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Florian Neuner 17.12.2023

Schon ihr letztes Buch war ein Reisebuch, und schon in der 2017 erschienenen »Schule der Indienfahrer« waren reale und gedankliche Reisen ineinander verwoben zu einem poetischen Geflecht, einer Prosa, die nicht gefangen nimmt mit ihrer Story, sondern durch einen ganz eigentümlichen Sog aus sprachlichen Bildern und Assoziationen. Wenn das neue Buch der Sprachkünstlerin Friederike Kretzen im Untertitel »Roman einer Reise« heißt, dann ist das etwas irreführend: Hier spricht unmaskiert das Erzähler-Ich einer Autorin, die nach Teheran reist und dort an der Schweizer Botschaft auftritt, über ihr geplantes Persien-Buch spricht, Museen besucht und Künstlerinnen trifft. Um ein Reisejournal handelt es sich aber ebenso wenig, denn auch wenn die Chronologie von der Ankunft in Teheran bis zur Weiterreise nach Isfahan gewahrt ist, sind doch die zeitlichen Sprünge und Abschweifungen zahlreich, und die Sprache bewegt sich oft weit weg vom Protokoll der laufenden Ereignisse.

Diese Reisende ist eine privilegierte Besucherin aus dem Westen, und auch wenn sie Botschaftsempfänge und Universitäten besucht, ist sie doch keine typische Jetsetterin des Kulturbetriebs. Die Erzählerin hat während ihrer Studienzeit in Gießen junge Perser kennengelernt, die nach der Revolution plötzlich verschwunden waren; und sie war 40 Jahre vor der neuerlichen Reise, auf dem Weg nach Indien mit einer Freundesgruppe zum ersten Mal im Iran. Jetzt zieht es sie wieder dorthin und sie wendet sich an den Schweizer Botschafter: »All die untergegangenen Gegenden in uns, schreibe ich ihm, mit ihren Sternen und kleinen Monden, wie sie uns manchmal nachts, in Träumen, oder kurz bevor wir erwachen, aufgehen. Irgendwo müssen die sich doch aufhalten?« Die Relativität des geografischen Standorts wurde ihr schlagartig bewusst, als sie in Mumbai erfuhr, dass der Indische Ozean dort Arabische See genannt wird: »Sofort dreht sich der Raum, steht kopf. Ich gerate in einen Wirbel, werde herumgeschleudert. Und mit mir die Geografie meiner inneren Anschauung. Ist alles, was ich je erlebt habe, verkehrt herum gewesen?«

»Bild vom Bild vom großen Mond« kann man heute schwerlich lesen, ohne an die Ereignisse im Iran nach Mahsa Aminis Tod im September 2022 zu denken, die in dem Buch aber keine Rolle mehr spielen können. Kretzen vermeidet zwar konkrete Erörterungen der politischen Lage und gibt auch keine politischen Diskussionen wieder. Und doch scheint irgendetwas in der Luft zu liegen: »Jeden Tag wieder. Warten, dass etwas aufhört, der Vorhang sich öffnet. Ist es nicht das, was sie mir alle sagen, jeden Tag?« Die Erzählerin indes bewegt sich mit offenen Augen durch die Megalopole und beschreibt Orte, an denen die Zeit stehen geblieben zu sein scheint, verfallende modernistische Bauten aus der Zeit des Schahs. Dass ein Theater 1973 ausgerechnet mit Tschechows »Kirschgarten« eröffnet wurde, deutet sie als »Vorwegnahme des Untergangs«: »Was sonst hätten sie damals spielen sollen? Spiel vom Ende und Endspiel. Schlafen, sterben. Die Komödien gehen weiter.«

Einmal, während einer Architektur-Führung, kommt es zu einem Tumult vor einer Moschee, und die Frage drängt sich auf: »Ist die Revolution ausgebrochen? Kämpfe, Entfesselungen?« Nein, die Revolution ist noch nicht ausgebrochen, und es gibt auch keine Erklärung für den Zwischenfall. Das Regime ist im Alltag präsent und hat unmittelbare Auswirkungen auf das Leben aller. Soll eine Künstlerin, die im Westen studiert hat, ihren französischen Freund heiraten und das Land endgültig verlassen?

Manche flüchten sich in Sarkasmus: »Sie sagen, sie warten, sie sagen, wir gehen nicht, harren aus. Sagen, wenn wir hundert sind, sind alle Frauen frei.« Dass es so nicht ewig weitergehen kann, scheint klar. Aber wie lange noch? »Etwas wird geschehen, sagt Maryam, wir werden erwachen. Wir oder die kommenden Generationen. Nichts, wofür unsere Eltern und Großeltern gekämpft haben, ist erledigt.«

Friederike Kretzens »Roman einer Reise« beginnt mit einer Frage: »Habe ich Persien gesehen oder einen Film von Kiarostami?« Dass sie die Welt nicht zuletzt durch die Brille ihrer Lektüren und ästhetischen Erfahrungen wahrnimmt, ist der Erzählerin bewusst und wird in dieser Prosa reflektiert. Und auch das titelgebende »Bild vom Bild« ist ja nicht einfach nur ein Bild. Als die Erzählerin auf einer Universitätsveranstaltung auf ihr Persien-Buch angesprochen wird, zitiert sie Michel Foucault, der sich 1979 für die iranische Revolution begeisterte, nach Teheran fuhr und von »politischer Spiritualität« schrieb: »Das ist sein Traum von den vielen Orienten, ihren Unzugänglichkeiten und den Subjekten, die sich gegen die Ratio jeglicher Universalität erheben. Danach suche ich auch mit meinem Buch.« Darauf meldet sich ein Mann aus dem Publikum und wendet ein: »Ist das nicht einfach die Flucht aus der Sinnlosigkeit des Westens? (…) Wir leiden, versuchen auszuhalten, bleiben, wollen aber nicht so hier sein, wie wir sind. Nur in den Westen wollen wir nicht. Amis go home. Der Westen ist die Leere.«

Friederike Kretzen: Bild vom Bild vom großen Mond. Roman einer Reise. Dörlemann, 288 S., geb., 25 €.

