Was ist schweizerisch?

Lange Zeit habe ich ohne jeden Begriff oder Vorstellung, was die Schweiz und das Schweizerische wären, verbracht. Ich fuhr auch nicht hin, sondern nach Indien. Das änderte sich erst am Ende des Studiums, als ich mit zwei Freunden eine kurz entschlossene Reise nach Italien unternahm. Und diesmal fuhren wir durch die Schweiz. Einer meiner Freunde kannte einen Musiker in Luzern und wir dachten, dass wäre doch eine prima Idee, bei ihm zu übernachten. Wo genau er wohnte, wussten wir nicht. Wir fuhren erst mal hin. Als wir am späten Abend in Luzern ankamen, gingen wir zielstrebig in ein Kellerlokal, wo wir denn gleich auf den Musiker trafen, und wir konnten auch bei ihm in der Wohngemeinschaft übernachten. Am Morgen, wir wollten früh weiter, sassen wir in der Küche, tranken Kaffee, als die Türe aufging und eine junge, nackte Frau eintrat. Sie grüsste freundlich und liess sich von uns nicht weiter stören. So zog sie sich einen Stuhl vor den Küchenschrank, kletterte hinauf, streckte sich auf die Zehenspitzen, wühlte oben auf dem Schrank herum, bis sie gefunden hatte, was sie suchte, kletterte wieder herunter, nickte uns nochmals zu und verschwand. Ihr Auftritt traf uns wie ein Traum. Wo sonst war solch zierdeloser Anmut zu begegnen?
Niemand von uns wagte etwas zu sagen, und fluchtartig fuhren wir weiter. Auch Wochen später wussten wir nicht, ob wir diese Szene in der Küche einer Wohngemeinschaft mitten in Luzern wirklich erlebt hatten.

Heute, nach mehr als zwanzig Jahren, die ich in der Schweiz lebe, erinnere ich mich dieser Szene als etwas, das meine Vorstellung von der Schweiz im Inneren bewohnt. Als könnte dort wieder jeden Moment die Türe aufgehen, und etwas träte ein, das in seiner Selbstvergessenheit nicht anders als vollkommen genannt werden könnte. Zwar bin ich stets auch Teil dieses Geschehens, nur weiss ich nicht wie. Doch vielleicht ist es genau dieses Nichtwissen, was da eintritt und mein Teil des Geschehens kann nur sein, dabei zu bleiben.
In „Les Carabiniers“, einem frühen Film des weltberühmten Schweizers Godard, sieht man einen Soldaten im Kino sitzen, der vor sich auf der Leinwand einer nackten Schönen in der Badewanne zusieht. Soldat, der er ist, reicht ihm das Ansehen nicht, er will die Frau auch anfassen und schreitet zur Tat. Doch kaum hat er in seiner Gier schliesslich die Leinwand runtergerissen, bleibt die Frau weiterhin ungestört in ihrer Badewanne auf der ebenso nackten Kinorückwand sichtbar. Wenn wir nach dem Schweizerischen fragen, verhalten wir uns da nicht ein bisschen wie der Soldat? Wir sind im Kino und wollen, dass es ausserdem auch noch wirklich sei. Dabei ist längst alles da. Ich werde das Gefühl nicht los, dass die Frage nach dem Schweizerischem eine Art Aufforderung ist, zum Schweizerischen und mit ihm zu sprechen. Vielleicht ist es ein bisschen allein, langweilt sich und möchte gerne was erleben. So dass wir anstelle hier weiter nach einer Antwort zu suchen, ein bisschen wie früher als Kinder vor die Türe gehen sollten, was spielen und manchmal, in Momenten der Selbstvergessenheit, uns in den Arm kneifen und uns fragen: Ist das jetzt Schweizerisch?

Basel 1.9.08
Friederike Kretzen