Vom Anlachen der Besinnung | WOZ vom 13.10.11

Es soll Gegenden geben, die der Mensch im Herzen trägt, die noch nicht existieren. Gegenden, in die der Schmerz eintreten muss, damit es sie gibt. Ob sie etwas mit Besinnung zu tun haben? Wie kommen wir zur Gegenwart und zur Besinnung? Gibt es ein Erkennungszeichen dafür? Offensichtlich braucht es Aufmerksamkeit, Bereitschaft für Bedeutungen, die offen sind, noch nicht festliegen. Ein Text über die Kraft der Fantasie und die Arbeit der Literatur.

Vor kurzem sass ich mit meiner Kollegin Eleonore Frey zusammen. Wir sprachen über das Leben, das Schreiben und was dabei die Gegenwart sein könnte. Da ich gerade ein Manuskript abgeschlossen habe, mich also plötzlich ausserhalb eines Textes wiederfinde, in dem ich ein paar Jahre gelebt habe, und da sie mich und diesen Zustand gut kennt, sagte sie mir: Du musst dir jetzt erst einmal wieder Löcher in die Gegenwart beissen. Was stimmt.

Löcher in die Gegenwart zu beissen, ist eine Möglichkeit, sich Besinnung anzulachen. Denn so, wie wir uns zuerst durch den Griessbreiberg beissen müssen, bevor es zu den fliegenden Brathühnern im Schlaraffenland kommt, ist es auch im Leben. Wollen wir das Gefühl haben, gegenwärtig zu sein, müssen wir uns erst Löcher in die Gegenwart beissen, um so Ausblicke auf jene fernen Horizonte zu gewinnen, wo Dinge und Zu­sammenhänge wahrnehmbar werden können, die vage und wunderbar sind. Und sind das nicht klar die Erkennungs­zeichen von Realität?

Kleist, erinnern wir uns, er hat gerade Jubiläum – „Kleist ist tot, es lebe Kleist!“, wirbt das Goethe-Institut, was sich wie bei den Indianern anhört, die auch erst tot sein müssen, damit sie gut sind –, Kleist hat uns empfohlen, die Reise um die Welt anzutreten, um zu sehen, ob das Paradies von der anderen Seite her offensteht. Doch was, wenn wir dastehen und fest­stellen müssen, da ist alles zu? Verbarrikadiert. Und dies nicht zum ersten Mal, sondern schon wieder? Dann hilft nur Platz schaffen, Löcher herstellen. Das ist die schwere Arbeit der Kunst. Und bitte, vergessen wir nicht, Schweres ermisst sich am Leichten. Was schwer ist, wissen wir vom Leichten und umgekehrt, das eine ist nicht ohne das andere zu haben.

Mögen auch viele davon schwärmen, wie schön, leicht und zur Freude aller der Beruf des Künstlers sei, wie frei die Kunst mache, wie erfolgreich, wie einfach mit ihr Geld zu machen sei, wie wohltuend für die Seele und wie sehr die Kunst den ganzen Menschen ins Zentrum stelle, wie Gott ihn erschaffen habe, zu dem momentan einige unter den Schreibenden unterwegs sind und uns Einsichten ihres Glaubens in Form erster und letzter Gewissheiten gerne mitteilen. Doch wie der alte, von Gott wieder zurückgekehrte Dylan so schön sagt und singt, ist das mit dem Ãœbergang von der irdischen zur himmlischen Liebe (und umgekehrt) keine einfache Sache. In der Kunst auch nicht. Die ja an Ãœbergängen arbeitet, wo es so gut wie aussichtslos aussieht, ja, wo meist gar nichts zu sehen ist, und da fängt die Arbeit der Kunst an. Ich betone Arbeit, denn die ist Verwandlung. Und Kunst ist Verwandlung und macht Löcher in die Gegenwart.