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Lesung in Uster 15.6.23 https://kretzen.info/lesung-in-uster-15-6-23/ Wed, 19 Jul 2023 19:18:48 +0000 https://kretzen.info/?p=878 Lesung in Uster 15.6.23 weiterlesen ]]> Liebe Gäste, und ganz besonders liebe Friederike Kretzen, ich begrüsse Sie herzlich zu diesem Abend, der ganz im Zeichen des „Bilde(s) vom Bild des grossen Mondes“! steht.

Einführung:

Um es gleich zu gestehen: Ich befinde mich bereits seit Tagen mit Ihnen, liebe Friederike Kretzen, im Gespräch! Es ist ein inneres Gespräch, aber eigentlich ist diese Hinzufügung ganz überflüssig: In ihrem Werk – das meine ich verstanden zu haben – sind Inneres und Äusseres nicht getrennt, genauso wenig wie Gegenwärtiges und Vergangenes und hier und dort: Es gibt da Vorhänge, die sich öffnen können, Teppiche, die die „Wände aus Beton“, an denen sie in einem Museum in Teheran hängen, „steil nach oben zum Himmel auffahren“, und selbst in Bern, „wenn es Abend wird, und dieses irre Licht aus dem tiefen Einschnitt durch die Stadt aufsteigt“, lösen sich manchmal die „Berge von der Erde und nehmen die Stadt mit sich in die Höhe, ins Leichte, auf die Kreisbahn“.

Eine der Fragen in diesem Gespräch lautet, wie es sein könne, dass ich mich durch Ihren Roman so angezogen fühle, mich in ihn so gerne verwickle, während ich dafür, so kommt es mir vor, doch so wenige Voraussetzungen mitbringe: Ihr letzter Roman, „Schule der Indienfahrer“, war ein Reisebericht, das „Bild vom Bild vom grossen Mond“ ist der „Roman einer Reise“, in den Iran, besonders nach Teheran, mit Abstechern allerdings, z.B. nach New York und besonders nach Detroit. Die Sehnsucht zu reisen und auch die Begabung dafür, erfüllten Sie schon als Kind im Giessen der Nachkriegszeit. Sie sind eine grosse Reisende, das Reisen ist sozusagen Ihre Existenzform, souverän und demütig zugleich, beherrschen Sie diese Kunst in allen damit verbundenen Formen und Dimensionen.

Ich bin auch gereist, gelegentlich, – wie kann man darum herumkommen? Wenn Sie an San Francisco denken, dann sehen und spüren Sie die bergauf und bergabführenden Strassen, erwarten, dass im nächsten Augenblick die Weite des Meeres vor Ihren Augen sich öffnet, selbst dann, wenn Sie dabei auf einer Strasse in Teheran gehen. Wenn ich an San Francisco denke, dann sehe ich mich in einem Mietwagen vom Flughafen zum Hotel im Zentrum der Stadt fahren, aufs höchste angespannt, in jedem Moment mit einem Zusammenstoss rechnend, überzeugt davon, immer tiefer in die Irre zu gehen, und dann schliesslich doch in der Tiefgarage unter dem Hotel stehen, den Kopf erschöpft aufs Lenkrad gelegt. Je älter ich werde, umso mehr halte ich es mit Gottfried Benn: „Bahnhofstraßen und Rueen, / Boulevards, Lidos, Laan − / selbst auf den Fifth Avenueen / fällt Sie die Leere an − // Ach, vergeblich das Fahren! / Spät erst erfahren Sie sich: / bleiben und Stille bewahren / das sich umgrenzende Ich“.
Das Zweite, wofür ich – leider! – wenig Resonanz besitze, ist Ihre Liebe zum Film und zum Kino: das cineastische Sehen, Erfahren, Beschreiben; die Ausbildung in der Schule des Films. Der letzte Film, den ich gesehen habe, war der koreanische Film „Parasites“ – davor eine sicher zwanzigjährige Spanne der Lichtbildlosigkeit, danach sieht es auch nicht besser aus.

Die Antwort, darauf, warum ich mich so gerne von Ihnen einspinnen lasse, ist relativ einfach. Ich gebe sie mir oder lasse sie mir von Ihnen geben, wie Sie da in Teheran, in der Nähe „eines dieser höllischen Verkehrskreisel“, „mit dem Rücken zum Verkehr“ auf einem der „paar dahergelaufenen Plastikstühle, die früher einmal blau und weiss waren“, sitzen, „am liebsten den ganzen Tag lang“: Es ist gerade das Phobische, wenn es ums Reisen geht, verbunden mit dem ja doch auch vorhandenen Bedürfnis, die Mauern des sich umgrenzenden Ichs zu durchbrechen, das es mir erlaubt, mich ganz in Ihre Obhut zu begeben.

