Böhmische Briefe

Mein erster Freund hiess Franz. Er war auch meine erste grosse Liebe. Ich war gerade sechzehn, er schon bald zwanzig und wir beide noch auf der Schule. Es war Ende Herbst in einer schmutzigen deutschen Industriestadt, in der sich ein paar junge Menschen aufgemacht hatten, eine andere Gesellschaft zu erfinden. Sie hatten einen Traum. In dieser Zeit schien er ihnen ganz nah, was auch die Stadt veränderte; sie leuchtete. Die Eiscafés rund um die Gymnasien in der Stadt – es gab noch solche für Mädchen und solche für Jungen – waren die Versammlungsorte für die, die nah waren und träumten. Von ihnen ging ein Licht aus, das summte. Gewiss, Licht macht Töne, wie Bienen, die aus Sonne und Flug Honig machen.

Die Eiscafés hiessen Monti und Adria. An zierlichen geschwungenen Tischen sassen dort die schönsten und klügsten jungen Männer, die es in der Stadt gab. Sie tranken aus italienischen Espressotassen unaufhörlich Kaffee und rauchten wie die Irren. Mit ihnen war es fast wie in Paris und nichts schien uns wünschenswerter, wenn wir uns als kleine Delegation junger Frauen mittags nach der Schule in Bewegung setzten, und das Adria oder Monti mit seiner leichten Fracht aufsuchten.

 

Es waren die frühen siebziger Jahre, wir waren furchtlos, und wenn wir schon nicht auf dem Kopf gehen konnten, wollten wir zumindest alles auf den Kopf stellen. Der Mai 68 war vorbei. Er war verraucht. Das machte uns erfahrener, wir ahnten etwas vom eigenen Scheitern. Umso intensiver brannten in unserem Himmel die „Laternen des Unmöglichen“, wie das der französische Dichter Maurice Blanchot nennt. Höher als Sterne trugen wir sie mit uns. In ihrem Glanz konnten wir erkennen, dass es etwas anderes gab als die Schule, die schmutzige kleine Industriestadt am Rhein, die Eltern, denen, nach allem, was sie erlebt hatten, nicht über den Weg zu trauen war, die ganze grässliche deutsche Geschichte.
Franz war einer von diesen hellen Köpfen. Ich konnte ihn schon von weitem durch das grosse Fenster des Adria erkennen, mit den Händen in der Luft gestikulierend, rauchend. Oft stand er auf, um seinen Worten Nachdruck zu geben wie ein Redner. Wenn er mal nichts sagte, biss er auf den Strähnen seiner roten Locken herum. Die Freunde nannte ihn Abriss der Psychoanalyse Band eins bis fünf. Dabei war er erklärter Trotzkist.

Das erste Mal sprach ich mit ihm auf einer holländischen Insel. Ich war dort mit einer Freundin zelten, unsere erste Reise ohne Eltern. Er betreute eine Jugendgruppe. Die Insel war klein und wir trafen uns bei einem Ausflug, den er mit seiner Gruppe in den nächst grösseren Ort machte. Wir begrüssten uns, sprachen von den Holländern, wie anders sie waren, Seefahrer, Schlittschuhfahrer, sprachen von den Teppichen, die auf den Tischen der Cafés lagen. Beim Abschied sagten wir, ahoi und auf ein andermal.

