Wie geht Verwandlung?

Ausschreibung SS 03 24.3.-28.3.03

Wie geht Verwandlung?

Verwandlung ist anders als Veränderung. Wer zu einem Baum geworden ist, ist deutlich verwandelt. Doch auch wer eine Mutter geworden ist, oder ein Vater. Hier noch von einer Veränderung zu sprechen, wäre ein Verkennen der Gewalt, die da gewirkt hat. Ovids Metamorphosen handeln von dieser Gewalt, bei ihm eignet sie den Göttern.
Auch die Märchen sind voll mit Verwandlungen, die der Arbeit der Wünsche entwachsen. Sowohl die Metamorphosen als auch die Märchen sind Sammlungen von Lebensverläufen, in die unterschiedliche Verwandlungen jäh eingebrochen sind. Deren innerste Gesetzmässigkeit ist die Unumkehrbarkeit des Verwandelten. Dem ist nur mit erneuter Verwandlung zu begegnen. Wege zurück gibt es nicht, nur Rekonstruktionen im Medium von Sprache und Erzählung.
Was uns als Sammlungen von Märchen und Geschichten der Verwandlung von Menschen in Tiere und Blumen und Pflanzen so leicht daher kommt, gibt uns einen tiefen Einblick in das, was nicht umzukehren ist, was unbestimmt in uns und an unserem Leben wirkt, was uns darin aber auch in einem
weiteren Kontext erscheinen lässt. Wir sind überall umgeben von und einbegriffen in Bedingungen, Möglichkeiten, Zuständen und Wirkungen, die wir vielleicht genauer fassen können, wenn wir wahrnehmen, dass ein Mensch ein Baum sein kann und ein Vogel einmal ein verräterischer Mensch war. Gewiss, dies sind sprachliche Formen und keine Vögel oder Bäume oder Menschen, und doch sagen wir zu Menschen und Vögeln und Bäumen, Menschen, Vögel, Bäume. Sind wir mit Sprache und Benennen und Schreiben und Erzählen nicht ständig in einem Verwandeln tätig, das uns als solches, – nämlich unumkehrbar und in gewisse Weise nicht vorhersehbar, allerdings alles mit sich reissend, – gar nicht bewusst ist?

Vielleicht sollte uns unsere vielfältige und auch oft unbedingte Bedingtheit deutlicher sein. Vielleicht können wir sie zu denken versuchen. Probeweise, eine Woche lang, würde ich gerne mit Ihnen zusammen aufnehmen, was wir tun, und was wir meinen zu tun, und wieviel anderes dazwischen steckt, das wir nicht wissen, aber doch kennen. Was das sein kann, und wie das ist, dem würde ich gerne mit Ihnen durch Aufschreiben, Sammeln und Lesen nachforschen. Denn was wir in den Sammlungen von Verwandlungsgeschicken vor uns haben, sind in gewisser Weise systematisierte Bewegungsverläufe von Leben. Einige Biegungen und Schräglagen hinzuzufügen, das würde ich gerne mit Ihnen erproben.

Empfohlene Literatur:
Ovid: Metamorphosen, Stuttgart 1958, Uebsersetzt und Herausgegeben von Hermann Breitenbach
Aby Warburg: Schlangenritual, Berlin 1996
Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen
Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien, Die Sonette an Orpheus,
Stuttgart, 1997