Dann lasse ich mir von Ihnen zum Beispiel die „grosse sanfte Welle“ zeigen, die sich über einen Platz in Teheran wölbt. „Dach einer weissen Moschee, die nicht wie eine Moschee aussieht. Kein Minarett, keine Kuppel. Kühner Entwurf einer begehbaren Dachlandschaft. Geschwungenes Tuch aus Beton mit Fensterschlitzen, schmalen Lichteinschnitten, das sich bis auf die Erde ausbreitet, den Park säumt, die Gebiete verbindet. Wurde sofort verboten. Eine Moschee darf den Boden nicht berühren, keiner darf ihr Dach betreten. Die Architekten erhöhen den Sockel, setzen das Fliessgewölbe vom Grund ab, machen es unbegehbar. Es bleibt verboten, Moschee und dazugehöriges Kulturzentrum seit vielen Jahren nicht eröffnet.“

Ich sehe, wenn Sie mir das so zeigen, mehr, als wenn ich tatsächlich vor dieser Moschee stünde, weil in Ihrer Schilderung, was diese Moschee ist und bedeutet, so klar zum Ausdruck kommt. Und gleichzeitig gilt auch das Gegenteil: Weil in der Weise, in der Sie über sehr vieles schreiben, dessen grossartige Rätselhaftigkeit sich ausspricht.

Und was die Lichtbildlosigkeit, betrifft, so wird da durch Ihre auch an der Ästhetik des Films orientierte Sprachkunst Abhilfe geleistet.

Nun muss ich mich aber schleunigst aus diesem Privatgespräch hinauswickeln und Ihnen, liebe Friederike Kretzen, wirklich das Wort geben. Ich hoffe, dass ich, obwohl es um Privates ging, auch Ihnen, liebe Gäste, die Sie ganz andere Voraussetzungen mitbringen als ich, unter der Hand einige nützliche Hinweise geben konnte.

(Villa Grunholzer, Uster, 15.6.23, Christoph Meister)

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Major Tom ist einer von uns https://kretzen.info/major-tom-ist-einer-von-uns/ Thu, 25 May 2023 09:07:21 +0000 https://kretzen.info/?p=855 Rose-Maria Gropp in der FAZ zu „Bild vom Bild vom grossen Mond“

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Der Rausch der Ferne https://kretzen.info/der-rausch-der-ferne/ Wed, 22 Feb 2023 10:10:17 +0000 https://kretzen.info/?p=845 Der Rausch der Ferne weiterlesen ]]> In ihrem neusten Roman «Bild vom Bild vom großen Mond» erzählt Friederike Kretzen vom Rausch des Reisens und Schreibens.

Von Lara Buchli, 16. Februar 2023

In Friederike Kretzens neuem Werk reist eine Ich-Erzählerin in die Ferne nach Persien, um aus den erlebten Begegnungen und Erlebnissen ein Buch zu schreiben. Der Untertitel kündigt dies bereits an: ein «Roman einer Reise» darf man erwarten, über knapp 300 Seiten hinweg erzählt. Nicht zum ersten Mal verarbeitet Kretzen das Reisen mit dem Schreiben in Form eines Romans. Bereits in ihrem letzten Buch, Schule der Indienfahrer (2017), setzte sie sich damit auseinander, wie eine Reise Menschen verändert und zu einer Lehre fürs Leben werden kann.

Aufgehoben in der Fremde

In Bild vom Bild vom grossen Mond bricht eine namenlose Ich-Erzählerin in Richtung Osten auf, bis sie in den Iran gelangt. Im Erzählen erinnert sie sich an frühere Reisen, an alte Bekanntschaften und an Indien. So vermischt sich im Imaginären der Erzählfigur das Vergangene mit der Gegenwart und Erinnerungen gehen fliessend über in erlebte und erdichtete Ereignisse.

Im Erinnern, Reisen und Schreiben kommt die Ich-Erzählerin immer wieder auf denselben paradoxen Zustand zurück: die Geborgenheit in der Fremde. Gelassen das Neue annehmend staunt die Ich-Erzählerin, verfällt aber nie in eine blinde Naivität, sondern bleibt stets kritisch dem gegenüber, was sie sieht. Wahrgenommene repressive Strukturen, Gewaltherrschaft und Ungerechtigkeiten werden durch eine feinfühlige, gleichwohl unbeschönigende Perspektive vermittelt. Nie steht das persönliche Entsetzen über Erlebtes im Vordergrund und doch erfahren wir von ihren Empfindungen und ihren Handlungen in einer eindringlichen Unvermitteltheit.

«Is there anybody out there?»

Kretzens Sprache ist reich an Bildern und schöpft aus dem vielfältigen Fundus kulturellen Textmaterials. Die Sätze ergeben zwar eine Sinneseinheit, doch zerfasert die darin erzählte Handlung durch wiederkehrende Abschweifungen, was einen surrealen Effekt erzielt. Liedzitate aus den Texten von Pink Floyd etwa werden wiederholt aufgenommen und funktionieren in leitmotivischer Weise. «Is there anybody out there?» fügt sich als Frage der Erzählerin ein. Dieses kurze, uneindeutige In-Verbindung-Treten der Erzählerin mit den Lesenden verstärkt den Eindruck, sich durch die Lektüre in den frei schweifenden Gedanken einer anderen Person zu befinden.

