Vorwort zu A.K. Ulrich Schriftkindheiten, Zürich 2002

„Jedes kleine Spiel hilft.“

1″… jenes Sich-Verhüllen im Buchstabenschnee“

Je näher wir ein Wort anschauen, um so ferner schaut es zurück, sagt Karl Kraus.

Kindheit

Können Sie es sehen? Können Sie Kinder sehen in der Kindheit? Ist Kindheit eine weite Landschaft von Gefühlen? Grossen und kleinen Gefühlen? Und haben Gefühle eine Geschichte? Ist diese Geschichte vielleicht die weite Landschaft, die im Wort Kindheit steckt? Wer oder was steckt also in dem Wort Kindheit? Und wer steckt dahinter? Haben wir womöglich schon immer gewusst, was da drin steckt, und uns doch nicht getraut näher hinzusehen? Immerhin sind wir jahrelang selber Kind gewesen. Oder was war das denn sonst, als wir noch kaum gehen konnten, oft hinfielen, Beine, Arme und Kopf stets voller Schrammen, Löcher und Wunden, und unsere Rede ging oft ähnlich wie Beine, Arme und Kopf auf anderen Wegen. Sogar die Rechtschreibung lief noch lange in die Kreuz und die Quer.
Sind wir also Kinder gewesen, als wir welche waren? Und stehen Kinder für Kindheit? Vielleicht schwirren sie ja nur kurz mal dran vorbei und winken lieber von ferne. Auch hier liesse sich sagen, dass das Verhältnis von Kind zu Kindheit und was für was steht, eine Frage der Entfernung ist. Behalten wir Kind, Kindheit und Entfernung gut im Auge. Verlieren wir dabei nicht aus dem Sinn, dass was wir auf den Füssen stehend wahrnehmen, tatsächlich auf dem Kopf steht. Das heisst, wir sehen immer anders als wir sehen. Wir sehen also richtig und falsch zugleich. Sehen wir, was wir wollen?

2 „War am Anfang Aufrauschen?“

Ist Kindheit eine Art Reservoir für andere Bewegungen, zum Beispiel die des Wachsens? Wie geht Wachsen? Manchmal in Schüben, in umgekehrten Stürzen in die Luft. Manchmal fällt es aber auch flach und das Wachsen verläuft sich. Oder es versteckt sich, zieht sich zurück. Wachsen ist stets ein wenig ungenau, schwer zu bestimmen, wann es beginnt. Endet es? Tut wachsen eigentlich weh? Ist es unheimlich? Für wen?
Wenn Kindheit ein Reservoir von Unheimlichem ist – also eine Sammelstelle, ein Zulaufbecken für was noch nicht ist, vielleicht aber wird –, so ist das Unheimliche der Kindheit ein anderes Unheimliches als das, was wir so bezeichnen. Das Unheimliche der Kindheit gründet sich womöglich gerade darin, dass wir es in der Kindheit nicht so bezeichnet haben, sondern anders. Und ist nicht auch dieses anders Bezeichnen das, was das Unheimliche unheimlich macht, wenn wir es als unheimlich bezeichnen, nämlich nicht mehr anders genug?
Oh weh.

3 „Gegeben wird das Sagen vom Andren her: ‹Hast du Bauchweh?› Ja richtig, Bauchweh.“

Wie wir seit Edgar Allen Poes Geschichte vom Brief wissen, den alle suchen, den keiner findet – obwohl oder gerade weil er für alle sichtbar auf dem Schreibtisch liegt –, ist das beste Versteck das offenste. Doch was ist offen? Offen ist selten das, was als solches deklariert wird. Eher ist es da offen, wo keiner und keine es vermuten.
Viel über und von etwas sprechen und schreiben kann das beste Versteck für das sein, was als Thema vorgegeben wird. Wo viel über etwas debattiert und eine Auseinandersetzung gesucht wird, ist mit relativer Sicherheit davon auszugehen, das da, wo all dies Formulieren seinen Finger drauf legt, die Wunde nicht liegt, und auch kein Hund ist da begraben. Gross über den Daumen gepeilt, könnten wir vielleicht sagen, da, wo besonders viel zu formulieren versucht wird, liegt etwas zugrunde, das sich eben diesem Formulieren entzieht. Dass es an diesen Stellen nicht darauf ankommt, zu schweigen oder nichts zu sagen, dürfte klar sein. Umso mehr allerdings kommt es hier darauf an, die Sprache, die wir verwenden, die wir zu formulieren versuchen, so offen und seismographisch genau wie möglich zu behandeln.
Kinder sind tendenziell diejenigen, die sich der Sprache in ihrer zugreifenden und bestimmenden Verwendung zu entziehen verstehen. Schon allein deswegen, weil sie um ihr Leben in der Sprache ringen, und zwar jedes Kind wieder aufs Neue. Doch ist nicht gerade dieses Sich-Entziehen und Ringen Voraussetzung dafür, dass sich die Sprache auf so etwas wie die Kindheit als Zustand in der Sprache öffnet?
Die Kindheit der Sprache, so liesse sich ein Zustand der Wörter bezeichnen, in dem sie sich ungeheuer wandelbar bewegen, in dem sie klein sind, ganz, disparat und hochempfänglich.

