Toni Morrison, Beloved

Einführung Lesung am 9.12.2015 im Literaturhaus Basel

Gerne möchte ich hier, am Ende der Reihe nochmal anmerken, was für kühne, radikale und zugleich, – wahrscheinlich gerade darum – schwierige, gefährliche, unheimliche Bücher die sind, die wir hier gehört haben. Denke ich zum Beispiel an den Fall Franza, an Beloved, an L’Armant und Orlando. In einem Vortrag Virginia Woolfs, „Mr Bennett und Mrs Brown“, in dem sie die damals, 1923, noch neue, moderne Form des Romans den traditionellen Formen des englischen Romans gegenüberstellt, fordert sie uns Schreibende, aber auch uns Lesende dazu auf, nie, nie das Leben zu vergessen. Das Leben, dessen Geist sie in der kleinen, zarten, leicht armselig adrett gekleideten Mrs Brown verkörpert findet, die ihr eines Tages im Zug gegenüber sitzt, und die sie seitdem nicht mehr loslässt. Woolf fordert in diesem Text die Leser und Leserinnen ganz ausdrücklich auf, „darauf zu bestehen, dass die Schriftsteller von ihren Kothurnen herabsteigen und, wenn möglich schön, jedenfalls aber wahrheitsgetreu unsre Mrs. Brown beschreiben. Sie sollten dabei beharren, dass sie eine alte Frau von unbegrenzten Fähigkeiten und unendlichen Verwandlunsgmöglichkeiten ist; fähig, an jedem Ort zu erscheinen, jedes Kleid zu tragen, alles Erdenkliche zu sagen, und, der Himmel weiss was, zu tun. Aber was sie sagt und was sie tut, und ihre Augen und ihre Nase und ihr Reden und Schweigen, hat alles etwas überwältigend Fesselndes, denn sie ist selbstverständlich der Geist, von welchem wir leben, – das Leben selbst. Erwarten Sie aber nicht gerade gegenwärtig eine vollständige und befriedigende Darstellung. Dulden Sie das Krampfhafte, das Schwerverständliche, das Bruchstückhafte, das Misslungene. Ihre Mithilfe (sie meint uns Leser) wird für eine gute Sache erbeten,…. aber wir werden nur hingelangen, wenn wir entschlossen sind, Mrs Brown nie, nie zu verlassen.„ So Virginia Woolf. Wie sie, ist auch Toni Morrison eine hochreflektierte Autorin. Sie hat in Princeton Literatur gelehrt. In ihrer Lehre, in Essays, in ihren Romanen geht es sowohl um die Rekonstruktion und Restitution schwarzer weiblicher Identität, als auch grundlegend um die Bedeutung des Afroamerikanismus für die amerikanische Gesellschaft und deren Literatur im besonderen, die „in ihren wichtigen und gepriesenen Merkmalen… Antworten auf eine dunkle, fortdauernde, zeichensetzende Präsenz sind.“ Wie sie beispielsweise sehr schön an der Prosa von Edgar Allan Poe, Villa Carter, Mark Twain, Melville und Hemingway zeigt. Der Afroamerikanismus ist für die amerikanische Kultur nicht ein nebensächliches, sondern ein zentrales, tragendes Element. Das war er immer und ist es noch. Nur neigen wir dazu, das nicht wahrzunehmen, es zu übersehen. Wie wir auch die zarte Mrs Brown übersehen. Morrison wie Woolf fordern von ihren Leserinnen und Lesern, an einem anderen Aufmerksamkeitsraum mitzuwirken, den sie uns in ihren Büchern eröffnen. In Morrisons Nobelpreisrede (1993) formuliert sie für diesen andersgearteten Aufmerksamkeitsraum ein eindringliches Bild. Ein paar junge Menschen kommen zu einer alten, weisen Frau, vielleicht die Tochter von Sklaven, die blind ist. Sie kommen, um ihre Weisheit auf