Eleganz im Rausch

Die Komplexität dieses Romans ergibt sich zum einen durch die grosse Fülle an Verweisen, die nur angedeutet, aber niemals ausgeführt werden und zum anderen durch die poetische Sprache, welche in tranceartiger Weise die Handlung bis zur Unkenntlichkeit mit dem Fantastischen verwebt. Ebendies macht die ästhetische Qualität dieser Erzählung aus: Kretzen gelingt der Kunstgriff, diese schier unbezwingbar anmutende Komplexität den Lesenden so elegant vor die Füsse zu legen, dass eine Lektüre auch ohne das umfassende Wissenskorpus, auf das der Text Bezug nimmt, gelingt.

Eine Liebeserklärung

Die grosse Fülle an Verweisen kann zunächst überwältigen. Doch auch wenn man verleitet ist, jeden Satz zu sezieren, vermag es dieses Buch, die Lesenden in einen Rauschzustand zu versetzen, denn der Roman ist im Grunde eine Liebeserklärung an ein Gefühl: Das Gefühl, eine Suchende zu sein. Immer auf Reisen, niemals ankommen und doch überall zu Hause sein. Bild vom Bild vom großen Mond erzählt rauschartig, ist kritisch und zärtlich zugleich und vermag es dadurch auf kunstvolle Weise, auf verschiedenen Ebenen zugänglich zu sein. Mit jeder Lektüre dieses Romans lernt man, dass Reisen wie Schreiben auch immer Träumen ist.

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Rezension Christina Viragh https://kretzen.info/rezension-christina-viragh/ Fri, 30 Dec 2022 08:27:05 +0000 https://kretzen.info/?p=840 Rezension Christina Viragh weiterlesen ]]> Die Katze sagt, wo die Reise hingeht

Friederike Kretzen findet in ihrem neuen Roman die Wege zurück

Christina Viragh

Am Ende von Lévi-Strauss’ Traurigen Tropen heisst es: „… während der kurzen Intervalle, in denen es unsere Spezies verträgt, ihr bienenemsiges Treiben zu unterbrechen, um im Wesen zu erfassen, was sie war und weiterhin ist, diesseits des Denkens und jenseits der Gesellschaft: in der Betrachtung eines Minerals, schöner als alle unsere Werke, im Duft, weiser als alle unsere Bücher, geatmet im Kelch einer Lilie; oder im Blick, schwer von Geduld, Gelassenheit und gegenseitiger Vergebung, den ein unwillkürliches Einverständnis manchmal auszutauschen erlaubt mit einer Katze.“

Um diese Katze geht es in Friederike Kretzens neuem Buch, Bild vom Bild vom großen Mond. Ihr reist die Erzählerin nach, in den Iran, besser, nach Persien. Ihr begegnet sie auch gleich, als sie in Teheran ankommt. Frühere Bücher der Autorin, etwa die Schule der Indienfahrer, erzählen von Reisen der Sehnsucht, vom Bedürfnis, immer weiter weg zu sein, in Persien, in Indien, in Pakistan die Sehnsucht vor sich her zu treiben, um sie als solche zu bewahren. Dieser Roman einer Reise, wie der Untertitel lautet, führt dagegen immer wieder an den Punkt zurück, wo die Katze sitzt. Sie ist ja schon da, bevor die Reise richtig losgeht, und das bedeutet, dass die Erzählerin rückwärts reisen wird, um die Katze nicht aus dem Blick zu verlieren. Die Katze, den ruhenden Punkt, an dem man das Wesentliche zu verstehen beginnt, diesseits des ganzen Treibens, des ganzen Reisens. Adieu voyages, heisst es bei Lévi-Strauss. Das könnte das Motto dieses Romans sein, der nicht nur die Katze im Blick behält, sondern in der Rückwärtsbewegung auch immer mehr in den Blick bekommt, jene frühere Reise mit den Indienfahreren, aber auch viel weiter Zurückliegendes, so etwa das Kind, das in der Küche der Grossmutter vom Mond träumt, von einer Mondfahrt, und vor dem noch das „Geglitzer der Oberflächen, der Tage, der Namen und Destinationen“ liegt. 

Rückwärts bedeutet aber nicht, dass es nicht vorwärts geht in der Geschichte, im Gegenteil, sie entwickelt einen starken Sog, man folgt den Etappen dieser Reise gespannt, will nicht nur wissen, wohin es als Nächstes geht, wem man als Nächstes begegnet, sondern auch, oder vielleicht sogar vor allem, was für Träume, Phantasien, frei schwingende poetische Assoziationen der Reisenden zufliegen werden. „Alle sind sie da“, heisst es bei einem Besuch des Teppichmuseums von Teheran, „im Dämmerlicht der Teppiche, unzugänglich und aufgehoben. Getrennt von ihren Landschaften, ihren Herden, dem Gewicht der Körper, die auf ihnen ruhen, schlafen, sterben. Sind wir durch die Tunnel gekommen, durch Zeit und Raum geglitten. Im Licht des Museums, seiner verwunschenen Sammlung der Gärten, Wege, Routen und Spuren der Nomaden, bin ich in die Ferne geraten.“ 

