Heimweh des Gestrichenen – Gestrichenes Heimweh

1.
Liesse sich mit dem Gestrichenen anfangen? Wie? Wäre das ein gestrichener Anfang? Oder ein Anfang, der jede Anfänglichkeit streicht?

Was würde es für unsere Fragestellung heissen, wenn Gestrichenes und Nicht-Gestrichenes zunächst und als Anfang in eins fielen? Wenn sie sozusagen aus dem selben Bett gestiegen wären, das dann weder im einen noch im anderen mehr auftauchte?

Das gemeinsame Bett von Gestrichenem und Ungestrichenem wäre ein guter Anfang. Die Frage ist nur, wie kann die Sprache darauf kommen? Also auf das, was weder zu streichen, noch nicht zu streichen ist, auf das Unstreichbare der Sprache selbst. Ihm ist nicht mit Ja, nicht mit Nein, nicht mit Sprache und ohne Sprache auch nicht zu begegnen.
Das Unstreichbare steht vielleicht an jedem Anfang, nur können wir mit ihm nicht anfangen, es ist ja schon da. Ungestrichen und klar.

Nehmen wir zum Beispiel folgenden ersten Satz, wir kennen ihn alle: Ein Gespenst geht um in Europa.
Das ist weder eine Streichung, noch auch keine. Es ist ein Gespenst, sonst nichts. Ein Gespenst, das es nicht gibt und doch geht es umher. Quer zu den Streichungen aller Welt und Teil eines Systems von Streichungen, das wir vielleicht im weitesten Sinne Dichtung nennen könnten. Dichtung, die aus Streichungen hervorgeht, die auf andere Streichungen reagieren im Bemühen um das geteilte, das teilbare Wort.
Und so möchte ich meine Ausführungen hier verstanden wissen, es sind Bemühungen, mit dem Gespenst, das umgeht, zu sprechen, mit dem Gespenst oder mit dem, was in keiner Opposition aufgeht, was überhaupt nicht aufgeht, sondern was aufgegeben ist in der Sprache. Aufgegeben und noch nicht angekommen. Immer wieder noch nicht angekommen.

2.
Kunst, so heisst es bei Emily Dickinson, ist ein heimgesuchtes Haus. Ein heimgesuchtes Haus, ist ein Haus, in dem es spukt. ‚Es spukt’. Nicht nur ein deutsches Wort, vor allem auch ein deutsches Verb. Freud, in seinem Text über das Unheimliche, erachtet es als „… vielleicht stärkstes Beispiel von Unheimlichkeit..“ Und unheimlich, so sagt er mit Schelling sei „..Alles, was im Geheimnis, im Verborgenen … bleiben sollte und hervorgetreten ist.“
Sprache ist so verborgen wie sie offen steht, so heimlich wie sie unheimlich ist. Sie geht durch uns durch und hört nicht auf uns. Sie war vor uns da und wird nach uns sein. Und wenn nichts mehr bleibt, bleibt noch immer die Unmöglichkeit der Sprache ‚Ende’ zu sagen. All das macht in der konkreten Arbeit des Schreibens Gegenstand und Erfahrung von Unstreichbarem aus. Das sich manchmal, unverhofft, in Momenten, in denen mich ein Wort ergreift, berühren lässt. Nicht als Wort berühren, aber durch das Wort, das mich ergreift und mich dermassen nach aussen wendet, etwas Anderem, Allgemeinerem zu.

Sich heimsuchen zu lassen von Wörtern, von in Wörtern hausenden Zuständen des Sagbaren und des Unsagbaren, des Gestrichenen wie des Ãœbriggelassenen, ist für mich Methode. Eine Methode, die es mir erlaubt, schreibend dem zu begegnen, was da ist, sich ausspricht, was offen liegt, gleich unter der Lampe, wo ja bekanntlich der dunkelste und verborgenste Ort ist. Es ist auch eine Methode, so etwas wie Wirklichkeit als einem Wirkenden zu begegnen. Ihm zu begegnen, das heisst, es zu suchen, es mich suchen zu lassen, mit ihm das Gespräch zu suchen, zu ihm zu sprechen, mit diesem anderen Wirklichen, dem anderen in mir. Das ist das Aufgeben des Schreibens im Schreiben. Und dieses Aufgeben können wir, so lange wir lebendig bleiben wollen, nicht aufhören.
Wenn Rimbaud sagt: „Ich ist ein anderer“, so formuliert er darin die Hoffnung der Dichtung, anders und anderes sein zu können.