4 „Kinder sind für Erwachsene nur über Texte ‹lesbar›; sie sind vergleichsweise das unerreichbare Reale hinter den Texten.“

Wenn im Folgenden nun Kinder und Kindheit erscheinen, so handelt es sich bei ihnen – den Kindern und Kindheiten – um Textbestände vor, hinter, neben, über und unter Texten. Es sind dies gegebene Bestände, geschriebene, geschehende und sich entziehende. Wir müssen also hinhören, als wäre es Regen, und hinsehen, als wären es Kinder. Zugleich müssen wir wissen, dass wenn wir den Regen hören, sind es die Kinder und sie sprechen im Traum. Viel zu schnell denken wir, Kinder seien das vergleichsweise nicht in Sprache zu Fassende, dabei ist es zunächst die Sprache und wie wir sie verwenden, die diese Unfassbarkeit herstellt, verlangt, aber auch ermisst. Doch vielleicht ist es eben etwas anderes, das sich in der Sprache der Fassbarkeit entzieht und es ist dennoch kein Kind. Der Vers, den wir uns auf Kinder zu machen versuchen, wie Ulrich schreibt, und der immer gelogen ist, ist dann einfach nicht gelogen genug. Das Spiel ist noch nicht gespielt worden, – es ist zu keinem Spiel gekommen.

5 „… das gegenseitige Sich-Finden im Land des anderen …“

Kindheit bewahrt eine unauffindbare Landschaft in einer unauffindbaren Zeit. Das ist nahezu der Grund der Kindheit, mit dem und gegen den so etwas wie Kindheit geschieht. Dieser grundlegenden Unauffindbarkeit im Wort Kindheit und dem, was das Wort bezeichnet – also von jedem Kind und jedem, der es liest –, möchte ich in meinen Ãœberlegungen hier nachgehen. Nachgehen auf den Wegen, die uns die Arbeit Ulrichs im Textsteinbruch der deutschsprachigen Kindheit der letzten vierzig Jahre erschlossen und geebnet hat. Ihre Arbeit ist eine ständige, äusserst beharrliche zwischen Tisch und Stuhl, wo Leben so unerhört beginnen und enden kann. Hier die Sprache nicht zu verlieren, hier, in diesem sich entziehenden, sich unkenntlich machenden Abgrund, die Arbeit der Vermittlung stets weiter auf sich zu nehmen, ist eine hervorragende Fähigkeit, die es braucht, um so genau und unerbittlich das, was Kindheit ist, zu studieren und zu erforschen, wie Ulrich es tut.
Die Gegend zwischen Tisch und Stuhl, im Textsteinbruch der Kindheit, ist die Gegend, in der sich Verborgenes und Offensichtliches, Lesbares und Unsagbares nicht nur neu verbinden und zusammensetzen, sondern auch stets wieder zur Disposition stellen. Dies wahrzunehmen und darüber hinaus auch noch vermitteln zu können, ist Arbeit an der Möglichkeit von Neubegründung und Veränderung. So wie dies Kindheit als kulturelles Reservoir des Neubeginns bedeutet. Aber eben nur, wenn wir das, was wir Kindheit nennen, auch so zu nutzen vermögen. Sie in ihren Möglichkeiten und Unmöglichkeiten zu nutzen heisst, zunächst und grundlegend, mit ihr in Verhandlung zu treten, heisst, zu verhandeln.

