Basel bei Woodstock | NZZ vom 31.5.12

Friederike Kretzens Roman „Natascha, Véronique und Paul“

Der neue Roman Friederike Kretzens beginnt wie mit einem Dreisprung, nur ohne Anlauf. Fast schon etwas salopp eröffnet er das Feld, auf dem er spielen wird: „Da war eine Frau. Véronique. Die war ich.“ Die Einheit von Ich und Geschichte, die das Erzählen in der ersten Person suggeriert, wird gleich auseinanderdividiert. An allen Ecken und Enden lässt Friederike Kretzen die übereinander getragenen Röcke ihrer Protagonistin hervorschauen. Deckung, im doppelten Wortsinn, gibt es nicht. Schon der nächste Satz deutet an, weshalb: „Und da waren ein Sommer und eine Zeit, und die war ich auch, zusammen mit ein paar anderen, übrig geblieben nach den grossen Kriegen.“

Der Grund ist die Zeit, von der Friederike Kretzen erzählt. Vielleicht die Zeit überhaupt. Sie hat das Ich durcheinandergebracht, aufgelöst, verwandelt. Es war eine Zeit gemeinsamer Projekte und Utopien. Aber auch eine Zeit der Unklarheit, Unsicherheit und einer Verlorenheit, wie sie nur im Hitzeflimmern heisser Sommernachmittage sich auftun kann. Diese Zeit entfaltet immer noch ihre Macht in Friederike Kretzens Buch, das Epos und Bildungsroman in einem ist. Nur dass es nichts Vergangenheit werden lässt, wenn es darüber erzählt.
Expeditionen in die eigene Geschichte

Es geht in „Natascha, Véronique und Paul“ um Titel, wie der eines französischen Films, weniger um Handlungen und Dinge als um ihre Darsteller und Darstellungen. Um Bilder, innere und äussere. Bilder des täglichen Gebrauchs und Bilder der Kunst. Das Buch lässt sich auch lesen als subjektive Archäologie des Films und der Musik der sechziger und siebziger Jahre des, lange schon vergangenen 20. Jahrhunderts. Der Name und die Figur „Véronique“ kommen aus Godards Film „La Chinoise“ (1967), der dem Roman eine politische und ästhetische Wahlheimat gibt. Dabei ist Véronique Deutsche und heisst Heimweh: Véronique Heimweh. Ihr Heimweh ist die Kehrseite ihres Fernwehs.

In ihrem mittlerweile achten Roman umfasst die 1956 geborene Friederike Kretzen erstmals die ganze Zeitspanne ihres bisherigen Lebens. Vom Schreibtisch aus, der seit 1983 in Basel steht, startet sie ihre Expeditionen in die Zeit an der Schauspielschule in Köln, in die Studien- und Schuljahre und schliesslich in die Kindheit, die sie zum grossen Teil bei der Grossmutter in Leverkusen verbrachte. In Abständen kehrt sie an den Schreibtisch wie in ein Basislager zurück, um sich ihres Auftrags zu vergewissern, der sie eines Tages, eines Sommertages wiederum, erreicht. Paul, einer der Kölner Freunde, fragt nach dem Verbleib jenes Buches, das „Véronique“ über die gemeinsame Zeit im Sommer 1982 hätte schreiben sollen. Pauls Telefonat fällt zusammen mit dem vierzigsten Jahrestag des Woodstock-Festivals und ruft im Véronique-Ich ein archaisches Bild moderner Bukolik wach, das um die Welt gegangen ist: das junge Hippie-Paar in der noch kühlen Morgensonne, umschlungen in schweren Schlafdecken, wie auferstanden.

Die Geschichte des Kölner Sommers 1982 findet in Friederike Kretzens Buch bis heute, bis zu dem Tag, an dem es nun endlich geschrieben wird, kein Ende, weil sie schon damals die Geschichte eines ewigen Sommers war. 1982 war zwar irgendein Sommer, aber für die jungen Schauspieler der Sommer aller Sommer. Eine Metapher und ein Fanal wie Woodstock, dieses ausgedehnte Azorenhoch, als dessen „Ausläufer“ Véronique Heimweh und ihre Freunde sich bezeichnen. 1969 waren sie dafür noch zu jung gewesen. Véronique erinnert sich an das stramme Jugendlager damals im Taunus und das adrette Sommerkleidchen, das sie als Dreizehnjährige trug, „auf dem Segelschiffe um mich herum segelten und eine schwere Last geladen hatten“.