Zurück in der kleinen schmutzigen Industriestadt, die Schule hatte schon längst wieder angefangen, sass ich dann eines Nachmittags im Adria. Das war um diese Zeit am Tag fast leer. Die Jukebox, die neben der Theke unter der Garderobe stand, spielte Janis Joplin „Ball and Chain“. Ich wusste nicht, wer das Lied gedrückt hatte. Vielleicht war es Herr Andreotti, dem das Adria gehörte. Meistens sass er auf einem Hocker hinter der Theke und lächelte wie eine Sphinx. Das Lied beunruhigte mich, ich hatte das Gefühl, es nicht auszuhalten, versuchte aber, mich zu konzentrieren, denn ich sass über einem Gedicht von Ingeborg Bachmann, zu dem ich für den nächsten Tag eine Interpretation zu schreiben hatte. Es war ein Gedicht von der Liebe, wie ich dachte. Von Grenzen und wie es ist, an etwas zu grenzen. Beispielsweise an Wörter zu grenzen wie an ein Meer. Es handelte auch von Böhmen, das am Meer liegt, zugrunde gegangen und unverloren. Während ich am grossen Fenster zur Strasse sass, durch das die Sonne in flachen Strahlen schien und den Raum mit einem Licht aus vielen Blautönen mit einzelnen rötlichen Punkten erfüllte, wurde ich von diesem Lied durcheinander gewirbelt. Ich stellte mir vor, am Ufer der Wörter zu liegen, die sich vor mir im Gedicht ausbreiteten und sehr schnell atmeten, wie Janis Joplin, die gar nicht mehr aufhören konnte zu singen oder zu atmen, das war bei ihr eins. An welches Meer grenzte sie? War sie da? Alter Ozean? „Kommt her, ihr Böhmen alle, Seefahrer, Hafenhuren und Schiffe/ unverankert. Wollt ihr nicht böhmisch sein, Illyrer, Veroneser,/und Venezianer alle. Spielt die Komödien, die lachen machen/Und die zum Weinen sind. Und irrt euch hundertmal,/wie ich mich irrte und Proben nicht bestand, doch hab ich sie bestanden, ein ums andere Mal.“ Da sah ich Franz, wie er hinter der gegenüberliegenden Häuserecke auftauchte, die Strasse überquerte und schon betrat er das Adria. Er setzte sich zu mir an den Tisch, wollte wissen, was ich las, und in dem Moment hörte Janis Joplin auf zu singen. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, zu versinken. Schneller als der letzte Ton des Lieds, doch dann sagte ich: Ein Gedicht über die Liebe.

Franz überflog es mit seinen grossen Augen. Er lachte.

Es geht nicht über die Liebe, sagte er.

Was denn, sagte ich.

Böhmische Dörfer, sagte er.

Das sagt meine Mutter immer, wenn sie nicht versteht, wovon ich rede, sagte ich.

Wie du, wie das Gedicht, das ja vielleicht auch nicht versteht, sagte er. Schreib das. Vom Nichtverstehen und Zugrundegehen, davon, zum Meer zu werden.

Du meinst auch von mère, auch von meiner, sagte ich?

Davon, wo alles herkommt und hingeht und von wo es wiederkommt, sagte er.

Das Meer, sagte ich, das alles mitnimmt und zugrunde richtet? Er schaute mich an. Flüsterte dann: Sie ist wiedergefunden. Was? Die Ewigkeit. Es ist das Meer, kommt und geht mit der Sonne. Arthur Rimbaud.

Gut, sagte ich, und die Grenzen?

Wittgenstein, sagte er, den Kopf nun leicht gesenkt. Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt. Er rührte in seiner Kaffeetasse.

Die ist leer, sagte ich.

Stimmt.

Wir schauten am Fenster hinaus, wir sprachen nicht mehr.

Auch das ist Wittgenstein, sagte er nach einer Weile, berührte mich leicht am Arm.

Hough, sagte ich, der Mann hat gesprochen. Wir mussten lachen. Dann war er wieder weg.
Bald darauf schrieb ich ihm einen Brief, wie wir uns in dieser Zeit alle Briefe schrieben. Jeden Tag und viele. Die Wenigsten von uns hatten ein Telefon. Wenn wir uns verabreden wollten, schickten wir schnell eine Postkarte. Wir waren das Abschicken und Warten und Antworten und wieder Losschicken von Briefen gewohnt. Wir lebten in einem korrespondierenden Netz von Sendungen, Erwartungen, Anrufen, alles auf Papier gebannt und losgeschickt durch eine ungewisse Zone, von der wir uns alle möglichen Wendungen erhofften. Anders kann ich mir die Aufregung und Lust nicht erklären, die mit dem Briefeschreiben verbunden war. Kaum war die Anrede geschrieben, schon hatte ich das Gefühl, eine andere geworden zu sein. Und die schrieb nun: Lieber Franz, das waren schöne Sätze, die du mir gesagt hast. Ich kannte sie nicht und habe sie mitgenommen auf meine Reise nach Böhmen. Ich suche das Meer. Wenn ich es gefunden habe, schreibe ich dir wieder.