6 „Die Grundbedürfnisse beider Seiten wären dieselben: Nach Zeitstrukturen. Nach Orientierung. Nach dem  Handhaben von Zeit, von sich selbst und von Dingen. Nach Kultur und Sprache als dem Menschen schlecht und recht angeborener, fehlender dritter Hand.“

„Zwischen meinem Land – und den anderen –
Liegt ein Meer –
Aber Blumen verunterhandeln zwischen uns –
Als Minister.“
Dies ist ein Gedicht der amerikanischen Lyrikerin Emily Dickinson. Ich möchte es hier an den Anfang einer Verhandlung zwischen Sprache, Kindern und Blumen stellen, und auf die Bedeutung von Ministern, Unterhandlungen und dem Meer zwischen Ländern näher eingehen. Vielleicht ist es ja so, dass Wörter mit anderen Wörtern unterhandeln, dass Sprache ein Meer ist und dass Blumen, in ihrer Verbindung mit Wachstum etwas mit Kindern zu tun haben. Unterhandeln ist ein Handeln unter der Hand, also mit zweiten, jedenfalls unteren Händen. Im Unterhandeln kommen andere Griffe zum Handeln und handeln wie Blumen, die zwischen getrennten Ländern vermitteln. Doch Blumen, Minister, Länder und das Meer dazwischen, sie alle sind Wörter. Wo kommen in dem Gedicht dann aber das Meer, die Blumen, die Unterhandlung her, woher also die Zusammenführung der getrennten Länder via Blumen?
Eine der grundlegendsten Anleitungen zum Spiel ist der von Ulrich zitierte Vers von Roman Self:
„Die Waggons – das sind die Stühle.
Die Lokomotive – das ist das Bett.
Und wenn Du das nicht glaubst,
Und wenn Du das nicht glaubst,
Und wenn Du das nicht glaubst,
Dann kannst du auch nicht spielen.“
Dies ist nicht nur eine Anleitung zum Spielen, sondern eine zum Gebrauch der Sprache, zur Lust am Text, wie Roland Barthes  sagen würde. Eine Anleitung zum Lesen ist es auch.
Aber lässt sich denn Glaube lesen? Jedenfalls lässt sich nur mit Glauben lesen. Dass nämlich ein X kein U sei, woher nehmen wir die Gewissheit? Dass eine Lokomotive kein Stuhl ist, ist das so? Schauen wir uns den Stuhl doch mal an, stellen wir uns vor, wie er aus dem Zimmer gleitet, weiter in den Flur, von der Garderobe den Hut nimmt, pfeift und schon ist der Stuhl aus der Tür nach draussen verschwunden. Haben wir also jahrelang mit einem Stuhl zusammengelebt, der eine Lokomotive ist? Kam daher manchmal in der Nacht die Unruhe, die schnellen, manchmal zu schnellen Träume, die wir geträumt haben, obwohl wir gar nicht so schnell träumen wollten? Lieber anhalten wollten? Wie, waren da Lokomotiven bei uns in der Wohnung zu Besuch bei unserem Stuhl – vielleicht hatte er Geburtstag, sie sind alle gekommen, auch die aus dem Morgenland und nur wir, weil wir es so gewohnt sind, dachten, wir träumten?

7 „Dieser Rest ist der grausame Unsinn ohne Grund und die kindliche Freude daran.“

Ãœber Kinder und Kindheit zu schreiben bedeutet, an den Triebkräften der Sprache zu arbeiten. Je genauer wir wissen, dass es diese Kräfte der Sprache gibt, um so eher wird Kind und Kindheit berührbar. Genauigkeit hat hier mit der Voraussetzung für Wachstum, Anpflanzen und Früchtetragen zu tun. Denn über Kindheit zu schreiben ist immer auch Kindheit schreiben. Ebenso wie über oder von Kindern zu schreiben, Kinder schreibt. Wie weit das wahrgenommen und genutzt werden kann, entscheidet über Wachstum und Blühen der Texte und der ihnen zugrunde liegenden Erforschung der Sprache zur Kindheit. Anders gesagt, je mehr die, die über Kindheit schreiben, wissen, dass sie Kindheit schreiben, um so eher kann es zu einem Anfang kommen, einem Anfang, wie er mit jedem Kind und jedem Wort gegeben ist. Immer wieder.