Wo sind wir, wenn wir in der Gegenwart sind? Woran können wir merken, dass wir da sind? Und als was sind wir da? Gibt es ein Erkennungszeichen? Einen Baum vor dem Fenster, eine Fens­ter­bank, eine Tasse, die auf dem Küchentisch steht, und ich weiss, ja, da ist die Gegenwart? Denn da steht meine Tasse, draussen der Baum, es ist windstill, August, kein Blatt, das sich regt, kein Schaukeln oder Rühren, als wäre jedes Blatt, jeder Zweig, der Baum, die Tasse, alles das und somit auch ich an seiner Stelle. Und zwar so, als wäre diese Stelle nicht einfach die Stelle, wo sich Blatt, Tasse und ich befinden, sondern wo wir hingefunden haben, unverhofft und restlos. Das Blatt hat zu seinem Platz als Blatt gefunden, die Tasse zur Tasse, ich habe mich zwischen Tasse, Baum und Windstille gesetzt. So aufgehend in unserem Tassesein, Blattsein, Ichsein sind wir zu etwas Allgemeinerem als dem je Eigenen von Tasse, Baum und Ich geworden; und das ist, was so etwas wie Gegenwart ausmacht, das Gefühl, da zu sein, an meiner, an dieser Stelle, wo ich nicht allein bin, sondern wo ich zusammen mit Baum und Tasse in der Windstille eines Augusttags etwas erfahre, bei dem ich bin, zusammen mit dem Anderen.

Die Herstellung von Löchern schafft da Platz, wo wir vor lauter neuesten Nachrichten nicht mehr sehen können, was eine Nachricht ist; nämlich nachträglich und auf der Suche nach Richtung. Wenn ich versuche, Löcher in die Gegenwart zu beissen, ergeht es mir wie diesem Mister Jones aus Dylans „Ballade of a Thin Man“, dem in seiner Umgebung alles Mög­liche begegnet und der sich die Frage gefallen lassen muss, wie es sich anfühlt, als so ein Freak herumzulaufen. Womit seine Art gemeint ist, nicht zu verstehen, was es ist, das passiert, aber wahrzunehmen, dass es da ist und geschieht. Eben darum geht es diesem Freak in Dylans Lied, nicht zu wissen, was es ist, und doch ist es da, wirkt, ist um ihn geschehen. Denn um wissen zu können, was geschieht, brauchen wir Zeit und eine Aufmerksamkeit, die noch nicht weiss, wofür sie eigentlich aufmerksam ist und auf was.

„Never cease to watch what ever happens to you“, schrieb Henry James an die Adresse von Schriftstellern und Schrift­stellerinnen. Sein radikales Diktum, nicht nachzulassen wahrzunehmen, was uns geschieht, öffnet das Schreiben auf eine Aufmerksamkeit hin, in der alles, was geschieht, von gleicher Gültigkeit sein kann. Und das heisst, die Bedeutungen stehen offen, liegen noch nicht fest, werden sich erst noch im Prozess der Arbeit einstellen und ereignen können. Das ist die Arbeit, schreibend Löcher herzustellen, die es erlauben, wachsam zu sein auf das, von dem wir noch nicht wissen, was es ist.

Seit Kosovaren Schweizer aufschlitzen können, sind wir wohl endgültig im Reich der Fiktion gelandet, und ich frage mich, wie wir da jemals wieder rauskommen sollen. Denn es scheint eine Menge Menschen zu geben, die an solche Formulierungen glauben und dabei ganz vergessen, dass Nachrichten, vor allem als Schlagzeilen, immer schon etwas ganz anderes sind als das, was wir wirklich nennen könnten. Sobald wir etwas in Sprache fassen, seien es Kosovaren, Schweizer oder irgendein Aufschlitzen, ist es schon etwas anderes geworden, und seine Wirklichkeit ist die, aus Worten gemacht zu sein, und sind die nicht immer ganz schön fantastisch? Warum sonst sagen wir, dass ihnen nicht zu trauen sei? Um ihnen dann umso mehr zu glauben? Und sie mit Haut und Haar zu fressen?

