, die auch weiss sind. Zwei soeben aus Amerika gekommene Mädchen aus dem Weltraum. Wie die beiden, Anna und Leta, die Unzertrennlichen, die in sich ein Verhältnis des Weltraums, des Kommens von Irgendwoher und nicht Wissens Wohin tragen. In diesen offenen Weltraum führt uns dieses Buch, auf den hin öffnet es sich.

Der Weltraum als ein Verhältnis zu uns selbst, das es zu wagen gilt als eine Art Verdopplung, eine Art Zwillingsverhältnis zu zwei weisshaarigen Mädchen, damit es sie gegeben haben wird, unbeschrieben, anfänglich.

16.9.17 Karlsruhe