Im Schlafsaal der Geschichte, Andrea Köhler, 24.4.07, NZZ

Was ist das? Ein surreales Kopfkissenbuch, ein spätmodernes Familienalbum, das Traumbild einer Epoche? So viel steht fest: Friederike Kretzens neues Buch erzählt keine Geschichte von A nach Z. „Weisses Album“ hat die Basler Autorin ihren siebten Roman genannt. Es ist ein Rätselbuch, das uns wie Hänsel und Gretel ins Hexenhaus der Geschichte lockt, in den langen Schlaf der Vernunft. In diesem Wald voller Finster- und Fährnisse sollen wir uns verirren. Ein Märchenbuch von der unpädagogischen Sorte. Hier werden Albträume dick gefüttert, hier liegen drei Töchter im hundertjährigen Schlaf. Friederike Kretzens „Album“ über die Nachkriegszeit und ihre deutschen Provinzen ist ein Roman über das allnächtliche Stillhalteabkommen mit der Zeit. Das liest man nicht in einem Zug. Aber in einem Sog, der uns tief in die Seiten zieht, hinab, hinein, unter die Oberfläche der Welt.

„Drei Schwestern“ in Leverkusen „Wir sind wieder da“ heisst der erste Satz. „Wir schlafen und träumen und was uns träumt, darüber sprechen wir.“ Das ist die Regieanweisung. Das Personal: drei Kindheitsfreundinnen aus Leverkusen. Elschen, Gitti und Hannah. Irgendwo in der Mitte von Deutschland haben sie sich nach vielen Jahren wieder getroffen und eine Nacht durchgeredet, wie damals in den siebziger Jahren, als sie jung waren, auf der Bühne die „Drei Schwestern“ von Tschechow und im Leben Revolution spielten, besser: einen Geliebten hatten, der sich selber für einen Revolutionär hielt. Einen Trotzkisten, „mächtig und ungepflegt“. Das war die Zeit, als man in sogenannten Politzirkeln Marx und Lenin las und dabei vom grossen
Aufbruch träumte. Als man raus wollte aus der komatösen Nachkriegszeit, weg von den verschwiegenen Toten, die in den Nachtmahren weiterflüsterten. Raus aus Leverkusen, „nach Moskau“, wie Tschechows Schwestern, irgendwohin in eine sagenhafte Zukunft, die nun, in der Erzählzeit, in der Vergangenheit liegt.

Gitti, Hannah und Elschen. Geboren Mitte der fünfziger Jahre, „gestorben 11 Jahre nach dem Krieg“. Als Tote zur Welt gekommen, mit dem verschwiegenen Krieg im Kopf und im Herzen. Da sind sie noch immer: all die Orte, wo sie nicht hinschauen durften, die Dinge, die sie nicht
sehen, die Sachen, die sie nicht sagen durften. Keine Zwiesprache mit den Geschichten vor ihnen. Eine Generation, die auf das Erlösungswort wartete, auf den Ruf des Kindes: „Aber der Kaiser ist ja nackt.“ Gitti, Hannah, Elschen lebten in einem anderen Märchen: Schneewittchen, Dornröschen, gefangen in einem hundertjährigen Schlaf. Aufgewacht, aber noch in jener Halbtrance verfangen, die uns auf der Schwelle zum Tag die hellsten Visionen gibt, erzählen die drei ihr Leben. Heben Erinnerungen, die deutlich sind wie nur die Dinge im Traum. „Wir sind wieder da“, sagen sie wie im Kasperltheater und führen noch einmal das Stück auf, das wir das Leben nennen. Da „steht der Engel des Lebens, schlägt uns auf den Mund, und alles was wir wissen, fällt uns aus dem Kopf. Wir schreien, atmen, japsen, jetzt hat das Stück begonnen, und die Geschichte ist vom Vergessen her neu zu erzählen. Ohne Anfang, ohne Ende.“ Wo also beginnen?