die Probe zu stellen, sie wollen sie überführen. Einer von ihnen sagt, er habe in seiner Hand einen Vogel, sie solle sagen, ob der lebe oder ob er tot sei. Morrison vergleicht diesen Vogel mit der Sprache. Lebt sie oder ist sie tot? Die alte Frau – eine amerikanische Mrs Brown – sagt ihnen nach langem Überlegen: Ob der Vogel tot sei oder nicht, könne sie ihnen nicht sagen, was sie ihnen aber sagen könne sei: Es liege in ihrer Hand. Kommen wir nun zum Buch. Beloved. Der Titel des Buchs auf Englisch ist genauer. Be loved, geliebt sein. So lautet der Name von Menschenkind, das weder ein Kind ist noch keines. Doch es ist ein Wesen, um nicht zu sagen, ein Gespinst der Liebe, die nicht anders kann, als zu lieben, was es nicht mehr gibt. Um dieses Nichts, die beinahe nicht mehr auszumachende Spur einer Auslöschung, und nichts anders ist die Geschichte der amerikanischen Sklaverei, webt sich dieses Buch. Abgesehen davon, dass jede Liebesgeschichte eine Gespenstergeschichte ist, (wie David Foster Wallace sagt) ist die Geschichte von Menschenkind eine doppelte Gespenstergeschichte. Selbst das Wesen, um nicht zu sagen Opfer einer Heimsuchung, kann Menschenkind nicht aufhören, die heimzusuchen, die sie lieben, auch deswegen, weil sie sie lieben. Mehr als sich selbst. Womit wir schon im Zentrum dieses im wahrsten Sinn des Wortes ungeheuren Buchs sind, das mit aller Sprache, mit aller Genauigkeit und Brüchigkeit der Form, davon erzählt, was sprachlos gemacht worden ist und von dessen sprachlos machender Kraft. So ein Buch lässt sich nur für eine Be Loved schreiben, ist also eine Form angewandter Liebe zu dem, was nicht mehr ist, was verschwunden ist, vernichtet wurde. Und doch ist es da. Das Buch beginnt im Jahr 1873. Etwa zur gleichen Zeit notiert die Dichterin Emily Dickinson von der nördlichen Ostküste her: „Kunst ist ein Haus, in dem es spukt.“ Solch ein Haus der Kunst, in dem es spukt, ist die 124 in der Bluestone Road, Cincinatti, in dem Sethe, die Protagonistin des Buchs, mit ihrer etwa vierzehnjährigen Tochter Denver zurückgezogen lebt. Das Haus ist böse, tückisch wie ein Kleinkind, heisst es. Es ist Schauplatz, Anker, Form des Buchs, das von der Unausdenkbarkeit der Sklaverei erzählt, eine böse und tückische Geschichte. Die so erzählt wird, dass das Unausdenkbare dieser Geschichte anschaulich wird. Und zwar so, dass mit jeder Konkretion, mit jeder weiteren Wendung der Erzählung, jeder Hinzufügung, die Geschichte dringender, intensiver, gegenwärtiger wird. Jedenfalls ist es mir beim Lesen so ergangen. Nachdem ich eine Weile so vor mich hin gelesen habe, hat es mich dann eines Nachts erwischt. Voller Schrecken bin ich erwacht und dachte plötzlich, was für ein Wahnsinn, es hat diese amerikanische Form der Sklaverei gegeben, diese 60 Millionen Menschen und mehr, Sklaven wie Sethe, wie Paul A, Paul B, Paul C und Paul D, wie der alte Stamp, wie Baby Suggs, Grossmutter von Denver, es hat ihren Sohn gegeben, Hall, der sie bei seinem ein bisschen gnädigerem Besitzer freikaufen konnte durch noch mehr Arbeit. Er ist der Ehemann von Sethe, Vater von Denver, von zwei Söhnen, Howard und Buglar, die das Haus, in dem es spukt, schon mit dreizehn verlassen haben und nie mehr sind sie