Anders gesagt, warum trauen wir Kosovaren zu, Schweizer aufschlitzen zu können, doch wenn Marx schreibt: Ein Gespenst geht um in Europa, denken wir sofort, das sei eine Metapher und kein Gespenst. Dabei könnte uns vielleicht dieses von Marx so hellsichtig bemerkte Unheimliche, das da in Europa in Form eines Gespensts herumläuft, helfen, über das Auftauchen solch gespenstischer Schlagzeilen nach­zudenken und uns zu fragen, was sich da äussert und als was. Warum sind wir so schnell bereit, die Besinnung zu verlieren und zu glauben, dass uns da etwas berichtet würde, mit dem wir zu tun hätten? Immerhin ist das Aufschlitzen eine Öffnung, durch die es in die Schlagzeile hineinzieht; allerdings tödlich. Und ist im Unterschied dazu das marxsche Gespenst vielleicht nicht fiktiv genug, um es aufschlitzen zu können?

Oder haben wir die Besinnung schon längst verloren? Und wenn ja, wo könnten wir sie wiederfinden? Aber hatten wir sie denn je? Waren wir mal bei Besinnung? Ist das da, von wo wir irgendwann einmal hergekommen sind? Es soll Gegen­den geben, die der Mensch in seinem Herzen trägt, die noch nicht existieren. Gegenden, in die erst der Schmerz eintreten muss, damit es sie gibt. Ob sie etwas mit Besinnung zu tun haben?

Bei Flaubert steht über seine Helden Bouvard und Pécuchet zu lesen: „Und da sie nun mehr dachten, litten sie auch mehr.“ Hat also Denken etwas mit Leiden zu tun, und beides mit Besinnung? Immerhin gibt es, wenn nicht zu viele Betäubungsmittel im Spiel sind, auch das Leiden an der Gedankenlosigkeit, das Leiden an der Sprachlosigkeit, das Leiden daran, die Sprache genommen, verboten zu bekommen, und kann es sein, dass das eine Leiden mit dem anderen Leiden zu tun hat? Selten löst sich ein Leiden einfach auf. Oft ist Genesung schmerzhaft und dauert lange. Vor allem, wenn wir sie noch nie vorher erlebt haben und nicht wissen, wie sie geht. Dann können wir nicht unterscheiden, ob wir gerade dabei sind, noch gedankenloser zu werden, oder ob die Empfindung von Gedankenlosigkeit schon ein erster Gedanke ist. Und dann ergeht es uns wie Flauberts Helden, und wir sind schon dabei, mehr zu denken.

Es gibt in unserer Sprache die schöne Aufforderung: Besinn dich. Sie ist deshalb schön, weil sie auf uns selbst zurückweist und uns zumutet, dass wir der Besinnung fähig wären, sie irgendwo in uns hätten, wir müssten nur zu ihr kommen; uns also auf sie besinnen. Und dieses Besinnen ist eine Bezüglichkeit und als solche Teil der Besinnung und ohne sie nicht zu haben. Jedenfalls kann niemand an unserer Stelle sich für uns besinnen. Dafür aber ist Besinnung, sobald wir uns zu besinnen suchen, schon da, irgendwo in oder an uns, wo sie doch zuvor wie verloren schien. Zur Besinnung kommen, heisst es, wie wenn Besinnung etwas wäre, zu dem wir kommen könnten. Mit dem Auto, dem Fahrrad, dem Flugzeug, auf allen vieren und im Kopf. Zugleich ist sie etwas, zu dem wir auch nicht kommen können. Das ist, wenn wir sie verloren haben und wir nicht mehr wissen, wie wir, was wir lesen, denken, erfahren, auf uns beziehen können sollen.

