Wem gehört Detroit? WOZ Nr. 49  4.12.14

Die US-Stadt ist schon viele Tode gestorben. Sollte sie sich nicht endlich vom Mythos verabschieden, immer wieder auferstehen zu können, um stattdessen die Menschen und das Leben zu suchen, dort wo sie sind?

Wer nach Detroit kommt, sollte unterschreiben müssen, dass es  in  eigener   Verantwortung  geschieht.  Es kann gefährlich sein, dorthin  zu reisen,  er oder sie könnte überfallen werden, sich anstecken, von schrecklicher Traurigkeit  ergriffen, von einer  Kugel  getroffen,  überfahren, durch  Chlorhühnchen vergiftet werden, einem alt gewordenen Hamburger erliegen oder eine Ohnmacht erleiden.  Die zweiseitige Erklärung würde bei der Einreise, nachdem  sie unterschrieben worden  ist, in einer Holzkiste von einem Mitarbeiter der Homeland-Security-Abteilung  eingesammelt. Danach  wäre  der  Mensch  frei, sich  in der Stadt zu bewegen.

Vom Flughafen gibt es keine öffentlichen Verkehrsmittel nach Downtown. In der ganzen Stadt – sie ist so gross wie Boston und New York zusammen – verkehren  nur wenige  Buslinien. Sie fahren an die Ränder der Stadt und wieder  zurück. Wer nicht an einer Linie wohnt, muss zu Fuss gehen, ein Auto haben oder da bleiben, wo er ist. In der Innenstadt gibt es eine Hochbahn.  Sie heisst People Mover, fährt im Kreis, ist 4,7 Kilometer lang und wird  von TouristInnen und ein paar wenigen Angestellten benutzt. Nach wie vor ist das Herz der Autostadt das Auto. Viele Modelle dieser Herzen wurden hier hergestellt, einige wurden nach Indianerstämmen wie Cherokee oder Pontiac benannt. Als ich an der Fassade  meines  Hotels,  eines alten, verzierten  Hochhauses, hinaufschaue, habe ich das Gefühl,  irgendwas stimmt  nicht  mit  dem  Himmel.  Hoch,  weit und leer, wirkt er doch flach, eng und kurz. Seine Farbe ist fahl, wenn auch keine einzige Wolke zu sehen ist. Einzelne Tauben tauchen manchmal darin auf, Möwen vom Fluss und von den Grossen Seen, eine Schwalbe, vielleicht immer dieselbe, Flugzeuge.

Die Luft wirkt wie nach einer langen Explosion. Als wäre sie voller zerstörter, pulverisierter Materie, die langsam, kaum merklich, zur Erde sinkt. Vergeblich warte ich am Abend darauf, dass der Mond aufgeht; hier schaut die Nacht zu keinem Stern.

Geister  sind immer  die Indianer

Downtown Detroit, das  sind  ein paar  wenige  Strassen,  in denen nicht alle  Hochhäuser leer  stehen, aber die meisten.  Das höchste  ist das  Chrysler-Gebäude. Die Strassen  werden  tagsüber von der Musik der sechziger und siebziger Jahre beschallt, die an die grossen Tage des Souls in der Stadt, an die Motown Records mit Stevie Wonder,  den Supremes, den Jackson Five erinnern. Smokey  Robinsons  Hit «Tears  of a Clown» tönt durch die Strassenschluchten, und schon bin ich in einer Geisterstadt unterwegs. Geister sind in den USA immer die Indianer. Vielleicht sind sie die Musiker dieses Lieds und ihre toten Körper die  Instrumente.  Wurden Smokey  Robinsons  Clownstränen für Indianer vergossen?

Am Abend leert sich das ohnehin leere Zentrum, und dann  sind  auch  kaum  noch  Autos  unterwegs. Freie  Parkflä- chen rundum. Nur sehr wenige Menschen, die auf der Strasse leben. Belebter ist es bloss in der Nähe des Casinos und des neu gebauten  Baseballstadions der Detroit Tigers.  Auf dessen Toren,  wie  die  Heiligen  auf  den  Simsen  der  K irchen,  stehen mit erhobenen Tatzen die Tiger, zeigen ihre Zähne, ihr wilder Schrei in Tigerpose erstarrt.

