Von den Teufeln

Vielleicht war es Winter, es muss 1986 gewesen sein, vielleicht las Paul Parin aus seinen „Aufzeichnungen eines Afrikareisenden“ von der vierten Reise, die er zusammen mit seiner Frau Goldy Parin-Matthèy und Ruth und Fritz Morgenthaler von Genua aus über Addis Abbeba nach Kenia unternommen hat. Das war im Jahr 1962/63. Oder er las von der Reise, die sie in die verwunschene Stadt Tabou an der Elfenbeinküste brachte. Das alles ist lange her. Was sich mir von dieser Lesung bis heute eingeprägt hat, ist die Erfahrung des Überspringens eines Erzählens auf seine Zuhörer, die wie im Handumdrehen zu Teilnehmenden des Erzählten wurden und somit zu Weltreisenden. Als wäre Zuhören nichts anderes als ein Sich Aufmachen und Weitersegeln. All das erinnere ich bis heute als eine vielleicht afrikanische, vielleicht zauberhafte Atmosphäre, die sich während Parins Lesung im ersten Stock der Schmiedenzunft ausbreitete und alles, was da war, auch das Erzählen selbst, erfasste und mitnahm. Parin las nicht einfach vor, er unterbrach seine Lesung immer wieder, führte Details weiter aus, stellte sich Fragen, liess sich von Einfällen weitertreiben, fügte hinzu, wie etwas aussah, was danach noch geschah und wie das alles auch noch zu verstehen sein könnte. Um dann im grossen Bogen wieder zum Text zu kommen und weiterzulesen.

Auf ihrer vierten Reise, deren erste Etappe sie auf dem Frachter Concordia Tatj zurücklegten, gab es immer wieder lange Wartezeiten. Ihre Gesellschaft auf dem Frachter bestand aus dem Kapitän des Schiffs, einem stummem, gehemmten Norweger, seinem ersten Offizier, nicht viel gesprächiger, einer traurigen jungen Frau, die gegen ihren Willen unterwegs in den Missionsdienst war, und einem Italiener, Signor Garbani, der schon lange in Eritrea lebte. Parin und Morgenthaler, um der bedrückten Stille beim Essen zu entgehen, fingen bald an, dieser kleinen Schiffsgesesllschaft von ihren Reisen in Afrika zu erzählen. Wenn der eine von ihnen eine Geschichte erzählt hatte, fing der andere gleich die nächste an. So dass sie noch lange nach dem Essen zusammensassen, rauchten, Kaffee tranken und Afrika erschufen. Von dem der Kapitän und sein erster Offizier so gut wie nichts gesehen hatten. Parin erwähnt in dieser Erzählung auch, dass es stets er und Morgenthaler waren, die erzählten, ihre Frauen hätten ihnen nur jeweils Stichworte zugeworfen, kleine Anmerkungen hinzugefügt und schon wäre es weiter gegangen mit dem Erzählen und Erfinden. Ganz so wie auf der Condordia Tatj geschah es dann auch bei der Lesung. Parin fragte seine Frau, die im Publikum sass, nach einem Detail, dessen er sich nicht mehr sicher war, ich glaube, es ging um die Reise nach Tabou, und sie sagte nein, es war anders, und er sagte ja, erzählte dann weiter, bis sie nochmal ein Stichwort einwarf, durch den Raum und er fragte sie, ob es Tag war oder Nacht als sie ankamen und schon hatte sich etwas anderes in die Erinnerung geschlichen und wollte auch noch erzählt werden. Was Parin sofort in Angriff nahm, so dass wir uns so langsam aber sicher auf einem schwankenden Kahn aus Erzähltem und Erinnertem

aufmachten Richtung Afrika. Mühelos bewegten wir uns in fremden Ländern als wären wir in ihnen zuhause und die Zeit dehnte sich und das Erzählen wurde ganz unmittelbar zur geretteten Zeit. Um uns der ferne Kontinent, über dem, wie es in Parins Buch heisst, ein Verhängnis liegt. Das die Reisenden dazu gebracht hat, nicht mehr nach Afrika zu reisen. Zu furchtbar, zu traurig wurde ihnen die Begegnung mit dem Kontinent, den sie so gerne bereist und erforscht hatten. „Die liebenswürdigen schwarzen Männer, Frauen und Kinder sind Opfer einer Katastrophe, mit der Europa, die Missionare, Soldaten, Händler und Maschinen den ganzen Kontinent überzogen haben. Und wir selber sind ein Teil und späte Boten des Grauens, von dem niemand spricht.“ Heute sind diese Worte vielleicht noch erschütternder, weil wir sie in dieser Schlichtheit und Empathie nicht mehr zu sagen in der Lage sind. Zu viele teuflische Geschichten haben sich seitdem zwischen die Wahrnehmung dieses kolonialen Verhängnisses und uns gedrängt, was uns kälter und unempfindlicher gemacht hat. Für uns und jenen gegenüber, deren Kontinent wir zerstört haben über viele Jahrhunderte.

Als ob das von Parin immer miterzählte Unheimliche, das in Afrika die Lebensbedingungen der Menschen bedrängt, zerstört, wie wenn diese Offenheit des Schilderns und Wahrnehmens eine Einladung für die Äusserung des Schreckens in uns gewesen wäre, fing plötzlich einer der Zuhörer an, kleine Schreie auszustossen, spitz und hoch. Seine Hand fuhr zum Himmel, er hatte sie geballt und er stiess zwischen den Schreien Flüche aus, böse, wütende. Sofort hatten wir Angst. Da drehte einer durch, schnappte über, hier mitten unter uns, war das nicht ansteckend? Betretenes Schweigen, was würde mit ihm geschehen? Und was mit uns? In diesem Raum flirrender Geschichten von einem Kontinent, in dem zu viele Teufel ihr Unwesen trieben? Doch Parin war ein erfahrener Reisender, offen für das, was als nächstes geschah, das hatten wir schon in seinen Texten erfahren. Auch jetzt wandte er sich heiter und freundlich an den nicht mehr jungen Mann mit seinen Flüchen und forderte ihn auf, zu erzählen. Ob er denn auch schon mal in Afrika gewesen sei und wie er denn heisse? Dann bat er ihn, sich zu ihm zu setzen, so dass sie miteinander sprechen könnten. Der so Angesprochene wurde gleich ruhig. Er stand auf, ging nach vorne. Sie gaben sich die Hand. Parin fragte ihn nach seinem Namen. Ich glaube, er hiess Karl und er wurde ein Lamm.

Dann sassen die beiden nebeneinander und Parin erzählte noch ein bisschen weiter, bis sie endlich in Tabou angekommen waren. Das war im Jahr 1956/1957 und es ging schon gegen Mitternacht. Keiner der Mitreisenden war unterwegs verloren gegangen.

 

PS: Parin las aus: Zu viele Teufel im Land, Aufzeichnungen eines Afrikareisenden, Frankfurt a.M. 1985