Vor kurzem las ich Handkes „Immer noch Sturm“, ein Buch der Anrufung der Ahnen, ein Buch der Verortung von Gegenwartserfahrung in Bezug auf die, die uns vorausgegangen sind und nicht aufhören, uns vorausgegangen zu sein. Dort spricht der Ich-Erzähler zu seinem Onkel, der bei den öster­reichisch-slowenischen Partisanen gekämpft hat: „Hier, meiner Liebe Kind bist du. Meiner Liebe Kind seid ihr Vorfahren alle … Mit euch komme ich zur Besinnung. Ihr seid meine Besinnung.“ Der Ich-Erzähler Handkes kommt zur Besinnung, die seine Ahnen sind, indem er sie wiederkommen heisst und mit ihnen spricht. So geben die Toten Auskunft über die Gegend in Zeit und Raum (die Geschichte), in der sich unsere Besinnung aufzuhalten scheint und wo unser Kommen, das heisst unsere Bezugnahme auf sie, erwartet worden ist. Zur Besinnung kom­men hiesse dann, eine Bezüglichkeit wahrnehmen zu kön­nen, in der wir erwartet worden sind. Auf der Erde, in der Geschichte, bei denen, zwischen denen wir aufgewachsen sind. Dort also, wovon wir eines Tages, wenn alles gut geht, werden sagen können: Da war ich. Dies sagen zu können, so Oskar Pastior, ist der grösste Schatz im Leben. Da, wo nicht stehen wird: Weisst du noch, sondern schlicht: Da war ich.

Wer und was auch immer da gewesen ist, ich war es, und ich war da.

Zur Besinnung kommen bedeutet, eine Bezüglichkeit anzunehmen, die ich in mir mit mir unterhalte, von der ich aber nicht weiss, wie und was sie bedeutet, wie und als was sie mir begegnet. „Ich ist ein anderer“, schrieb einst Rimbaud und hat damit das Feld eröffnet, auf das hin wir uns als andere entziffern können, ohne die wir nicht Ich sein können. Das Schwierige an jenen anderen, die wir auch sind, und was sie mit uns verbindet, ist: Wir haben sie uns genauso wenig ausgesucht wie uns selbst. Ebenso wenig wie unsere Ahnen und die Zeit, in der wir leben.

Zur Besinnung kommen ist stets ein doppelter Vorgang, der etwas als anwesend voraussetzt, das zugleich erst durch ein Zu-ihm-Kommen, ein Sich-auf-es-Beziehen, verwirklicht werden kann. Denn was gegeben ist, ist noch nicht uns gegeben, wir müssen es erst auch noch als gegeben erfahren können. Rimbauds Satz ist dieser Möglichkeit und Notwendigkeit zugleich geschuldet, dass ich mich erst dann als wirklich erfahren kann, wenn ich mich auch als wirklich erwarte. Was nichts anderes heisst, als dem anderen, der ich bin, die Türe offen zu halten. Und mich als anwesend und zugleich noch in Bewegung auf mich zu oder auf mich hin anzunehmen; als den anderen, der ich auch bin.

Nehmen wir zum Beispiel den 35. Mai. Das ist der Titel eines Buchs von Erich Kästner, 1935 veröffentlicht, in dem wir erfahren, dass es an einem solchen Datum sehr leicht möglich ist, durch den Schrank und dann immer weiter geradeaus in die Südsee zu reisen. Abends sind dann alle wieder pünktlich zu Hause. Aber der Reihe nach. Da gibt es einen Neffen, Konrad, und wie jeden Donnerstag, so auch an diesem 35. Mai, kommt ihn sein Onkel von der Schule abholen, und sie verbringen den Nachmittag zusammen. Konrad, der gut rechnen kann, hat einen Aufsatz über die Südsee auf. Denn sein Lehrer glaubt, dass die, die gut rechnen können, keine Fantasie haben. Darum müsse diese trainiert werden. Die anderen Schüler müssen den Bau eines vierstöckigen Hauses beschreiben, eine Kinderei gegen die Südsee, findet Konrad. Aber wenn Konrad auch keine Fantasie hat, so hat er doch einen Onkel, sagt sein Onkel, was genauso gut ist. Und nach einem wunderbar chaotischen Essen (das sind diese Essen, bei denen man alles mit allem kombi­nieren darf, und zwar gleichzeitig), dem Besuch von einem arbeitslosen Zirkuspferd und ein paar gemeinsamen Runden Dichterquartett (bei denen das Zirkuspferd immer gewinnt) geht es in den Schrank und dann immer geradeaus weiter in die Südsee. Was sie dort erleben, ist am Ende des Buchs in Konrads Aufsatz nachzulesen. Und wer das nicht glaubt, nämlich dass Schrank, Onkel und ein Nachmittag Zeit reichen, um in die Südsee zu kommen, der kann auch keine Löcher in die Gegenwart beissen. Und wer das nicht kann, der sollte zur Ãœbung einen Aufsatz über die Südsee schreiben anstatt hinzufliegen.