An einer Strassengabelung  steht das Coney Island Hotdog Restaurant, blau-rot-weiss gestreifte Markisen und Aufschriften.  Im Inneren hartes  Neonlicht.   Das  einzige   Lokal, das am Abend noch geöffnet hat. Der Kellner, ein junger Kerl, freundlich, mit schleifendem Akzent, will  wissen,  von wo wir kommen. Er hat deutsches Blut in sich, sagt er, von der Mutter seines Vaters. Wir bestellen das «Wing Ding Menu» und einen griechischen Salat, den wir am Ende des Tags aus seinem  Zel- lophansarg befreien.  Das Lokal  wird  von niemandem ausser uns besucht und leuchtet. Als wir gehen, winken die Kellner und sagen: «Hey guys»,  und: «Come again.»

Wem gehört Detroit?Strassen Detroits sind nicht nur in Downtown verlassen. Überall  stehen Häuser  und Fabriken mit blinden  Fenstern, vernagelt,  ausgebrannt, die Plätze von Büschen,  kleinen Bäumen,  hartem  Präriegras überwachsen. Die Leere, die dich in  Detroit  empfängt,  ist  keine  lebendige. Sie  hat  nichts  mit einer Öffnung, einem Innehalten oder Zögern zu tun. Was hier noch übrig ist, steht in keinem Zusammenhang; es ist ganz allein. Nirgendwo sehe ich ein spielendes Kind, keinen Eishändler mit seinem Wagen, keinen Hund, keinen lachenden Passanten. Da sind sie wieder, die «Tears of a Clown». Die Töne klingen hier frei herum.  In Menschen,  Plätzen, Häusern,  sogar  in den wenigen Vögeln liegt eine Schwere, die das zu sein scheint, was alles auf der Erde festhält. Schliesslich siedelt die Stadt in Amerika und in der Landschaft des amerikanischen Traums. Der nicht aufgehört hat, wirklich, abgründig und endlos zu sein.

Am Ende  von  Michelangelo  Antonionis  Film  «Zabriskie Point», gedreht 1970 in der gewalttätigsten Phase der amerikanischen Studentenbewegung, sehen wir, wie ein Haus, Teil eines gigantischen Siedlungsprojekts in der Wüste Kaliforniens, in die Luft fliegt. Es geht nicht nur einmal in die Luft, sondern wieder und wieder (dreizehn Mal). In Zeitlupe schweben die Küche, der Eisschrank, Lebensmittel, gerupfte Hühnchen, Stühle, Kleider, Vorhänge auseinander.  Alles wird  aus  seiner Form gesprengt, geht in die Luft. Als die Dinge, endlich  entlassen  aus ihrem täglichen  Gebrauch,   wieder   in  eine  freiere   Atmosphäre  vordringen, wird das Licht im Film hell und blau. All dies geschieht vor den Augen einer jungen Frau, die in der Nähe des Hauses steht. Schliesslich wendet sie sich ab, steigt ins Auto, fährt davon. Am Anfang des Films war sie eine junge Frau, am Ende ist sie zur Indianerin   geworden, mit  Stirnband,  Mokassins, Edelsteinkette um den Hals. Hinter ihrem Rücken gehen die Explosionen weiter, es scheint sogar, als löse sie diese aus. Gerade hat sie erfahren, dass ihr Freund von der Polizei getötet worden ist. Er ist mit einem kleinen  Privatjet unerlaubterweise vom Flughafen  in Los Angeles weggeflogen und wird, als er zurückkehren will, erschossen. Es ist diese Unverhältnismässigkeit, auch Masslosigkeit, die die Explosionen auslöst, mit denen der Film nicht gut endet. Nur die Indianerin,  sie bleibt, an ihr, so steht es schon bei James Fenimore Cooper zu lesen, kann nichts verloren gehen.