zurückgekehrt. Er ist der Vater auch von Menschenkind, wenn Menschenkind einen Vater hat. Verrückt geworden vor Schmerz, Erniedrigung, nach vereitelter Flucht. Es gab Sixo, verbrannt und erschossen, seine 30 Meilen-entfernt-Frau, die sein Kind unterm Herzen trägt: Seveno. Es gab all die Männer, Frauen, Kinder, die erhängt, ermordet, gefoltert wurden, die Mutter von Sethe am Baum aufgeknüpft. Die wenigsten von ihnen wissen, wer ihre Kinder, wer ihre Eltern, wer ihre Verwandten sind und wie sie selbst heissen. Es hat die vielen, vielen Menschen gegeben, die von Afrika übers Meer transportiert wurden. Die sogenannte Middle Passage, bei der ihre afrikanische Kultur, ihr Erbe, ihre Sprache und Geschichte untergegangen sind. So sehr, so gründlich, dass sie ihrem Gedächtnis bis heute unfassbarer geblieben ist als die Sklaverei. Dieser Unfassbarkeit, dieser Unvorhandenheit einer gelöschten Geschichte sucht Morrisons Buch eine Sprache und Geschichte zur Verfügung zu stellen, in der sich eine in jedem Sinn bruchstückhafte Erinnerung ergeben und aussprechen kann. Wie können wir uns das vorstellen? Speak to it, heisst es bei Hamlet, sprich zum gerade wieder aufgetretenen Geist des toten Vaters. Morrisons Buch ist ein Speak to it, es spricht zu dem, was immer noch und wieder keine Geschichte hat. Sprich zu ihm, gib ihm das Wort zurück, das ihm genommen worden ist, sprich zu Menschenkind. Plötzlich ist sie da, schön, jung, mit Schuhen an den Füssen, die noch unbenutzt sind. Ihre Hände haben keine Linien, was als Erkennungszeichen von Gespenstern angeführt wird, und auf subtile Weise mit dem korrespondiert, wie die Weissen genannt werden: Die Hautlosen. Menschenkind hat Haut, schwarze Haut, sie kommt aus dem Wasser, das auch das Wasser der Middle Passage ist, das die Sklaven überquert haben, als sie zu Sklaven wurden, abgeschnitten von ihrer Sprache, ihren Wurzeln, ihrer Kultur, – einer Art doppelter Taufe. Sie taucht auf, kurz nachdem Paul D, einer der ehemaligen Sklaven von Sweet Home vor der Tür der 124 steht und bleibt. Sweet Home, wo auch Sethe als Sklavin lebte, von wo sie, ihrer Schwiegermutter und ihren drei Kindern folgend, mit letzter Kraft flieht. Sie ist zerschunden, ausgepeitscht, hochschwanger und bekommt ihr viertes Kind, Denver, unterwegs auf einem Boot. Mit der Hilfe einer armseligen jungen Weissen, die auf der Suche nach etwas so weichem wie Samt, den sie in Boston finden zu können glaubt, herumirrt, sie findet und sich ihrer annimmt. Stamp, der alte Stamp, weiser Fährmann über den Fluss, der das Land der Sklaverei von dem der Freiheit trennt, setzt sie schiesslich über, bringt sie an Land und zu ihren Leuten. Mit Paul D, der gleich als er eintritt, von den Möbeln im Haus angefallen wird, denen er sich widersetzt, kommt nach vielen Jahren Leben, Erinnerung, so etwas wie Liebe und Fürsorge ins Haus zurück. Bis kurz darauf Menschenkind auftaucht, ihn vertreibt und die beiden Frauen, Sethe und Denver ganz für sich beansprucht. Sie will alles von ihnen, will sie lieben und saugt sie aus. Erneut isolieren sie sich von jeder Gesellschaft, von jeder Vorstellung eines anderen. Das tut Menschenkind nicht aus bösem Willen. Vielmehr kommt in ihr die Erfahrung von Auslöschung