Dahin möchte die Leserin mitgeraten, mitgenommen werden, um dann mit der gleichen Leichtigkeit wie die Erzählerin die doppelte Reise zu machen, die reale und die im Kopf. Wobei doppelt zu wenig gesagt ist, die Reise vervielfacht sich, je länger sie dauert, faltet sich auf, es erscheinen Städte und Länder am rückwärtigen Horizont, New York etwa, Detroit, Delhi, Kyoto, Bern, Giessen, und mit ihnen die Bilder, die Unterfangen, die Stimmungen früherer Reisen. Die aktuelle Persienfahrt bleibt aber Angelpunkt, mit allen ihren konkreten Alltäglichkeiten, den Plastikstühlen beim Karottensaft-Stand, dem zu grossen Tiefkühler im zu kleinen Laden, dem kühnen Outfit der neuen Bekannten Hosna, den Taxifahrern. 

Ja, die Taxifahrer, für viele Reisende auf der ganzen Welt ein erster Kontakt mit dem fremden Land und in Reiseberichten gern als Topos verwendet. Nur, die „Taxifahrer dieser Stadt sind Wind, Sand Land. Wächter der Wege, überbringen Entfernungen, ihre Botschaften sind verborgene Gebiete. Sie erschaffen Straßen, Wege, Autos, sind Reifen, Lichter, Motoren. Als Nomaden kennen sie den Fahrtwind und die Richtungen, die sich schneller drehen, als wir folgen können.“ 

So ein Reisebericht ist das eben, er schert sich um die Topoi und macht gerade mit dieser Freiheit die Lektüre zum Vergnügen. Was gerade in diesen Tagen, da aus dem Iran erschütternde Nachrichten kommen, der Vielschichtigkeit und kulturellen Vielfalt des grossen Landes auf eine, man muss es so sagen, liebevolle Art gerecht wird.

Friederike Kretzen: Bild vom Bild vom großen Mond. Dörlemann Verlag Zürich 2022. 285 S.

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Einführung Buchvernissage von Samuel Moser: Bild vom Bild vom grossen Mond  https://kretzen.info/einfuehrung-buchvernissage-von-samuel-moser-bild-vom-bild-vom-grossen-mond/ Fri, 16 Sep 2022 15:29:36 +0000 https://kretzen.info/?p=819 Einführung Buchvernissage von Samuel Moser: Bild vom Bild vom grossen Mond  weiterlesen ]]> Literaturhaus Basel, 8. September 2022

Vor vier Jahren, nach dem letzten Buch von Friederike Kretzen, der «Schule der Indienfahrer», dachte ich: das ist nun das Ende. Weiter geht’s nicht mehr. Die mehr oder minder muntere Truppe, die wir schon aus vielen ihrer Bücher kannten, hatte ihre letzte Mission erfüllt, wenn auch ohne Erfolg, aber doch. Zeit sich zu trennen. 

Und nun schreibt Friederike Kretzen in ihrem «Bild vom Bild vom grossen Mond», es habe doch über dem Ende der «Schule der Indienfahrer» gestanden: «Fortsetzung folgt». Immerhin formuliert sie es als Frage. So ganz sicher ist sie sich auch nicht. Vielleicht legt sie sich das ja bloss zurecht. Einfach weil sie erfahren musste, dass sie nichts losgeworden ist seither, dass sie aus der Schule der Fahrenden immer noch nicht rausgekommen ist.

Wie auch immer: es geht weiter. Auch die Truppe ist wieder da, diesmal nicht in Indien, sondern in Persien. Und auch wenn die Erzählerin diesmal alleine reist: Natascha, Paul, Camille, Kamal, Abdul, Helmudo, Véronique und wie sie alle heissen sind da, nicht physisch, aber im Kopf der Erzählerin, die auch jetzt wieder Véronique heissen könnte. Sind sind da, nicht bloss erinnert, sondern als Partner ihrer imaginierten Gespräche, als Empfänger ihrer vielleicht nie ankommenden Botschaften. Wenn Friederike Kretzen reist, dann reist eben immer alles mit, ihr ganzes bisheriges Leben, ihr ganzes Reisen und ihr ganzes Werk, ihr ganzes Reisewerk. Und wenn man als Leserin oder Leser mit ihr reist, macht man nicht nur eine Reise mit ihr, sondern immer alle ihre Reisen. Auch in einem Persienbuch, als das man das «Bild vom Bild vom grossen Mond» gerne bezeichnen möchte, ist man fast nahtlos in Paris, Indien oder Detroit. Als gäbe es keine Distanzen. Als wäre alles gleichermassen präsent – oder gar nie wirklich präsent gewesen. Im Fall von Detroit zum Beispiel sind wir nicht in Detroit, sondern in einem Film über Detroit, jetzt wie damals, denn Detroit war immer schon nicht Detroit, sondern ein Fim über Detroit. 

Friederike Kretzens Koffer haben tatsächlich doppelte und mehr als doppelte Böden, wenn ich sie mir auch höchstens mit Handgepäck reisend vorstellen will. Denn raumgreifend, sich und ihr Leben ausbreitend ist sie ja auch beim Schreiben nicht. Nicht auswandern, nicht irgendwo sich niederlassen, nicht Kolonien gründen will sie, sondern: vorbeiziehen, sich treiben lassen, nomadisch, auf leisen Sohlen. Eine Fremde bleiben in der Fremde, wo sie nichts verloren hat, wie man so treffend falsch zu sagen pflegt. 