Eine Schweizer Künstlerin, die in Detroit auf den breiten Strassen Fahrrad fährt, erzählte mir, dass vor kurzem eine Delegation führender RepräsentantInnen der Berliner Partyszene um Helene Hegemann in der Stadt war. Auf Anhieb fanden sie: «Detroit, das sind wir.» Dann fuhren sie wieder ab. In Zukunft müssen sie gar nicht mehr hierherkommen, sie sind ja schon  da. So haben es vor ihnen schon andere  Eroberer  gemacht.  In Bochum, auch so eine Autostadt wie Detroit, sieht man das ein bisschen anders. Dort ist gerade eine einjährige Veranstaltungsreihe unter dem Motto «Wir sind nicht Detroit» zu Ende gegangen.

Immer wieder heisst es in Berichten und Zeitungen, die Stadt käme gerade wieder, das sei spannend. Viele KünstlerInnen würden dort  hinziehen,  KuratorInnen würden ganze  Strassen auf kaufen  und  Ausstellungen vorbereiten. Detroit  würde sich wieder  erholen. «Risen from the Ashes», wie auf Häuserfassaden geschrieben steht, in Fenstern, die mit Brettern zugenagelt sind. Doch was  kommt nach dem Ende der  Stadt? Dem wievielten Ende? Und welchem, von wem? Gibt es überhaupt eins? Ist die Realität, die Detroit genannt wird, die Realität Detroits?

Allegorien  der  Gerechtigkeit

Wer ist Detroit? Da ist zum Beispiel  Carlos. Er kommt aus Celle in der Lüneburger Heide. Lebt als Sohn einer Deutschen  und eines amerikanischen GIs seit seiner frühen Jugend in Detroit. Er ist Kunstschmied. In seinem Garten in der Wilkins Street, nicht weit von Downtown, sagt er, hat er Überreste  der Schlacht  von Bloody Run gefunden, als verbündete amerikanische Stämme 1763 während des Pontiac-Aufstands einen Angriff britischer Truppen abwehrten. Zum Beweis lässt er uns von seinem Helfer ein Filmplakat mit Winnetou und Old Shatterhand bringen. «Das befand sich in meinem Garten», sagt er. «Liegt alles herum, du musst nur ein bisschen  graben.» In seiner  Werkstatt  stapeln  sich rostige Eisenfiguren, Allegorien der Gerechtigkeit, der Harmonie,  der Schönheit und alle möglichen Formen von Freiheitsstatuen, mit und ohne Schwert.  Er hat sie gefunden. Auf Halden, an Strassenecken, in Wiesen.  Noch vor kurzem  standen sie auf den grossen Hochhäusern Detroits, zu deren Zierde und zum Schutz vor dem bösen  Blick. So viele  dieser  Häuser  sind  mittlerweile  abgeris- sen, finanziert mit dem letzten Geld, bevor die Stadt 2013 ihren Konkurs  angemeldet hat. Zum Teil hat er in den frühen siebziger Jahren an ihrer Restaurierung gearbeitet. Als sie noch in luftiger Höhe  thronten.  Gerade  von Deutschland gekommen und  konnte gleich die tollsten Arbeiten machen, sagt er. Das war, als sich «MoTown», wie sich Detroit noch immer gerne nennt, gerade mal wieder nach überstandener Automobilindustriekrise und den schlimmsten Rassenunruhen, die es in den sechziger und  siebziger  Jahren in Amerika  gegeben  hatte, wieder  aus seiner  Asche erhob. Detroits Lieblingslegende vom unsterblichen Vogel.

Martin  Luther  King  und  Malcolm  X haben  in Detroit  gekämpft, gewirkt,  Malcom X hat dort gelebt, auf die beiden bezie- hen sich heute noch die AktivistInnen um Grace Lee Boggs, eine chinesischstämmige, 99-jährige Freiheitskämpferin, die in den sechziger Jahren mit K ing und  Malcolm X zusammenarbeitete. Die Gruppe, die sich um sie formiert hat, besteht aus Gewerkschaftern, Soziologinnen, Lehrern, die sich für neue Formen von Arbeit  einsetzen  und  sich  die  Förderung  nachhaltiger,  ökolo– gisch verantwortlicher Gemeinschaftsprojekte auf ihre Fahnen geschrieben haben. Durch lokale, nationale und internationale Netzwerke   von  Aktivistinnen,  Künstlern   und   Intellektuellen wollen  sie neue Wege des Lebens, Denkens und Seins finden, um sich den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu stellen. So steht es in ihrem Grundsatzprogramm.

