Überlegungen zu dem Projekt: WEISSE SEITEN im L’Arc Romainmotier 11./12.12.09

1. Künstler, Intellektuelle, Kulturvermittler arbeiten am Imaginären der Kultur. Wie ist es um diese Arbeit bestellt? Und natürlich schliesst das die Frage ein, wie ist es um das kulturelle Imaginäre bestellt, in welchem Zustand ist es und wie äussert es sich? Diese Fragen lassen sich nur als Auseinandersetzung, als Arbeit des Fragens und der Fragen beantworten, bzw. bewegen. Unser geplantes Zusammentreffen in Romainmotier möchte sich dieser Arbeit annehmen.

Das Imaginäre gibt es, aber es gibt sich nicht. Es kann nur als Form der Reflektion gedacht werden, die in der Reflektion nicht aufgeht. Das Imaginäre ist stets gesellschaftlich vermitteltes Imaginäres, das nicht ausser uns und unserem Tun zu erkennen oder zu lokalisieren wäre; wir sind Teil davon, stecken mitten darin. Dies anzunehmen, erlaubt uns, einen Zustand der Vermitteltheit unserer Aussagen, Sichtweisen, Empfindungen zu denken und dieses Denken ist zugleich eine Form der Bearbeitung und Reflektion dieser Vermitteltheit. Wichtig ist dabei die Arbeit an der Unterscheidung, bzw. an der Reflektion, was das Imaginäre, was das Reale, was das Symbolische ist und sein kann. Denn wie das Imaginäre, so hat auch das Wirkliche noch nie jemand gesehen. Genauso wie noch nie jemand die Sprache gesehen hat. Und das hängt zusammen. Unsere Durchdrungenheit von dem, worüber, womit und wovon wir handeln, sprechen, denken, ist unreduzierbar. Und dieses Unreduzierbare, Widerständige, was in den uns umgebenden Diskursen und Bildern nicht aufgeht, ist der Grund des gemeinsamen Austauschs, den wir mit den WEISSEN SEITEN suchen.

2. In diesem Zusammenhang kommt es darauf an, denken zu können, dass unsere je einzelnen Situationen keine nur subjektiven sind, wenn wir sie auch so leben und erleben. Dazu gehört, dass wir nicht für uns und unsere Arbeit Sorge tragen können, wenn wir nicht auch Sorge tragen für andere und anderes. Wie beispielsweise für den Zustand der Sprache, den Zustand der Bilder und wie sie anders zuständig sind und für anderes. Ihre andere Zuständigkeit erlaubt uns erst die Anträge, Fragen und Bilder, die uns zur Darstellung und Vorstellung unserer Arbeit angeboten und aufgezwungen werden, zurückzuweisen. Also all die Kultur- und Kunst- Diskurse, die uns sagen, was wir als Künstlerinnen und Schriftstellerinnen, was wir als Intellektuelle, Geisteswissenschaflter, als Kulturvermittlerinnen und kritische Geister zu sein und zu tun hätten, können wir uns mit Rimbauds Satz „Ich ist ein anderer“ vom Leib halten.

3. Ändere nichts, damit alles sich ändern kann, sagt Godard. Er formuliert in dieser Aufforderung einen Umgang mit sich, mit seinen Erfahrungen, mit Geschichte und Geschichten, in dem es darum geht, Geduld zu bewahren und sich darauf einzulassen, dass was da ist, da ist, nur können wir es gerade noch nicht oder gerade nicht mehr oder vielleicht nie sehen. Denn wir sind ja auch hier immer schon Teil davon. Und wenn wir auch vieles – manche sagen alles – machen können, die Geschichte dessen, was wir machen, bleibt davon ausgenommen.