Man kann im «Bild vom Bild vom grossen Mond» viel über Teheran, Isfahan, über Persien und den Iran erfahren. Auch über die Grenze zwischen Okzident und Orient, ebenso oft gezogen wie überschritten, in den Köpfen hüben und drüben, und oft genug auch nicht nur in den Köpfen. Man kann aber auch erleben, dass Reisen nichts mit Sehenswürdigkeiten zu tun hat. Jedoch viel mit der Würde einer Sehenden, der nichts zu nahe kommt und die für alles offen bleibt. So dass ihr alles des Sehens würdig wird. Egal wo. Es geht um die Imponderabilien, um die Räume um die Dinge herum: die Anfahrten, die Wegfahrten, es geht um Kreisel, Vorgärten, Hinterhäuser. Es geht um das, was vor den Museen passiert. Und selbst im Museum sind es dann die dösenden Besucher, die die Erzählerin in ihren Bann ziehen, bis sie selber hinübergleitet in eine Welt, in der die Zeiten und Räume sich derart dehnen, dass alles oder nichts mehr Museum ist. In solchen Passagen wird das Reisen Friederike Kretzens zu einem Bereisen des Reisens selbst. 

Im Iran ist sie nicht zum ersten Mal. Aber diesmal ist es anders, keine Durchreise nach Indien, sondern ein Ziel von zwingender Notwendigkeit. Es brauchte dazu allerdings eine Umkehr, eine Art Erweckung oder Verheissung, vielleicht im Nachhinein erst als solche begriffen: vor Mumbai liege gar nicht der Indische Ozean, sondern das Arabische Meer, hatte ihr einmal jemand in Mumbai gesagt. Da wandte sich ihr Blick um und zurück und begriff: auch der Orient hat seinen Orient, und der liegt in seinem Westen, in Persien eben. Und dieses Persien liegt und lag immer schon in der Erzählerin Friederike Kretzen selbst. Persien ist der Mond, auf den sie als Kind mit den andern Kindern im vorweihnächtlichen Kindertheater reiste, um von der Erde zu träumen. Und deshalb darf der Iran Friederike Kretzens auch jetzt noch Persien heissen. 

Die weiteste Reise, eine endlose Reise, mache ich mit Friederike Kretzen also dahin, wo sie Kind ist und war. In den  Hof ihrer Grossmutter in Leverkusen, wo sie in den im Wind zum Trocknen aufgehängten Leintüchern mit den Schatten spielt und das Kino erfindet, in dem sie dann ihr Leben lang bleiben möchte. Oder in die Küche der Grossmutter, wo sie am Tisch sitzt und in ein Heft schreibt, Strafaufgaben wegen ihrer Schreibschwäche, und dabei früh schon lernt, dass Fehler die Sprache erst in Gang setzen. Dass die Schwächen die Stärken sind und die Schwachen die Starken, die Kinder eben.  

Weggehen von zuhause ist, wie es im Roman heisst, «die Übersiedlung in ein fernes Gebiet meiner selbst». Dieses Gebiet ist nicht nur das der Kindheit, sondern auch das der Toten. Beide Gebiete grenzen bei Friederike Kretzen zwingend aneinander. Auch die Toten haben die Stärke der Schwachen. Auch Friedhöfe und Museen prägen Friederike Kretzens Reiseerlebnisse. Friedhöfe wie Museen, Museen wie Friedhöfe. Dabei geht es nicht nur um Gedächtnis, Geschichte, um unsere eigene Zeit. «Die Verbindung mit den Toten» sagt die Erzählerin, «ist wie die mit den Wörtern. Ohne das Gespräch mit ihnen haben wir keine Sprache zu sagen, wer ist. Sie sind die andere Wirklichkeit, das zusätzliche Licht.» 

Es ist dieses Gespräch mit den Wörtern, das auch das schreibende Kind an Grossmutters Küchentisch führt. Überall taucht es auf in Friederike Kretzens Buch, schon auf der ersten Seite sitzt es da –  in Isfahan – und schreibt in ein Heft. Bis es im vierunddreissigsten und letzten Kapitel der Erzählerin buchstäblich das Heft in die Hand gibt, in dem vielleicht steht, wie ein Kind an einem Tisch sitzt und im vierunddreissigsten Kapitel usw., welches dann also vielleicht wieder nicht das allerletzte Kapitel Friederike Kretzens gewesen sein wird. Denn in diesem vierunddreissigsten Kapitel steht auch, dass dieses Kind sie erwartet, seitdem sie es in Isfahan gesehen hat. 

Und so ist dem Buch etwas Grossartiges gelungen: am Ende am Anfang zu sein und genau das, was wir alle doch hinter uns haben, vor sich gebracht zu haben: die Kindheit. Unter anderem natürlich. Oder, und das heisst es eben auch: das Buch, das die Erzählerin schreiben möchte – und das also nicht das Buch ist, das wir jetzt in den Händen halten. Schreiben und Reisen, so wie Friederike Kretzen es versteht, heisst eben nicht Ankommen, ein Ziel erreichen, sondern Weggehen, Anfangen. Wäre es eine Schule, so wäre sie eine, die das Scheitern zwar nicht als Lernziel hat, denn das kann man nicht, aber es doch für kurze, vielleicht auch lange Augenblicke zulässt.  