Vielleicht bei der heiligen Ursula. Auf einem Bilderzyklus des grossen Malers Vittore Carpaccio liegt sie im Bett und hört, was ein Engel ihr in den Schlaf diktiert. Liegt dort, eine Hand am Ohr, und lauscht, während sie schläft und das Licht von zwei Seiten ins Bild einfällt. „Das Licht im Gesicht der Schlafenden, die Quaste am Kissen mit ihrer rätselhaft getrennten Inschrift“, gestickt mit doppeltem Kreuzstich. IN-FAN-NTIA. „Die dreimal getrennte Kindheit“. So kreuzt Friederike Kretzen die Rätselschriften der Kindheit mit Szenen, Bildern, Legenden und spinnt sie weiter bis in die Gegenwart. Und ist uns nicht allen in unserer Kindheit etwas in den Schlaf diktiert worden, von dem wir nichts wissen? Verkündet von fernen Boten und Bildern, beleuchtet vom Anfang und Ende her?

„Wir spiegeln uns in einem andern Leben“, sagt Gitti. Denn sie sind in den Sätzen anderer gross geworden. In Sätzen wie Prothesen. Vielleicht sieht er so aus, der viel beschworene „Roman einer Generation“, die der Soziologe Reinhard Mohr einmal als „Zaungäste“ beschrieben hat. Zu spät gekommen für den grossen Aufbruch, zu früh für das flott-melancholische Lebensgefühl der „Generation Golf“, sind sie irgendwo dazwischen älter geworden, mit der Traurigkeit ihrer Eltern, der Wut der grossen Geschwister im Rücken. Sind durch die Gegend gefahren: Griechenland, Frankreich, Indien, und doch immer nur bei sich selbst angekommen. Nun sind sie wieder da. „Back from the USSR“ – wie ein Song der Beatles heisst, deren „Weisses Album“ dem Roman seinen Titel gab.

Und dann sind da die, die nicht raus wollten. Wir kennen sie aus Friederike Kretzens früheren Büchern, aus „Indiander“, aus „Ich bin ein Hügel“ oder „Proben für einen Aufstand“. Denn dies ist nicht nur ein Buch über die Kindheit, sondern auch eins über die deutsche Provinz. Ãœber Polka im Gemeindezentrum, die Bayer- Werke und die Landesgartenschau, die Stehcafés in der Fussgängerzone. Da sind die Tanten, „Beine wie Baumstämme“, da sind die „Schlafmänner“, die arbeitenden Logiergäste. Tagsüber Bayer, nachts die Arbeitskraft regenerieren. Betäubt, liegen geblieben „im grossen Schlafsaal der Geschichte“.

So geht alles weiter. Da sind die Mütter, die ihre Wünsche den Töchtern vererbten, die einmal alles anders machen sollten als sie. Während die Töchter sich nun über diesen stummen Auftrag beugen. Wie Elschen, die den Mutterwunsch von der Künstlertochter nicht erfüllt, sondern seziert, – als Analytikerin, die anderen in die Träume folgt und fremde Erbschaften therapiert. Dabei geht es nicht um Psychologie. Es geht um den Knochenbau der Erfahrungen, um die Haut der Worte, die Fühler der Sprache. Da ist Hannah, in deren Umriss man unschwer das Halbprofil der Autorin erkennen kann. Sie hat die Aufgabe, alles aufzuschreiben, „voranzuschreiben“, bis sie irgendwann einmal ankommt in einer Gegenwart, die ihre eigene sein könnte.

Entstellte Ähnlichkeit

Friederike Kretzen liebt es, die Sprache wörtlich zu nehmen und Redewendungen umzukehren wie einen Handschuh. So entsteht jene poetische Verdichtung, die dem Traum eigen ist und die Walter Benjamin so treffend „entstellte Ähnlichkeit“ nennt. Wie im Traum Menschen und Dinge die Züge
von diesem und jenem annehmen und Zeiten und Orte sich mischen, so erzählen Gitti, Elschen und Hannah von der Gegenwart hinter den sieben Bergen der Zeit. Und wo, wenn nicht dorthin wollte man mit der Literatur gelangen: in jene geheimen Winkel, in denen die Sprache eine traumwandlerische Evidenz gewinnt.

Und wir reiben uns die Augen. War da was? Und möchten von vorne anfangen. Ohne Anfang, ohne Ende.

Andrea Köhler