8 „… wir müssen mit dem Gedanken leben, dass wilde Dinge ablaufen auf dem Papier und in den Köpfen der Kinder …“

Wie furchtlos und wie vorsichtig zugleich muss eine sein, die sich auf das Gebiet der Kindheit als eine Art fremden Kontinent einlässt, der anders spricht und träumt, der anders lebt und anders zu schreiben ist als das, was in der Gegend der Grossen und Erwachsenen als vernünftig und verstehbar gilt. Zur Kindheit zu schreiben, wie und was für Kinder zu schreiben ist, was ihnen zum Lesen zu bringen ist über Schrift und Bild, verlangt eine grösstmögliche Offenheit. Was nichts anderes bedeutet, als dass eindeutiges, definitives Wissen nicht möglich ist. Stattdessen gilt es, den Einspruch, das ganz andere miteinzubegreifen, ihm einen Platz zu verschaffen, sei er auch noch so unvorhersehbar. Ein solcher Platz für das Unvorhersehbare, das Verwandelte und sich Verwandelnde geschieht, ereignet sich. Er ist dann da, oder er ist nicht da.
In Ulrichs Texten können wir den Platz für das Unvorhersehbare, diese offene Stelle im Text lesen. Von Text zu Text anders, von Fragestellung zu Fragestellung verschoben. So dass ihre Texte – unabhängig wie lange sie zurückliegen, unabhängig auch in gewisser Weise von ihrem jeweiligen Thema – stets grundlegend die Wandelbarkeit der Sprache auf das Undeutbare der Kindheit hin lesbar machen. Und so dem, was Kindheit der Sprache genannt werden kann, Raum für Entfaltung und Bewegung einräumt. In diesem Raum geht es nicht darum, die Kindheit salonfähig zu machen, sondern den Salon kindheitsfähig.

9 „Wir stehen da vor verschlossenen Toren.“

Kindheit muss gefunden und erfunden werden, für jedes Kind, von jedem Kind, und genauso von und für die Eltern und die Älteren. Wo dies nicht geschieht, hört das Leben auf. Zunächst das Leben der Sprache, die für ihren benennenden Zugriff auf die sogenannte Wirklichkeit vielleicht nichts so sehr braucht, wie den Widerspruch des Kindes, sein erstes Wort, sein Nein. Wegen dieses Neins des Kindes gibt es die begründete Hoffnung des Anfangs, der mit jedem Kind auf die Welt kommt. Das Nein des Kindes sagt sich in einer anderen Art, sagt eine andere Art der Sprache; eine Sprache, mit der es beginnt.
Es liesse sich vielleicht sagen, dass solange wir schwierige Kindheiten haben, d.h. widersprechende, solange leben wir weiter. In diesem Zusammenhang möchte ich hier noch einmal zu bedenken geben, ob wir (jede und jeder) je eine Kindheit gehabt haben? Oder haben wir sie erst, wenn wir über sie nachdenken, von ihr zu erzählen versuchen, wenn wir uns erinnern? Stellen wir uns eine Kindheit vor, und stellen wir uns dann vor, es sei unsere gewesen? Wenn es so ist, so liegt das, was wir Kindheit nennen, vor uns, nicht hinter uns. Was hinter uns liegt, ist etwas anderes, das, wenn wir uns vorstellen, was unsere Kindheit war, etwas anderes wird.
Kinder sind im Zusammenhang mit Kindheit etwas ganz anderes. Ihre Andersartigkeit gegenüber den grossen kulturellen und gesellschaftlichen Projekten Kindheit, Schriftlichkeit, Geschichte ist unaufhebbar. Je weniger versucht wird, diese Andersartigkeit  aufzuheben, umso klarer können wir uns vielleicht vorstellen, dass Kindheit ein Projekt der Zukunft ist, dass sie vor uns liegt.

10 „Wenn das Fremde aus der eigenen Kultur verschwindet, beginnt die Unkultur. Der verdrängte Rest kehrt wieder im Realen.“