Für solche Augenblicke hat Friederike Kretzens Roman buchstäblich eine Katze im Sack. Es ist die Katze, die am Ende von Claude Lévi-Strauss «Traurige Tropen» sitzt, die notabene mit dem Satz beginnen: «Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende». Und trotzdem hat Lévi-Strauss ein Leben lang nichts anderes getan. Ein Fehler war es nicht. Aber gewiss ein Widerspruch. Und nur der Blick, der Austausch eines Blicks mit der Katze, erlaube es ihm, schreibt er, diesen Widerspruch auszuhalten, nicht für lange, für einen Augen-Blick eben. 

Manchmal taucht eine Katze auch bei Friederike Kretzen auf, manchmal spricht sie, manchmal schweigt sie, dann verschwindet sie wieder. Eine Katze eben. Eigentlich wolle ihr Buch, sagt sie, nur das: mit der Katze von Lévi-Strauss das Gespräch anfangen. Ich denke, der Anfang des Anfangens dazu ist ihr gelungen. 

Samuel Moser

Friederike Kretzen: Bild vom Bild vom grossen Mond 

Einführung Buchvernissage im Literaturhaus Basel, 8. September 2022

Samuel Moser

Vor vier Jahren, nach dem letzten Buch von Friederike Kretzen, der «Schule der Indienfahrer», dachte ich: das ist nun das Ende. Weiter geht’s nicht mehr. Die mehr oder minder muntere Truppe, die wir schon aus vielen ihrer Bücher kannten, hatte ihre letzte Mission erfüllt, wenn auch ohne Erfolg, aber doch. Zeit sich zu trennen. 

Und nun schreibt Friederike Kretzen in ihrem «Bild vom Bild vom grossen Mond», es habe doch über dem Ende der «Schule der Indienfahrer» gestanden: «Fortsetzung folgt». Immerhin formuliert sie es als Frage. So ganz sicher ist sie sich auch nicht. Vielleicht legt sie sich das ja bloss zurecht. Einfach weil sie erfahren musste, dass sie nichts losgeworden ist seither, dass sie aus der Schule der Fahrenden immer noch nicht rausgekommen ist.

Wie auch immer: es geht weiter. Auch die Truppe ist wieder da, diesmal nicht in Indien, sondern in Persien. Und auch wenn die Erzählerin diesmal alleine reist: Natascha, Paul, Camille, Kamal, Abdul, Helmudo, Véronique und wie sie alle heissen sind da, nicht physisch, aber im Kopf der Erzählerin, die auch jetzt wieder Véronique heissen könnte. Sind sind da, nicht bloss erinnert, sondern als Partner ihrer imaginierten Gespräche, als Empfänger ihrer vielleicht nie ankommenden Botschaften. Wenn Friederike Kretzen reist, dann reist eben immer alles mit, ihr ganzes bisheriges Leben, ihr ganzes Reisen und ihr ganzes Werk, ihr ganzes Reisewerk. Und wenn man als Leserin oder Leser mit ihr reist, macht man nicht nur eine Reise mit ihr, sondern immer alle ihre Reisen. Auch in einem Persienbuch, als das man das «Bild vom Bild vom grossen Mond» gerne bezeichnen möchte, ist man fast nahtlos in Paris, Indien oder Detroit. Als gäbe es keine Distanzen. Als wäre alles gleichermassen präsent – oder gar nie wirklich präsent gewesen. Im Fall von Detroit zum Beispiel sind wir nicht in Detroit, sondern in einem Film über Detroit, jetzt wie damals, denn Detroit war immer schon nicht Detroit, sondern ein Fim über Detroit. 

Friederike Kretzens Koffer haben tatsächlich doppelte und mehr als doppelte Böden, wenn ich sie mir auch höchstens mit Handgepäck reisend vorstellen will. Denn raumgreifend, sich und ihr Leben ausbreitend ist sie ja auch beim Schreiben nicht. Nicht auswandern, nicht irgendwo sich niederlassen, nicht Kolonien gründen will sie, sondern: vorbeiziehen, sich treiben lassen, nomadisch, auf leisen Sohlen. Eine Fremde bleiben in der Fremde, wo sie nichts verloren hat, wie man so treffend falsch zu sagen pflegt. 

Man kann im «Bild vom Bild vom grossen Mond» viel über Teheran, Isfahan, über Persien und den Iran erfahren. Auch über die Grenze zwischen Okzident und Orient, ebenso oft gezogen wie überschritten, in den Köpfen hüben und drüben, und oft genug auch nicht nur in den Köpfen. Man kann aber auch erleben, dass Reisen nichts mit Sehenswürdigkeiten zu tun hat. Jedoch viel mit der Würde einer Sehenden, der nichts zu nahe kommt und die für alles offen bleibt. So dass ihr alles des Sehens würdig wird. Egal wo. Es geht um die Imponderabilien, um die Räume um die Dinge herum: die Anfahrten, die Wegfahrten, es geht um Kreisel, Vorgärten, Hinterhäuser. Es geht um das, was vor den Museen passiert. Und selbst im Museum sind es dann die dösenden Besucher, die die Erzählerin in ihren Bann ziehen, bis sie selber hinübergleitet in eine Welt, in der die Zeiten und Räume sich derart dehnen, dass alles oder nichts mehr Museum ist. In solchen Passagen wird das Reisen Friederike Kretzens zu einem Bereisen des Reisens selbst. 