Löcher in die Gegenwart zu beissen, hat mit Spiel und Tagtraum zu tun. Beides Ãœbergänge zwischen Realität und Imagination, wobei nicht feststeht, welche von beiden – die Realität, die Imagination – realer ist. Denn, Hand aufs Herz, hat schon mal jemand die Realität gesehen? Oder die Imagi­nation? Ihre Realität haben sie nur als eine Mischung aus beidem und von beidem nicht eins. Darum heisst es auch bei Godard in seiner „L’Histoire du Cinéma“: „1 + 1 = denken“. Realität in diesem Sinne bedeutet eine Vermittlung zwischen etwas, das nicht zu ändern ist, und etwas anderem, was auch nicht zu ändern ist. Im Fall Konrads ist es die Hausaufgabe, einen Aufsatz über die Südsee schreiben zu müssen und das ausgerechnet am 35. Mai, der ein Donnerstag ist, und das ist immer der Onkelbesuchstag, und schon kann die Reise um die Welt beginnen.

Freud sagt, dass das Gegenteil von Spiel und Tagtraum nicht die Realität sei, sondern der Ernst. Und wie der Ernst etwas sehr anderes ist als die Realität, so ist das Prinzip der Realität etwas sehr anderes als das Realitätsprinzip. Jedenfalls gab es mitten in den siebziger Jahren in Giessen, das in Hessen liegt, einen Tag im Winter, der ohne den 35. Mai und der mit ihm verbundenen Reise um die Welt nicht so wirklich gewesen wäre, wie er es dann wurde. An jenem Tag war es so weit, dass das Haus in der Gutenbergstrasse, das ein besetztes Haus war, von der Polizei geräumt werden sollte. In Erwartung dieser vor der Tür stehenden Räumung hatten sich einige der Hausbesetzer in weiser Voraussicht entschlossen, auf den Speicher umzuziehen, von wo aus es gar nicht so leicht sein würde, sie aus dem Haus zu räumen. Und da es einige unter den Besetzerinnen gab, die sich mit dem 35. Mai gut auskannten, war bald ein Schrank zur Hand, die Rückwand entfernt und vor den Treppenaufgang zum Speicher geschoben. Sodass da, wo mal eine Türe war, jetzt ein Schrank stand. Als dann die Polizisten kamen und die Besetzer aus dem Haus holen wollten, diese aber nicht im Haus waren, sondern sich vom Dach her bemerkbar machten und riefen: Hallo, hier sind wir, suchten die Polizisten im dritten Stock des Hauses nach dem Aufgang zum Speicher und konnten ihn beim besten Willen nicht finden. Ein Bautrupp musste bestellt werden, der ein Loch in die Decke schlug, durch das dann die Polizisten eine Leiter nach oben schoben; eine Szene wie bei Kafka, wenn der Untermieter anfängt, ein Loch in die Decke zu schlagen. Als dann ein paar Polizisten durch das Loch die Leiter hochgestiegen kamen, standen die Besetzerinnen auf dem Dach und genossen die freie Sicht auf die Südsee. Und wenn ich damals Polizist gewesen wäre, dann hätte ich spätestens bei der Entdeckung der Treppe und wie sie getarnt war, gelacht und gedacht, warum habe ich bloss nicht den 35. Mai gelesen, als noch die richtige Zeit dafür war und ich vielleicht was Schöneres mit meinen Wünschen und Begabungen hätte machen können. War leider nicht so, kein Kästner weit und breit, und das ist Teil all der traurigen Geschichten, die davon handeln, aus schwierigen und schmerzhaften Erfahrungen die falschen Schlüsse zu ziehen. Doch wie es im Buch vom 35. Mai heisst, ist die verkehrte Welt noch nicht die verkehrteste.