Doch wie anders? Das wissen zu wollen, zusammen mit der Angst davor, ist Voraussetzung für die Erforschung jenes fremden Gebiets, das wir vorläufig einmal Kindheit nennen wollen. Kindheit, wie sie als Text besteht und entsteht, wie wir sie herstellen, hinstellen, umstellen – diese Fremde ist es, von der uns Ulrich seit vielen Jahren, ja Jahrzehnten, berichtet. In gesammelter Form liegen hier ihre Berichte vor: eine Art Logbuch einer Forschungsreisenden an die Küsten anderer Festländer. Ihr Schiff sozusagen, mit dem sie auf dem Meer der Sprache unterwegs ist, war stets die Frage: Wie anders?
Um im Meer der Sprache die Küsten zu erforschen, ist diese Frage ein gutes Schiff. Gross genug und klein genug auch. Nah in der Entfernung und fern in der Nähe. Zudem ist es ein Schiff, das bei aller Allgemeingültigkeit der Fragestellung gerade die Öffnung in sich birgt, in der es zu einer Berührung zwischen Frage und Gefragtem kommen kann. Also zu jenem Dritten, das wir Austausch, Verständigung, Erkenntnis nennen. Aber vielleicht auch Schwimmen oder Schweben.
Ein Logbuch liegt vor, doch die Geschichte der Forschungsreisenden geht weiter. Es ist zweifelhaft, ob sie je an Land geht. Zwar wurden die einzelnen Berichte des Logbuchs von einem jeweils angenommenen Ende der Forschung aus geschrieben, doch ein Ende bzw. Ankommen der Fragereise ist das nicht. Wie sie weitergeht, wie anders sie wird, das liegt in unserer Hand.

11 „Geheime Verbindungswege: Kind, Buch und Fremde.“

Beispielsweise sagen wir, ein Igel geht über die Strasse, wenn ein Igel über die Strasse geht. Doch ein Igel geht nicht und auch nicht über die Strasse. Wir sagen es trotzdem und beziehen den Igel in eine Sprachgemeinschaft von Gehenden und Strassenüberquerenden ein. Auf der Strecke bleibt dabei allerdings der Igel und wie anders er sich bewegt, wahrnimmt und lebt. Auf der Strecke bleibt auch unser Vorstellungsvermögen, die Lust an der Vorstellung, kurz: das Spiel mit dem Igel. Es lautet: Was ist ein Igel und was ist ein Wort, das Igel heisst? Hat das Wort vier Beine? Kann es sich zusammenkugeln und wird es dennoch von einem Auto überfahren? Wird es überfahren von dem, was ist, und das ist, so wie es ist, schliesslich vernichtend?

12 „Wir sollten versuchen, das ‹letzte Wort› eines Kindes zu hören als anderes Wort.“

Eine häufig und hartnäckig sich meldende Intervention gegenüber Eigenwilligkeit im Umgang mit Sprache, ist die Frage, ob man denn eine schwere Kindheit gehabt habe. Parallel dazu und ergänzend heisst es oft, wenn man keine eigenen Kinder habe, könne man auch nicht von Kindern und ihrer strukturell durchaus schwierigen Situation zwischen Eigensinn und Abhängigkeit wissen. Geschweige denn, dass man davon zu erzählen, ihr also einen sprachlichen Ausdruck zu geben in der Lage sei. Diese Intervention taucht vor allem dann auf, wenn man dem, was Kindheit genannt wird, einen sprachlichen Ausdruck zu geben versucht, der das anders genannte Unheimliche der Kindheit anders nennt, zumindest auf seine andere Bezeichenbarkeit hin öffnet.
In diesem Zusammenhang scheint es mir interessant zu fragen, was Kindheit eigentlich so verdächtig macht? Und eben nicht nur verdächtig, sondern im gleichen Mass auch mächtig. Mit der Frage nach der schweren Kindheit lassen sich ja nicht nur Gespräche abbrechen, sondern die Möglichkeit des Verhandelns, von Verständigung wird überhaupt infrage gestellt. Jemand, der eine schwere Kindheit hatte, ist dann jemand, mit dem kein bedeutendes Gespräch zu führen ist. Dem Verdacht der schweren Kindheit ist nicht zu widersprechen, seine Äusserung allein reicht schon zur Disqualifikation. Die Positionen stehen fest: Hier die schwer erlebte Kindheit, die darum auch als schwere erzählt wird, auf der anderen Seite – ja was eigentlich? Die glückliche Kindheit, die vernünftige und behütete, die schönste Zeit im Leben?
In ein und derselben sprachlichen Wendung tritt somit Kindheit als Grund des Ungesicherten in Erscheinung, demgegenüber sich Kindheit als Grund des Sicheren, Behüteten, Glücklichen abgrenzen lässt. Nur ist hier Kindheit nicht mehr eine vieldeutige, sondern eine vielfach getrennte. Und diese Trennungslinien und Schnitte durchwirken die Kindheit.
Daher sind diese Interventionen, die mir als Schriftstellerin, die über Kinder und Kindheit schreibt, oft begegnen, nicht zufällig und sie sind auch nicht besonders persönlich gemeint. Vielmehr äussert sich in ihnen ein Zuweisungszusammenhang und eine Abspaltungsökonomie, die uns so durchwirkt wie die Kindheit selbst. Es sind bestimmte Haltungen, Zurückweisungen und Lesarten, die sich für uns mit dem Wort Kindheit verbinden. Schauen wir weiter nah hin.