Zum  Schutz  vor sich selbst

Und da sind 86 Prozent der Bevölkerung Detroits, die Schwarze sind. Von ihnen hat eine Mehrheit keine bezahlte Arbeit. Ich habe sie so gut wie nicht gesehen. Sie sind nicht anwesend im Stadtbild. Gesprochen habe  ich mit keiner  und  keinem,  sie tauchen  nicht einmal  als Kellner  oder  Kellnerinnen auf. Je länger  ich mich in der Stadt aufhalte, umso dringender wird mir die Frage: Wo sind sie, wo sprechen sie, was sprechen sie? Es waren immer Weisse, die für sie sprachen. Als ob sie die Stelle der Indianer eingenommen hätten, von denen auch nichts zu sehen ist, schon lange nicht, und die das immer wiederholte grosse Fehlen Amerikas bis heute geblieben sind, unheimlich und stark wie am ersten Tag.

Erst beim Besuch  einer privaten  Schule  in einer der ärmsten Gegenden  Detroits sehe ich sie dann, gesprochen haben sie auch  hier  nicht. Der Gründer  der Schule  gehört  zum  Kreis  um Grace Lee Boggs. Die Schule besteht seit fünfzehn Jahren, und die K inder  können  sie bis zum Wechsel aufs College  besuchen.  Die LehrerInnen der Schule sind Weisse, die SchülerInnen Schwar- ze. Überall in den Fluren stehen schwarze Wächter. Auf die Frage an den Schulleiter: «Warum die Wächter?»,  sagt er: «Zum Schutz der Schüler  vor sich selbst.»  Sie würden manchmal  explodieren, vor Wut und Verzweiflung einfach um sich schlagen. Dafür. An den Türen zu den Klassenräumen hängen Plakate, auf denen zu lesen steht: «Detroit’s smartest children walk through these doors.»  Es sind Kinder von alleinerziehenden Müttern, die oft mehrere Jobs machen müssen, um ihr Leben und das ihrer Kin– der notdürftig finanzieren zu können. Die Gegend um die Schule gehört zu den ehemals aufstrebenden, weitläufigen Einfamilienhausgebieten, gebaut in den fünfziger Jahren, als die Automobilbranche mal wieder boomte. Jetzt ist es hier grün, grosse Bäu- me, wehendes, hohes  Gras, leere  Grundstücke, auf denen  noch die  Grundrisse der  abgerissenen Häuser,  die  dort  standen,  zu sehen sind. Abgerissen, damit niemand darin wohnen kann, der es nicht darf. Ein Einfamilienhaus mit ein bisschen Garten dazu ist hier schon  für 500 Dollar  zu ersteigern. Oft sind die Häuser völlig   heruntergekommen,  verwittert.   «Abandoned  Houses», wie sie genannt werden. Häufig steht an einem Haus zu lesen, dass es nicht nötig sei einzubrechen, es gebe weder Stahl noch Kupfer  oder sonst ein Metall irgendwo im Haus, alles  schon gestohlen.  Das Gebiet ist riesig,  wir fahren mit dem Auto, zu Fuss wäre es ein bisschen gefährlich, meint der Lehrer. Stolz zeigt er uns verschiedene Projekte des sogenannten Urban Gardening, das einen alternativen  Umgang  mit der Stadt in nachindustrieller Zeit versucht,  wo die AnwohnerInnen Gemüse  anbauen,  um etwas zu essen zu haben. Als alte PflanzerInnen aus dem Süden wissen sie noch, wie es geht. Daneben gibt es dann auch noch Freundschafts- und Friedensgärten, die wie die smarten Kinder, die durch die Türen hindurchgehen, mehr mit der Beschwörung von  Frieden  und  Freundschaft als  mit  der Realität  zu  tun haben. Zwischen Agonie und Aktivismus  hat es der amerikanische Traum immer vorgezogen, das Machenkönnen zu beschwören.

Nach der  Befreiung  des  Menschen vom Joch  der  Arbeit durch deren Technisierung ist daraus das Joch einer Arbeit an der  Nichtarbeit  geworden.  Eine  zerstörerische  Arbeit  oft,  von der die Wenigsten satt werden  können.  Es gibt auch  schon  Zie- genherden, die zwischen den Häusern herumziehen und die es gleich am zweiten Tag ihres Weidens im Juni 2014 als Schlagzeile in die «New York Times» geschafft haben.