Darum ist es auch so schön, dass Kästner in seinem 35. Mai, einem Buch für Kinder und Jugendliche, das letzte Kapitel mit der Ãœberschrift versieht: „Der Onkel liest, was er erlebt hat“. Was nichts anderes heisst, als dass wir meist erst im Nach­hinein wissen und lesen können, was wir erlebt haben und erleben. Und darum ist es gut, Aufsätze zu schreiben, möglichst ohne Fantasie, aber mit einem Onkel, der einem den Raum zur Verfügung stellt, nach Herzenslust Unsinn zu machen. Was eine Form von Durchlöcherung von Sinn ist. Denn Sinn lebt von Unsinn, und je durchlässiger die beiden Formen von Sinn sein können, umso eher können wir Augenblicke erfahren, in denen wir keinen Sinn brauchen. Also weder Sinn noch Unsinn, sondern da sein, an Ort und Stelle, in unserer Zeit, was auch immer dabei die Gegenwart sein mag.

Dylans Mister Jones hat das Gefühl, etwas geschieht, doch er weiss nicht, was es ist. Auch ich habe das Gefühl, dass etwas geschieht mit dem, was in mehr oder weniger öffentlichen Diskursen als Literatur gilt, was als Literatur auf dem Markt herumgereicht wird und als eine der einträglichsten Erwerbsquellen propagiert wird. Etwas ist passiert mit Ver­lagen, ihren Programmen und wie sie sich und ihre Bücher anpreisen. Etwas ist geschehen in den Köpfen nicht nur junger Menschen, die schreiben wollen, Schriftsteller werden wollen, um damit ihr Leben zu verdienen. Berufswunsch Schriftstel­lerin, wie früher Stewardess oder Schauspieler. Und ich frage mich, woher sie das haben, diese Vorstellung, mit der Literatur nicht nur ihr Leben verdienen zu können, sondern auch reich und erfolgreich zu werden.

Mein Gefühl, dass sich etwas vielleicht grundlegend verändert hat in der Art, wie mit Literatur umgegangen und als was sie behandelt wird, möchte ich an einer immer wieder ge- äusserten Frage festmachen: Verliere ich denn bei dieser Stelle im Text, oder wenn ich diese Form wähle, nicht den Leser? Ihr Pendant findet diese Frage in der Sprechweise von Lektoren, die klipp und klar feststellen: Hier verliert der Text seinen Leser.

Den Leser zu verlieren, scheint eine Art Todsünde zu sein, mit der eine andere Todsünde einhergeht, nämlich die, wo­möglich schwer beziehungsweise nicht in der ersten Sekunde verständlich zu sein. Was häufig heisst, nicht mehrheitsfähig und unverkäuflich. Also Ende mit dem 35. Mai und einem sinnlos vertanen Nachmittag im Schrank des Onkels. Lieber Polizist werden, als daran zu arbeiten, keinen Sinn zu brauchen beziehungsweise einen zu erfinden, den es so noch nicht gegeben hat und auf den wir nie gekommen wären, hätten wir uns nicht auf das Wagnis eingelassen, uns einen Leser zu erträumen, der anders, langsamer und genauer liest.

Denn gibt es für die und den, die schreiben, einen Leser ausserhalb des Textes? Ist nicht das Schreiben eines Textes untrennbar verbunden mit dem Erschreiben einer Leserin? Und ist dieser Leser nicht vor allem die Schreibende als Lesende ihrer selbst? So wie der Leser in einem Text das sich in ihm gebende Buch liest, sein Buch, erschreibt sich der Schreibende das ihn lesende Buch, und das ist die Grundlage für die Korrespondenz der verschiedenen Leser und Bücher, die sich in einem Buch aufhalten können. In einer als Leserin vorgestellten Instanz, die via Verständlichkeit über Qualität und Erscheinen eines Textes entscheidet, finden diese unterschiedlichen Leserinnen und Lesarten allerdings keinen Platz. Literatur kann nicht über sich stehen oder ausserhalb von etwas, das sie nur enthalten würde. Ihre Form ist immer und an jeder Stelle Teil ebendieser Form, so wie ihr Inhalt ausser der Form, in der er zu uns kommt, nicht existiert.