13 „Die Mutterstelle ist nicht an der Mutter angewachsen.“

Was ist mit den Blumen? Blume ist Kind von Wiese, sagen die muttersprachlich nicht deutschen Kinder im Deutschunterricht zu ihrer Lehrerin in Wien.  Und die Lehrerin ist stolz auf sie und hört auf sie, und lernt von ihnen, dass Blumen Kinder sind auf der Wiese der deutschen Sprache, die je fremder, desto eigener aufblühen kann. Und so wie Blumen Kinder sind von der Wiese (und Weise) der Sprache, so sind Kinder und Blumen Wörter und Wörter sind Kinder der Sprache.
Den Wörtern allerdings als Kindern gewachsen zu sein, das vermögen vielleicht nur Blumen. Sie verunterhandeln zwischen getrennten Ländern. Dem der Kinder vielleicht und dem der anderen. Ulrichs Texte zur Literatur für Kinder, ihrer Geschichte und ihren Geschichten nehmen die Stelle der Dickinsonschen Minister ein. Und für die Minister an dieser Stelle, die den Ländern und ihrer Getrenntheit gewachsen sein wollen, gibt es die Sätze nicht, mit denen doch viele von uns gross geworden sind: Wer dumm fragt, kriegt eine dumme Antwort. Solche Sätze verlieren die Blumen der Wiese aus den Augen, die der Grund von Fragen sind und die Antwort der Sprache, die ein Meer ist. Blumenmeer?

14 „Wörter, die man beim Wort nimmt, erzählen Geschichten.“

Kinder sind transitorische Sprachzustände, sie zu lesen bedeutet, das Meer der Sprache wahrzunehmen. Doch wie kommt das Kind zum Wort, wie das Wort zum Kind und was ist das Wort „Kind“?
Von Kindern und der Literatur für Kinder schreibt Ulrich nun seit  gut vierzig Jahren. Der Art und Weise, wie sie das macht, verdanken wir, dass die hier vorliegende Auswahl und Sammlung ihrer Texte als Chronik der Kindheit der letzten vierzig Jahre in der Schweiz zu lesen ist. Von Anfang an ist ihr Fokus auf die Kindheit als eine nicht gegebene gerichtet. Kindheit, wie sie sie betrachtet, ist eine sprachlich sich zeigende, eine sich durch Geschichten und Geschichte herstellende und verändernde. Wie es und ob es Kinder gibt, steht also sozusagen in den Büchern. Wenn es da nicht steht, dann gibt es auch keine Kinder, sind vielleicht mal da gewesen. Im Werden von Kind und Sprache entsteht Geschichte und entstehen Geschichten. Das ist der Rahmen und Begründungszusammenhang, in dem Ulrichs Texte geschrieben stehen und ihre Vermittlungsarbeit entfalten.