Véronique Heimweh ist in der Schauspielertruppe die Dramaturgin. Deshalb fällt der Auftrag, ein Buch zu schreiben, an sie. Als Dramaturgin sitzt sie gleichzeitig neben und auf der Bühne. Ästhetik und Analytik miteinander zu verbinden, ist ihr Beruf. Das Durcheinander von Spiel und Wirklichkeit jedoch bildet einen Sog, der auch sie mit sich reisst. Die Freunde, die sich Abend für Abend in Nataschas Küche treffen, sind ein flatterhaftes Trüppchen mit Geistern im Rücken und Engeln vor Augen, den Vögeln draussen verwandt. Da wird debattiert und spekuliert, politisiert und eskapiert. Da wird geträumt von Indianern an der „Biegung der Sprache“, Kanus auf dem deutschen Rhein. In Metaphern entfaltet die Phantasie ihre Macht. Im Fokus der Debatten lodert immer wieder Wim Wenders‘ in diesem Sommer in die Kinos gekommener Film „Stand der Dinge“ auf. Auch darin geht es um die Geschichte einer Geschichte, die kein Ende findet, ausser mit dem Tod des Darstellers. Den aus dramaturgischer Not geborenen Kunsttrick wollen die angehenden Künstler jedoch um keinen Preis für ihre eigene Geschichte akzeptieren. Sie wollen leben, weiterleben. Eine einfache Antwort auf die Frage, wie man eine Geschichte beendet und wie man Abschied nimmt von einem Sommer, einem Leben, wollen sie nicht geben.

Die Kölner Küche ist in der Erzählkonstruktion das Echo einer Szene, die man als ästhetischen Kern des Romans bezeichnen kann, vielleicht als Wiege der Autorin selber. Sie spielt in der Küche der Grossmutter. Wenn die aus anderen Romanen Kretzens bekannten „Schlafmänner“ an der Arbeit sind, die Mutter am Putzen und die Grossmutter auf dem Ohr, steigt die Enkelin auf einen Schemel, holt sich eine Teigwarenpackung vom Schrank, der aussieht, „als wollte er in See stechen“, und schaut durch eine Makkaroni wie durch ein Fernrohr. Nicht in den Himmel und nicht in die Weite der See geht Friederike Kretzens Blick, sondern in die unmittelbare Nähe. So entsteht das verwandelnde Denken, das konkrete Träumen ihres Erzählens.

Fragen bleiben
Der Roman hat einen zweiten Teil, ein Satyrspiel. Nach der Aufführung eines mexikanischen Banditenstückes mit dem skurrilen Titel „Speckhut“, das die Studenten als Abschlussarbeit präsentieren, fliegen Natascha, Véronique und Paul über den grossen Teich, die finale Eskapade. Nach Woodstock soll die Reise gehen. Kurz vor dem legendären Ort streikt das angemietete Auto. Die drei werden nicht in Woodstock gewesen sein, nur auf der Wiese nebenan. Aber wo war Woodstock? Was war es, was wird es sein? Es sind Fragen, die bleiben, nicht eine Geschichte.

Ist der Sommer nun zu Ende und der Roman „Natascha, Véronique und Paul“ das Buch, das die drei damals schon hätten lesen wollen? Ja, sagt Friederike Kretzen im Epilog. Aber zu Ende ist der Sommer damit nicht. Denn das Buch ist, „was wir tun konnten, um am Ende der Geschichte und damit sie ein Ende fände, nicht gestorben zu sein“. Als alte Metapherntrotzkistin meint Véronique: „La lotta continua“! Und versteht darunter: „Der Zirkus zieht weiter.“

Samuel Moser