In die falsche  Richtung

An einem frühen Abend bin ich vor lauter Leere des Raums in die falsche  Richtung  gelaufen.  Anstatt ins Zentrum ging ich an den Rand der Stadt und habe es lange nicht bemerkt. Dabei kam ich an einem Veterans Center vorbei. Ein grosses Schild stand vor dem Haus, auf dem zu lesen war, für wen dieses Center Beratung, Trauerarbeit und multisystemische Therapie anzubieten hätte: Veteranen und Kriegsfamilien, die Probleme im Zusammenhang mit  dem  Zweiten  Weltkrieg hätten,  oder  mit  Korea,  Vietnam, dem Libanon, mit Grenada, Panama, dem Persischen Golf, mit Somalia, Afghanistan, dem Irak.

Was für eine Reihung war das? Ist Amerika seit dem ZweitenWeltkrieg nicht mehr aus dem Kriegführen herausgekommen? Ein Land im ständigen Krieg? Dessen Reichtum und Verletzlich- keit aus den Verflechtungen des militärisch-industriellen Kom- plexes entstanden sind, vor dem Präsident Dwight D. Eisenhower in seiner Abschiedsrede 1961 gewarnt  hat? Und ist nicht ein so harter  Kapitalismus,  wie  er  in  Detroit  mit  seiner  Stahlindustrie geherrscht hat und herrscht, eine Form von Kriegsführung? Jedenfalls  ist er zerstörerisch. Ist Amerika ein Land, das seine eigene  Bevölkerung bekriegt?  Ist dieser  Krieg rassistisch?  Zu sehen in Detroit, und zwar  an seiner  Unsichtbarkeit? All das ging mir durch den Kopf, als ich dieses Schild sah, mit den Namen von Ländern, die nicht für Länder, sondern für Kriege standen.

«Ladies  and Gentlemen, welcome  to Death, Destruction, and Detroit»,  so lauten die ersten Worte  aus der gleichnamigen Oper von Bob Wilson,  1979 das erste Mal an der Schaubühne in Berlin  aufgeführt.  «Death, Destruction &  Detroit». Dieser Titel hat sich mir damals  sofort tief eingeprägt, nennt er doch in einem Atemzug, was Detroit zu einem solch brutalen, unüber– setzbaren Ort amerikanischer Industriegeschichte macht.

In Wilsons Oper treten zwei antipodische Figuren  auf, um die sich die Bilder und Texte konzentrieren. Die eine Figur ist Rudolf Hess, Naziverbrecher, der nicht sterben  will  oder kann. Die andere  Figur ist Franz Kafka, der sich weigert  zu leben. Ein bisschen verkürzt formuliert liesse sich sagen, dass die Unfähigkeit zu sterben Tod und Zerstörung hervorbringt und damit an kein Ende kommt. Die andere Haltung ist die der Kunst, die es erlaubt, das, was als Realität gilt, zurückzuweisen. In der Weigerung, Leben zu nennen, was Leben genannt wird, ergibt sich die Möglichkeit, Zerstörung,  die aus dem Nichtsterbenkönnen, dem Untoten entsteht, zu benennen und zu schreiben. Wie es Kafka getan hat.

Was wäre also ein Detroit, das sich weigerte zu leben? Das seine Kraft, seinen Widerstand, seine Gewissheit daraus bezöge, nicht leben zu wollen?  Jedenfalls nicht mehr länger  im Mythos befangen, den die Stadt an allen Ecken und Enden für sich bemüht. Was wäre Phönix, wenn er einfach nicht mehr auffliegen würde? Wenn er sich weigerte, neu zu erstehen?

Vielleicht wäre genau dies die Aufgabe, um die es in Detroit gehen könnte: Feuer, Brennen, Asche und erneuter  Triumph,  all dies Asche sein zu lassen, all diese Anstrengungen hinter sich zu lassen. Um in den Ruinen das zu sehen, auszugraben, hervorzuarbeiten, was nicht aufgehört hat, da zu sein.