15 „Es hat sein letztes Wörtchen noch nicht gesagt, hat es noch offen …“

Doch wie soll das gehen, dem Kind und dem Nichtkind, dem Kind, und dem, was dem Kind im Kind widerspricht, zuzuhören?
Du musst den Kindern zuhören wie dem Regen, sagen in einer Erzählung Julio Cortazars die Eltern dem Gast und Erzähler der Geschichte, was dieser auch befolgt. Bald schon weiss er nicht mehr zu unterscheiden, ob es das Mädchen gibt, von dem ihm die Kinder immerzu erzählen und auf das sie hinweisen, wenn es da ist – jetzt lächelt es, setzt sich aufs Bett, kämmt sich die Haare, schaut aus dem Fenster raus. Dann ist es aber schon nicht mehr da, und die Kinder lachen ihn aus, dass er nicht gemerkt hat, dass es gegangen ist. Wie kann er nur so wenig wissen, dass er nicht weiss, dass das Mädchen erst morgen wieder kommt? Er ist ein hoffnungsloser Fall für die Kinder und ihre Spielgefährtin, die sie erfüllt und im Handumdrehen (siehe das Dickinsonsche Unterhandeln) wieder aus ihrer Aufmerksamkeit gerät. Die Kinder sagen, das macht das Mädchen immer so, sie ist da, dann weg, woraufhin sie ein anderes Spiel beginnen. Nur der Erzähler kann das nicht. Einmal dem Mädchen und seiner Anwesenheit begegnet, kann er es nicht mehr gehen lassen, ist fixiert auf ein Mädchen, von dem die Kinder erzählt haben wie Regen. Er kann nicht mehr zurück, ist in die Erzählung der Kinder eingesperrt, findet keinen Ausgang mehr.
Diese Erzählung Cortazars zeigt sehr schön, wie genau und darum auch wie leicht Kinder zwischen Realität und Imagination unterscheiden können. Aus dieser Abrgrenzbarkeit des einen vom andern Zustand, ergibt sich die Leichtigkeit, ja Wendigkeit des Wechsels zwischen beiden. Anders als der Gast, der wissen will, was er sieht und wahrnimmt, der festhalten will, wovon er sich einmal hat hinreissen lassen. Das ist der Moment, in dem er den Kindern nicht mehr zuhören kann wie dem Regen; und da ist er verloren.
Den Kindern zuhören können wie dem Regen ist eine Kunst und Aufmerksamkeitsform, die durch Offenheit, Durchlässigkeit und Genauigkeit jenes Schweben der Wahrnehmung ermöglicht, dessen sprachliche Form vielleicht als Kindheit der Sprache bezeichnet werden könnte. Kindheit der Sprache, das ist eine Verfasstheit der Sprache, in der das Sein und das Nichtsein des Worts das Wort gleichermassen bedeuten. Also dass es ist, was es ist, und dass es nicht ist, was es ist, sondern anders. Wie es anders ist, was es ist, ist nicht vorhersehbar, nur dass es da ist und anders.
Womit ich bei dem bin, was die Texte von Ulrich im Innersten durchwirkt: das masslose Mass des Regens, das genaue Erfassen des Unfassbaren, also des Anderen der Wörter.
Nie bleibt bei ihr ein grosses Wort – sei es Kindheit, Gewalt, Lesen, Schreiben, Schmerz – unhinterfragt oder ungewendet. Sie bleibt dabei, bis es schliesslich für eine kleine Textpraxis taugt. Eben die Sprachpraxis der Kleinen. An ihrer Kleinheit zu arbeiten, bedeutet, die grossen Wörter so zu behandeln und in Bewegung zu setzen, dass sie den Kleinen und ihrer anderen Art zu sein gewachsen (gewaschen) sind.
Was für Kinder gilt, gilt auch für Wörter. Sie kommen zur Sprache und müssen es tun. Sie sind Sprache und sie sind sie nicht. Sie sind ohne Sprache nicht denkbar, nicht sprechbar, nicht lesbar. Ihre Stelle in der Sprache ist gegeben und doch müssen sie erst kommen. Zur Sprache kommen durch Sprache, d.h. nicht von aussen zu kommen, von einem nicht bezeichneten Unort, sondern aus der Bezeichnung zu einer eigenen Bezeichnung kommen und gehen.
Das wunderbare Mädchen aus der Erzählung von Cortazar ist das wunderbare Mädchen der Erzählung der Kinder. Ihr zu verfallen ist, der Geschichte von Kindern zu verfallen, den Kindern zu verfallen. Das erzählt die Geschichte von Cortazar. Und schutzlos zu werden wie dieser Gast der Familie, ist vielleicht die Voraussetzung dafür, sie, die Kinder und ihre Geschichten, schützen zu können. (Oder die Wörter, wo sie anders sind.) Schliesslich ergibt die Geschichte der Kinder, die Geschichte des Gastes und die Erzählung Cortazars mindestens drei und das ist vielleicht bald schon ein schöner Regen. Also lesen wir seine Geschichte am besten, wie wenn wir dem Regen zuhörten. Doch dem Regen zuhören, bedeutet vielleicht, den Kindern zuhören, die träumen, es regnet.

Friederike Kretzen, Basel, Mai 02

Vorwort zu A.K. Ulrich Schriftkindheiten, Zürich 2002