Doch wenn Ich kein anderer mehr sein kann – und was, ausser der Sprache, kann uns dieses anderen vergewissern – dann, – ich formuliere es hier mal salopp, Allah help you, Baby. ( So stand es 1976 auf einem Schild an der iranischen Grenze zu Afghanistan zu lesen, auf dem die Reisenden aufgefordert wurden, alles, was sie an Rauschgift bei sich haben könnten, abzugeben, sonst würden sie durchsucht von den Iranischen Grenzbeamten und wenn die nichts finden würden, dann würden es die Afghanischen Grenzwächter finden and then, Allah help you Baby!)

3.
Ein so wirkliches wie wirkendes Wort war für mich als Kind das Wort Heimweh. Kaum hatte ich es in den Mund genommen, frass es mich schon auf. Mit Haut und Haar. Mitten am Tag, auf dem Hof eines Ferienheims, unter Kindern beim Spiel, also mitten im Leben, und schon aus ihm herausgerissen oder vielmehr, in etwas hinein gerissen, das nur schwer mit dem Leben in Verbindung zu bringen war. Heimgesucht in ein Unheim, das sich als Heimweh immer schon im Heim befunden haben musste.

So kam es, dass ich mich hütete, an das Wort Heimweh überhaupt nur zu denken. Denn wenn es erst einmal auf der Zunge lag, war schon kein Entkommen mehr. Anders als mit anderen Wörtern, die mir oft halfen, was mir zu nah kam, durch Nennung bannen zu können, es aus mir heraus sprechen zu können, verhielt es sich mit dem Wort Heimweh. Es kam für jede Bannung immer schon zu spät. Oder jede Bannung kam für das Wort zu spät. Sobald es Wort geworden war, hatte es mich sowohl von innen wie auch von aussen zugleich angefallen und hielt nicht nur mich fest, sondern auch sich in mir. Als fürchtete sich das Wort, schien es bei mir Gesellschaft zu suchen. Vielleicht wollte es mit mir sprechen, doch es fehlten ihm, wie mir, die Worte. Vielleicht wollte es, dass ich das Wort an es richtete, wollte womöglich etwas erwidert bekommen. Doch hatte ich ihm etwas genommen? Schuldete ich ihm was? All diese Fragen und Wahrnehmungen überstürzten mich und bildeten die Erfahrung einer Heimsuchung, die sich aus dem Wort Heimweh ergab, das mich suchte wie es mich zugleich auch suchen machte. Im Heimweh sucht uns etwas, was schon da ist, das aber, um da sein zu können, erst wiederkommen muss. Diesmal als Heimsuchung.

Die Erfahrung, von etwas, was ich sage, – und ob ich es nun ausspreche oder nicht – heimgesucht zu werden, indem es das Wort ist, das mich sucht, das mich durchdringt vor jeder willentlichen Wahl, das mich durchdringt vor allem, – diese grundlegende Erfahrung von etwas, das mir, obwohl ich es kenne oder gerade weil ich es kenne, entzogen bleibt, und doch gehöre ich ihm an, bildet für mich eine Art Verpflichtung, der ich in meinem Schreiben nachzukommen versuche. Eine Verpflichtung, aus der sich für mich die Verbindlichkeiten dessen, was zu sagen, was zu erzählen bleibt, – was also noch nicht da ist, noch nicht oder schon wieder nicht – ergeben.

4.
Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg –so zehn, fünfzehn Jahre danach – wimmelte es um mich herum nur so von Vertriebenen und Kriegsheimkehrern. Unter ihnen wuchs ich auf, zwischen ihnen erfuhr ich, dass alle, die mich umgaben, solche waren. Selbst meine Mutter und meine Tanten waren Kriegsheimkehrer, und auch wir Kinder zählten uns ihnen zugehörig. Kriegsheimkehrer waren zunächst weg gewesen, dann heimgekehrt. All die, die nicht heimgekehrt waren, hatten sie dort, wo sie weggewesen waren, im Krieg also, zurückgelassen. Zusammen mit ihrer Jugend, ihren Hoffnungen, ihren Vorstellungen vom Leben und mit Teilen ihrer Körper. Alles, was mit ihnen nicht mehr zurückgekehrt war, was dort geblieben war, machte das Heimweh der Kriegsheimkehrer aus. Als wäre der Krieg nun ihr Heim geworden, dessen Abwesenheit sie mit Heimweh erfüllte. Mit dem Heimweh der Toten und der Lebenden gleichermassen, einem Heimweh, das allen Daheimgebliebenen und denen, die erst noch und zur Gründung eines eigenen Heims auf die Welt gekommen waren, ein immer wehes Heim spüren liessen. Und wenn mich das Heimweh heimsuchte, waren sie es oder ich fürchtete, dass sie es wären, die mich suchten. Und ich wusste, dass die Heimgekehrten mir nicht versichern können würden, dass dem nicht so wäre.