dermassen zum Ausdruck, dass nichts diese Auslöschung je wieder wird gut machen können. Nichts ist wiedergutzumachen, keine Vernichtung rückgängig zu machen. Doch von ihr in dieser Radikalität zu erzählen, das ist, was Menschenkind zu einem Kind von Menschen macht. Baby Suggs, Schwiegermutter von Sethe, weise Frau, von allen verehrt, sagt über die Weissen: Sie wissen nicht, wann sie aufhören müssen. Und: Nichts, was sie hervorbringen, ist nicht von übel. Wenn Menschenkind die, die sie lieben, heimsucht, so tut sie das wie die Weissen. Grenzenlos und von Übel. Und nun muss ich doch noch kurz die Geschichte erwähnen, die das leergefegte Zentrum des Buchs bildet. Sethe, nach gelungener Flucht genesend, begreift langsam, dass sie lebt, dass es sie gibt. Sethe, zum ersten Mal in ihrem Leben, wird sich bewusst, ein eigener Mensch zu sein, Kinder zu haben, da ist Baby Suggs, das Haus, in dem sie leben, die Nachbarschaft, Schwarze, wie sie ehemalige Sklaven. Gerade beginnt sie ein Gefühl für ihre Freiheit zu empfinden, als sie eines Morgens sieht, wie ihr ehemaliger Besitzer, zusammen mit dem Sheriff und einem Sklavenjäger auf das Haus zugeritten kommen. Niemand hat sie gewarnt. Und schneller als ihre Schwiegermutter und der alte Stamp, der gerade Holz hackt, begreifen können, packt sie ihre Kinder, schliesst sich in den kleinen Schuppen hinter dem Haus ein, und versucht sie zu töten. Ihnen zumindest soll die Erfahrung der Sklaverei erspart bleiben, die schlimmer als der Tod ist. Sie verletzt ihre beiden Söhne, tötet ihre Zweijährige, die winzige Denver kann ihr gerade noch von Stamp, der hinzugeeilt ist, aus der Hand gerissen werden. Diese Schreckensgeschichte, dieses Toben des Teufels, der als Wirkung der Sklaverei in Sethe gefahren ist, zeigt das Verhängnis einer Heimsuchung, ähnlich der, aus der Menschenkind kommt. Um dem Teufel zu entgehen, wird Sethe selbst zum Teufel, und sie wird es, um der Freiheit willen. Ihre Kinder sollen frei sein, auch wenn sie dafür tot sein müssen. Das ist die Logik der Sklaverei. Ihre Tat bringt zumindest die, die sie zurückholen wollten in die Sklaverei, zurück unter ihre gesetzlose, teuflische, sadistische Herrschaft, dazu, sich vor ihr zu fürchten. Sie lassen von ihr ab, geben ihren Plan, sie zu zurückzuholen in die Sklavenhaltung auf. So als würden sie sich sicher sein, dass das, was Sethe nun erwartet, schlimmer noch ist als die Sklaverei, – selbst zum Teufel geworden zu sein, der seine Freiheit nur durch den Tod beschützen kann. „Dies ist keine Geschichte zum Weitererzählen.„ Heisst es am Ende des Buchs. „This is not a story to pass on.“ Was auch heisst: Dies ist keine Geschichte, die man übergehen darf. Womit das Dilemma der Erinnerungsarbeit, die dieses Buch wagt, exakt benannt ist: Diese Geschichte ist keine zum Weitererzählen. Sie ist zugleich auch die Geschichte, die auf keinen Fall nicht erzählt werden darf, die auf keinen Fall übergangen werden kann. Und da können wir auch wieder Mrs Brown sehen, und Sethe, und Denver, Paul D und die mutigen schwarzen Frauen der Nachbarschaft, die Menschenkind mit ihren Gesängen und ihrer Entschlossenheit zu leben, zum Weggehen bewegen können. Und für einmal lassen sie für keinen Teufel eine Lücke. 7