Zwei Tage später bekam ich eine Ansichtskarte von ihm. Vorne drauf war ein Holländer in seiner Tracht mit Holzschuhen und einem geringeltem Hemd zu sehen. Seine Schrift rannte über die Karte bis an die Ränder, wo sie sich staute. Klein, gedrungen, schoben sich die Bögen der Buchstaben ineinander und ich konnte sie so gut wie nicht entziffern. Er hatte eine Sauklaue. Mühsam las ich: Meine Liebe, der Herr mit den Holzschuhen ist ein Holländer, vielleicht sogar ein fliegender, er heisst Franz und grüsst aus grosser Ferne. Schreiben kann er nicht und setzt darum bloss sein Zeichen X X X.

Gleich setzte ich mich hin und schrieb: Bitte schreib schöner. Noch bin ich nicht am Meer. Woraufhin er mir einen Brief schickte. Den konnte ich noch viel weniger lesen als die Karte. Die wenigen Wörter, die ich schliesslich lesen konnte, waren seine drei X X X und: Deine Schrift sieht aus wie das Meer, bist du schon auf die andere Seite übergesetzt? Bitte schreib deutlicher. Ich kann dich fast nicht lesen. Denn auch ich war bekannt für meine schwer zu lesende Schrift. Irgendwann zwischen zwölf und dreizehn war sie zu mir gekommen und hatte mich seither nicht mehr verlassen. Es war eine wütende, sich tarnende Schrift. Vor allem die Lehrer litten. Wahrscheinlich war es meine Rache an ihnen. Und nun schickten Franz und ich einander Briefe, in denen wir uns baten, leserlicher zu schreiben. Was nicht half. Alle Versuche, mir wieder eine andere Schrift anzugewöhnen, verliefen nach den ersten schön geschriebenen Zeilen nach unten. Dann stürzten die Wörter über ihre eigenen Beine in die Leere des Blatts, wo sie nicht untergingen, nur ausfransten, und sich schliesslich wie Wellen legten. Von weitem sah das schön aus, war nur unlesbar. Schon als Kind hatte ich Briefe in einfacher Wellenschrift geschrieben. An meine Grossmutter, an den Krieg, an den toten Hasen, den meine Grossmutter nach einem Bombenangriff, als sie auf freiem Feld unterwegs war und nachdem sie aus ihrer Ohnmacht erwacht war, in ihren Armen gefunden hatte. Mit diesen Briefen wollte ich ihr sagen, dass sie lebte und kein Hase war. Auch dem Hasen schrieb ich. Auch er sollte wissen, dass er tot war und nicht etwa anstelle meiner Grossmutter weiterlebte. Damals gab es noch Gespenster. Ihre Anwesenheit, auch wenn es sie nicht gab, war mir vorstellbar. Sie lebten zwischen den Wellen der Schrift, mit der ich der Grossmutter und dem toten Hasen schrieb. Das änderte sich erst, als ich das richtige Schreiben lernte. Das mit den Buchstaben. Plötzlich waren sie weg. Oder ich hatte sie nicht mehr so leicht bei der Hand. Dazu kam nun die Liebe, die noch keine war, aber dabei, uns zuzuwachsen. Franz und ich schrieben uns weiter Briefe. Wir waren hilflos. Wir schrieben drauf los und dachten, unsere Hände seien unsere Hände. Was war es, was sich uns zu lesen gab in unseren unentzifferbaren Briefen, wohin schrieben wir einander unsere Unlesbarkeit?