Was aber spricht für die Angst, mit der da das Leben der Sprache, die Lebendigkeit des Schreibens belegt, kontrolliert, eingepasst wird? Angst, etwas zu verlieren, was doch erst erschaffen werden muss beziehungsweise erschaffen werden kann?

Wovor warnt die Angst? Vor dem Verlust des Eigenen? Vor dem Verlust der Bezüglichkeit auf sich selbst als derjenigen Instanz, die letztlich über die Gültigkeit eines Textes das letzte Wort zu sagen hat? Schreiben, die Beschäftigung mit Schreiben, mit Literatur, mit eigenen und fremden Texten sollte – ob es sich nun um Literatur handelt oder nicht –, so frei, so offen wie möglich sein. Und dass sie es sein kann, bedeutet Arbeit. Arbeit an Sprache, an Literatur, an den Formen und Aufmerksamkeiten der Kommunikation, ohne die es keine Sprache und keine Verständigung gibt.

Wonach ist ein Schreiben auf der Suche, das sich ängstigt, etwas zu verlieren, was gar nicht zu verlieren ist, sondern zu erschaffen? Wie bei allem, was erschaffen werden kann und muss, ist das riskant, und zwar wegen der Sache selbst (der Sache des Risikos), nicht aber, weil ein Leser verloren würde. Ich frage mich, wer oder was hat ihnen diese Angst, die ja eine wichtige Orientierung in der Arbeit ist, beigebracht? Seit wann muss Kunst beglaubigt werden? Seit wann ist ihr Mass die Verständlichkeit, und zwar die mehrheitsfähige? Und nicht das Risiko? Warum können die jungen und die alten Schreiben­den nicht mit Seelenruhe wissen, dass sie sich für ihre Arbeit jede Menge Zeit lassen können und auch sollen, dass draussen kein Leser steht, der nur darauf wartet, zu überprüfen, ob ihr Text auch verständlich, relevant, gegenwartsbezogen sei? Wer könnte das anderes sein als wir selbst, die sich schreibend auf die Suche nach einem Verständnis machen, als das sich allererst der Text ereignen kann. Wo ist diese sich ereignende Möglichkeit des Textes, dessen Entzifferung immer wieder neu und anders sich ereignet, dessen Lektüre nicht beendet ist? Und macht das nicht die ganze Dimension sich aufhebender Zeitlichkeit, die aufgehobene Zeitlichkeit von Literatur aus? Immer wieder ist da etwas, was wir nicht verstehen, sind da Löcher in den Texten – ist nicht das entscheidend dafür, dass wir abermals beginnen zu lesen? Nachträglich und einträglich für das Dazwischen, das wir vielleicht Gegenwart nennen können.

Besinn dich, diese Aufforderung verweist auf die eigene Möglichkeit zurück, etwas anwesend sein zu lassen, was noch nicht da ist, was erst wieder aufgesucht werden muss, und das ist die Form, in der es zugänglich wird. Und dadurch, dass niemand anderer für mich zur Besinnung kommen kann, dass der Weg zu ihr jeweils einzeln und besonders nur sein kann, ist Besinnung von allgemeiner Gültigkeit.

Friederike Kretzen

In Leverkusen geboren, bildete sich Friederike Kretzen (55) als Soziologin aus und war Dramaturgin am Residenz-Theater in München. Seit 1983 lebt sie in Basel und arbeitet als Dozentin, Publizistin und Schriftstellerin. Ihre Werke umfassen unter anderem die Romane „Die Souffleuse“ (1989), „Ihr blöden Weiber“ (1993), „Indiander“ (1996), „Ãœbungen zu einem Aufstand“ (2002) und „Weisses Album“ (2007). Ihr jüngstes Buch wird im Stroemfeld Verlag in Frankfurt am Main erscheinen.

WOZ vom 13.10.2011