Weisen des Erinnerns / Schreibweisen

Theoriewoche 11.9.- 15.9.95 HGKZ

Was geschieht, wenn wir uns erinnern? Was tritt da auf die Bühne und in welche Kulisse hinein? Von wo kommt das Licht, in dem die Erinnerung ihren Auftritt nimmt? Was spielt die Erinnerung, an was erinnert sie uns? Ja, uns, die wir uns erinnern? Sitzen wir im Souffleurkasten, im Zuschauerraum, oder haben wir das Theater bereits wieder verlassen, in dem die Erinnerung auf anderes anspielt?
Zur Erinnerung gehört das Vergessen,- also all die anderen Arten des Wissens über Vergangenheit, die in der Szene des Erinnerns nicht sichtbar, nicht sprechbar sind.
Sich Erinnern ist eine Arbeit, ein Such- und Grabprozess, in dem sich unsere Aufmerksamkeit verändert und sich unsere Sicht- und Fühlweisen verschieben. Aber wohin? Wo ist der Raum, den sich Erinnerung und Vergessen teilen, wo sie leben, schlafen, sich bekämpfen und zeigen?

In einem Roman von Peter Esterhazy (Donau abwärts) las ich von einem Onkel, der die Donau hinab gefahren ist, die ab Budapest „Blutdonau“ heisst. Und der an eben dieser “ Blut“- Geschichte der Donau zum Terroristen auf einem Donaudampfer wird. Von diesem Onkel, der sich von den Menschen abgewandt hat, las ich, dass er die wenigen Menschen, die er dennoch liebte, in die Leber, in die Lunge, ins Herz und in die Lunge steckte.
Seitdem frage ich mich, wo ich sie hintue, wie es wohl in meiner Leber und meiner Lunge aussieht? Und ich werde die Vermutung nicht los, das alles, was ich weiss, – wozu ja auch das gehört, was ich nicht weiss,- dort haust.

An Texten von Marguerite Duras und Sarah Kofman, sowie an Filmbeispielen soll versucht werden, Erinnerungsweisen zu entziffern und zu differenzieren. Und eben das bedeutet, sich zu erinnern.

Lektüre: Marguerite Duras „Der Schmerz“, München 1986, Sarah Kofman „Rue Ordener, Rue Labat“, Tübingen 1995