Nun war es schon bald Winter geworden. Schnee war noch keiner gefallen. Wir trafen uns wieder im Adria. So geht es nicht weiter, sagten wir. Wir schwiegen. Schauten auf die Strasse hinaus, wo die Menschen in Wintermänteln mit Pelzbesatz herumliefen. Die Kinder trugen Mützen und Stiefelchen. Gut, sagte Franz, wir lesen sie uns vor. Jeder die eigenen Briefe. Er sah blass aus. Gut, sagte da auch ich, jeder dem anderen die eigenen Briefe.
Es gab in der Stadt ein Lokal mit Jazzmusik, Live-Konzerten und dem Namen Topos. Ein enger dunkler Raum, in dem sich eine Art psychedelische Marslandschaft aus roten Bänken und Tischen, die wie Pilze geformt waren, ausbreitete. An den Wänden hingen Monitore, auf denen Andy Warhols langsame Filme flimmerten. In der Mitte des Lokals, hinter einer Säule, stand ein niedriger Gasofen. Auf dem hockten wir, Schulter an Schulter eng nebeneinander, jeder die Briefe des anderen in der Hand. Unsicher, schüchtern zögerten wir den Moment hinaus, sie dem anderen zurückzugeben. Wie wenn wir fürchteten, sie so für immer zu verlieren. Wir wollten sie aber haben, unbedingt, je unlesbarer sie waren, umso mehr. Dafür aber brauchten wir den anderen, dass er sie uns vorlas. Seine eigenen. Die doch davon lebten, dass sie vom anderen gelesen wurden, weit weg von dem, der sie geschrieben hatte.

Wir sagten, wir machen die Augen zu, und geben sie uns über Kreuz. Unsere Hände fühlten sich für einen Moment ununterscheidbar. Dann öffneten wir wieder die Augen. Das Licht war düster hinter der Säule, wo wir sassen, der Gasofen unter uns angenehm warm. Franz fing an. Er las seinen ersten Brief an mich. Ich neigte den Kopf ihm zu, mein Ohr nah an seinen Lippen und wusste bald nicht mehr, ob es mich gab.

Wem waren seine Zeilen über das Wetter, das Meer und ein Buch über das Nichts, das er gelesen hatte, zugeeignet. Sollte ich das gewesen sein? Wann, in welchem Leben? Jetzt du, sagte er und ich las meinen Brief an ihn vom Wetter, von der Schule, vom Licht und wie es draussen dunkel wird. Dicht an seinem Ohr, den Haaren. Die Musik war laut. Wir hockten da wie Schauspieler eines Stücks, das wir verfasst hatten, aber etwas war geschehen und nun konnten wir es nicht mehr erkennen. Waren wir die, denen unsere Briefe galten? An wen hatten wir sie geschrieben? Konnte das er, konnte ich das gewesen sein? Die hier beieinander sassen? Manchmal schauten wir, wenn wir im Lesen innehielten, auf die Bilder, die über die Monitore flackerten, unscharf, wackelig, mit viel Zeit aufgenommene Einstellungen des Empire State Building. Dann hörten wir uns, wieder weiter vorlesend, zu uns sprechen als den anderen der Briefe und doch denen, die hier sassen an einem unsagbaren Ort, plötzlich selbst wie Briefe geworden; geschrieben, abgeschickt, und nicht angekommen. Wo waren wir?

Auf unheimliche Weise waren wir zusammen dorthin geraten, wo der andere nicht ist, wo er abwesend ist, und wo das Schreiben, auch das der Briefe beginnt. Wie wenn wir, anstelle zur Liebe zu kommen, zum Schreiben, seiner Einsamkeit und Ausschliesslichkeit gekommen wären. Da wir das aber an diesem Ort gemeinsam taten, unsere Unlesbarkeiten voreinander ausbreiteten, geschah nun das, was Böhmen ans Meer grenzen lässt: Dort, wo der andere nicht ist, wo er durch nichts ersetzbar ist, durch keine Anrufung, keine Briefsendung, wird er zugleich auch allererst möglich.

Wir waren zugrunde gegangen in unseren Briefen und tauchten hier auf dem Gasofen sitzend wieder auf. Unverloren und von Grund auf. Und während wir uns noch an unseren Zeilen festhielten, ihnen entlang uns bewegten und lasen, regten sich unsere Schwingen, die Federn, wie sie über das Blatt geglitten waren als wir schrieben, ich denk an dich, ich hab dir nichts zu sagen als dieses „nichts“.

Bald war ein Rauschen zwischen den Zeilen wie ein sanfter Wind, mischte sich zwischen unsere Stimmen. Wir schauten uns nicht an, lauschten nur, lauschten nicht, lasen nur, fanden uns tief versunken am Faden der Schrift, aufgehoben vom Zug der Federn, die Schwingen erhoben sich zum Flug.

Erschienen in: „Landolt-Arbenz“ – Schreiben 14/15