Sie also, die es nicht mehr geschafft hatten, die eben nicht mehr aus dem Krieg heimgekehrt waren, die Toten und Verschollenen, kehrten als Heimweh der Lebenden zurück, wohnten als das Unheimliche unserer Heime mitten unter uns. Das Wort Heimweh schien sie aufzurufen, in uns einzutreten, denn waren sie nicht ein Teil von uns? Doch es verhielt sich auch umgekehrt, sie waren schon da und riefen uns in ein Unheim, das die Heimsuchung selbst war.
Jede Heimsuchung ist ein Wiederkommen von etwas, was schon da ist, von etwas, das nach Gesellschaft sucht, nach einer Sprache, die es erlaubte, sich mit ihm – und mit ihm in uns – ins Vernehmen zu setzen.

5.
Die schwierigsten, ich meine die gefährlichsten Streichungen sind die, die nicht als solche zu sehen sind. Das sind die Streichungen, in denen Malina in Bachmanns Roman zum Verschwinden gebracht wird; die Wand der Sprache schliesst sich nahtlos darüber. Das sind die gefährlichen Streichungen, die uns dazu anhalten, was wir sagen, doppelt zu sagen. Einmal als sagbar und ein anderes Mal als das, was nicht zu sagen ist.

Doch ob sichtbar oder unsichtbar, jede Streichung hinterlässt Spuren. Freud vergleicht im Mann Moses Textfälschungen mit Morden. Und wie beim Mord, so ist auch bei der Textfälschung nicht die Tat das Problem, sondern die Tilgung der Spuren.
Streichungen sind also Morde und auch die schaffen zunächst Platz. An der Stelle des Ermordeten fehlt dann der Lebende und hat einem Ermordeten Platz geschaffen. Insofern liesse sich sagen, Streichungen schaffen nichts aus der Welt. Im Gegenteil, sie schaffen Platz, sind Aufschübe, an denen sich der Text auf sein noch ausstehendes Anderes öffnet. Ob er will oder nicht. Und das ist die Einzugsstelle der Gespenster. In diesem Sinne liessen sich Streichungen auch als unangekommene Texte beschreiben. Als Texte, die schon einmal da waren, dann aber zum Verschwinden gebracht wurden und so sich etwas aussetzen, das gar nicht anders kann, als sich, als uns heimzusuchen.

6.
Die Erfahrung, heimgesucht zu werden, ist die Erfahrung, in etwas hineingeboren – und hineingeborgen – zu werden, über das wir nicht verfügen. Die Unverfügbarkeit von Zeit und Raum durchdringt die Sprache wie diese uns. Wir haben noch nie die Sprache gesehen. So, wie wir auch noch nie die Wirklichkeit gesehen haben. Sprache durchdringt uns, bindet uns in unsere Zeit, die nicht diese, die gegenwärtige Zeit ist, sondern stets auch eine, die wir erben und die ruhelos und unverortet wie sie ist, aus der Zukunft zu kommen droht.

Wenn ich sage, es gibt keine Streichung, so in dem Sinne, dass es keinen sicheren Ort in der Sprache gibt, dass ihre Bedeutungen stets mehrfach und immer in Bezügen gegeben sind. Streichungen können nicht aufheben, was in Sprache aufgegeben ist. Sie sind kein Vergessen, aber auch kein Erinnern. Was sie entsorgen, besorgen sie auch. Sprache erlaubt keine Heimkehr, es sei denn in der Erfahrung von Unangekommenheit.

Denn Sprache ist eine Art Gemeinschaftsraum. Was ich hier streiche, ist an anderer Stelle zu viel. Was sich hier nicht fügt, ist anders gelesen die Fügung. Aus Sprache ist einfach nicht herauszukommen, sie ist sozusagen bevölkert von Streichungen, die uns anfallen als Heimweh, als Spuk, als Heimsuchung. Emily Dickinsons Haus der Kunst, das ein heimgesuchtes ist und ein Haus der Heimsuchung, weist uns eine schöne Perspektive der Gastfreundschaft und der Gemeinschaft von Gestrichenem und Geschriebenem als unstreichbarem Haus der Kunst, in dem es spukt und wir gehen hin.

Friederike Kretzen, Basel 30.8.09