Im Iran ist sie nicht zum ersten Mal. Aber diesmal ist es anders, keine Durchreise nach Indien, sondern ein Ziel von zwingender Notwendigkeit. Es brauchte dazu allerdings eine Umkehr, eine Art Erweckung oder Verheissung, vielleicht im Nachhinein erst als solche begriffen: vor Mumbai liege gar nicht der Indische Ozean, sondern das Arabische Meer, hatte ihr einmal jemand in Mumbai gesagt. Da wandte sich ihr Blick um und zurück und begriff: auch der Orient hat seinen Orient, und der liegt in seinem Westen, in Persien eben. Und dieses Persien liegt und lag immer schon in der Erzählerin Friederike Kretzen selbst. Persien ist der Mond, auf den sie als Kind mit den andern Kindern im vorweihnächtlichen Kindertheater reiste, um von der Erde zu träumen. Und deshalb darf der Iran Friederike Kretzens auch jetzt noch Persien heissen. 

Die weiteste Reise, eine endlose Reise, mache ich mit Friederike Kretzen also dahin, wo sie Kind ist und war. In den  Hof ihrer Grossmutter in Leverkusen, wo sie in den im Wind zum Trocknen aufgehängten Leintüchern mit den Schatten spielt und das Kino erfindet, in dem sie dann ihr Leben lang bleiben möchte. Oder in die Küche der Grossmutter, wo sie am Tisch sitzt und in ein Heft schreibt, Strafaufgaben wegen ihrer Schreibschwäche, und dabei früh schon lernt, dass Fehler die Sprache erst in Gang setzen. Dass die Schwächen die Stärken sind und die Schwachen die Starken, die Kinder eben.  

Weggehen von zuhause ist, wie es im Roman heisst, «die Übersiedlung in ein fernes Gebiet meiner selbst». Dieses Gebiet ist nicht nur das der Kindheit, sondern auch das der Toten. Beide Gebiete grenzen bei Friederike Kretzen zwingend aneinander. Auch die Toten haben die Stärke der Schwachen. Auch Friedhöfe und Museen prägen Friederike Kretzens Reiseerlebnisse. Friedhöfe wie Museen, Museen wie Friedhöfe. Dabei geht es nicht nur um Gedächtnis, Geschichte, um unsere eigene Zeit. «Die Verbindung mit den Toten» sagt die Erzählerin, «ist wie die mit den Wörtern. Ohne das Gespräch mit ihnen haben wir keine Sprache zu sagen, wer ist. Sie sind die andere Wirklichkeit, das zusätzliche Licht.» 

Es ist dieses Gespräch mit den Wörtern, das auch das schreibende Kind an Grossmutters Küchentisch führt. Überall taucht es auf in Friederike Kretzens Buch, schon auf der ersten Seite sitzt es da –  in Isfahan – und schreibt in ein Heft. Bis es im vierunddreissigsten und letzten Kapitel der Erzählerin buchstäblich das Heft in die Hand gibt, in dem vielleicht steht, wie ein Kind an einem Tisch sitzt und im vierunddreissigsten Kapitel usw., welches dann also vielleicht wieder nicht das allerletzte Kapitel Friederike Kretzens gewesen sein wird. Denn in diesem vierunddreissigsten Kapitel steht auch, dass dieses Kind sie erwartet, seitdem sie es in Isfahan gesehen hat. 

Und so ist dem Buch etwas Grossartiges gelungen: am Ende am Anfang zu sein und genau das, was wir alle doch hinter uns haben, vor sich gebracht zu haben: die Kindheit. Unter anderem natürlich. Oder, und das heisst es eben auch: das Buch, das die Erzählerin schreiben möchte – und das also nicht das Buch ist, das wir jetzt in den Händen halten. Schreiben und Reisen, so wie Friederike Kretzen es versteht, heisst eben nicht Ankommen, ein Ziel erreichen, sondern Weggehen, Anfangen. Wäre es eine Schule, so wäre sie eine, die das Scheitern zwar nicht als Lernziel hat, denn das kann man nicht, aber es doch für kurze, vielleicht auch lange Augenblicke zulässt.  

Für solche Augenblicke hat Friederike Kretzens Roman buchstäblich eine Katze im Sack. Es ist die Katze, die am Ende von Claude Lévi-Strauss «Traurige Tropen» sitzt, die notabene mit dem Satz beginnen: «Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende». Und trotzdem hat Lévi-Strauss ein Leben lang nichts anderes getan. Ein Fehler war es nicht. Aber gewiss ein Widerspruch. Und nur der Blick, der Austausch eines Blicks mit der Katze, erlaube es ihm, schreibt er, diesen Widerspruch auszuhalten, nicht für lange, für einen Augen-Blick eben. 

Manchmal taucht eine Katze auch bei Friederike Kretzen auf, manchmal spricht sie, manchmal schweigt sie, dann verschwindet sie wieder. Eine Katze eben. Eigentlich wolle ihr Buch, sagt sie, nur das: mit der Katze von Lévi-Strauss das Gespräch anfangen. Ich denke, der Anfang des Anfangens dazu ist ihr gelungen. 

Samuel Moser

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