Dementsprechend beschreibt WEISSE SEITEN eine Versuchsanlage des Stillstellens und Zurückweisens eingeübter und angetragener Anschauungen und Beschreibungsweisen was Kunst, was Kultur wäre und worum es dabei ginge. Das ist Arbeit.
WEISSE SEITEN, liesse sich annehmen, sind leere Seiten. Um die soll es auch gehen, allerdings als Prozess, als Arbeit unseres Zusammentreffens, wie auch immer es sich ergeben wird. Gegeben sind die WEISSEN SEITEN als offenes Experiment, mit all unseren unterschiedlichen Herkommen und Verfasstheiten das Gespräch miteinander zu suchen. Ein Gespräch, in dem sich vielleicht ein Ãœbergang zu einem geteilten Sprechen ergeben könnte. Einem Sprechen dessen, was wir – jeder an seiner Stelle – zu sprechen vorfinden.
Das wäre die Arbeit einer anderen Art von Analyse, einer Analyse als Wahrnehmung, als Zuhören und Zugehören, als Echo und stille Post einerseits. Und andererseits als eine Auffächerung und ein Auseinandernehmen kultureller Verfasstheiten, die es erlauben würde, sie anderen Fügungen zugänglich zu machen.

4. Die Annahme Weisser Seiten bezeichnet eine programmatische Umkehrbewegung, die es ermöglicht, die Betriebsamkeit des Ãœberfüllens und in Ãœberfülle Herstellens als leerlaufende Ökonomisierung von Kunst und Kultur wahrzunehmen, und sie als hergestellten Leerlauf und Unkenntlichmachung anders gearteter Bewegungen zurückzuweisen. Unser Zusammentreffen stellt einen Rahmen dar, in dem also einerseits der Leerlauf künstlerischer Ãœberproduktion deutlich werden kann, in dem sich andererseits aber auch eine Stillstellung birgt, die Ausgangspunkt unserer Verständigungsversuche bildet. Insofern sind die WEISSEN SEITEN ein Versuch, durch Stillstellung von Vorgaben und Fragestellungen einen Denkraum zu öffnen. Einen Denkraum oder Leerraum, in dem der Durchzug von Geschichten und Geschichte, wie er ständig und unabhängig von unserem Willen geschieht, wahrnehmbarer werden kann. So dass wir uns genauer anschauen und fragen können, wie sich in ihrem Durchzug Gegenwart zu erkennen und zu verkennen gibt.

5. Das Doppelte in der Bezeichnung der WEISSEN SEITEN ist unserer doppelten Reflektionsanlage geschuldet. Denn worüber wir nachdenken wollen, sind wir, und als Teil der uns durchdringenden kulturellen und gesellschaftlichen Verfasstheiten, sind wir auch deren Blindfleck. Das aber ist der Motor jeder Imagination. Und um deren Reflektion soll es ja in unserem Versuch eines gemeinsamen Nachdenkens über Bestandteile und Zusammenhänge kultureller und ästhetischer Prozesse – was auch immer diese sein mögen – gehen. Das Inadäquate von behaupteten Kunstprojekten und was sie dann sind, das Inadäquate von Form und Inhalt, von Wirkung und Diskurs gehören in diesen Zusammenhang und sind ein Ausgangspunkt für unsere Ãœberlegungen.

6. Doch die Reflektionsanlage der WEISSEN SEITEN ist nicht nur eine doppelte, sie hat auch die Arbeit an zwei Seiten im Sinn. Das ist eine ästhetische Methode und bedeutet, eine Auseinandersetzung aufzunehmen, die sich als Aufnahme der Auseinandersetzung versteht. So dass das, worüber wir uns auseinandersetzen, das ist, was wir auseinandersetzen: Uns mit allen unseren Erfahrungen, Empfindungen und Gedanken, wie sie uns gegenwärtig beschäftigen und bedrängen. Zugleich, und das macht vielleicht die Arbeit an zwei Fronten aus, geht es auch darum, all das, was uns gegenwärtig beschäftigt, als etwas wahrzunehmen und zu beschreiben, was womöglich nicht die Gegenwart ist und was nicht einmal etwas mit uns zu tun hat. Aber mit was sonst? Können wir uns die Freiheit nehmen, so weit und so nah zugleich zu denken? Und wenn nicht, warum nicht?
Im Rahmen der WEISSEN SEITEN könnte an einer
dialektische Untersuchungsmethode gearbeitet werden, die uns erlaubte, Form und Gefühl zusammengehörig zu reflektiert. Und eine unserer Fragen könnte dabei sein: Wie hören sie aufeinander? Vielleicht so wie wir auf uns?

Friederike Kretzen, Basel 17.8.09