Schnee von heute

© Basler Zeitung|24.02.2010|Seite: bazab43
Schnee von heute
Friederike Kretzen*

Die Schweizer Schriftstellerin und bildende Künstlerin Erica Pedrettiwurde am 25. Februar 1930 in Tschechien geboren. Sie kam 1945 in die Schweiz, ins Land ihrer Grossmutter. Die Basler Schriftstellerin Friederike Kretzen schickt ihrer Kollegin einen Geburtstagsgruss, beschwingt, beflügelt von zwei Sätzen aus dem Werk der Erica Pedretti.

„Es schneit in Plouda“: So hebt es in Erica Pedrettis erstem Buch „Harmloses, bitte“ an, woraufhin sich auch schon einige Sätze weiter und vor unseren Augen das Schneien samt Plouda in diesen unwägbaren Schnee von gestern, vorvorgestern oder übermorgen verwandelt, unter dem sich jede Fassbarkeit auflöst, bis es schliesslich heisst: „… vielleicht gibt es gar keinen Ort Plouda. (…) Ist das wirklich Blauda?“

Mit diesen so lakonisch unscheinbaren Sätzen ist uns Erica Pedrettivor ziemlich genau 40 Jahren in die Literatur geschneit, in der sie uns seitdem mit ihren ganz und gar nicht harmlosen Büchern (von ihren Kunstobjekten und Zeichnungen ganz zu schweigen) für freie Sicht vor allem auf all das sorgt, worauf mit keiner freien Sicht der Welt zu schauen ist. So hemmungslos herkunftslos und ziellos wie der Satz vom Schnee in Plouda erzählen uns ihre Texte von einer Wirklichkeit, in der es seither – zumindest in Plouda – schneit.

Das Unterwegssein zwischen Orten und Zeiten, zwischen Plouda, Blauda und nicht Blauda, die improvisierte Behausung im Schneien, Lust und Schrecken von überstürzten Aufbrüchen, verbunden stets mit einer provozierenden Eleganz der Form, die auf leisen Sohlen, in sanften Runden daherkommt – das sind einige der Markenzeichen einer Landvermesserin ungewisser Landschaften der Geschichte, die sich in der „Geographie der Geister und des Geistes“, wie Ilse Aichinger sagt, bestens auskennt. Auf ihren Wegen durch die Zeiten, zwischen Ländern und Orten der Vertreibung schaut sie immer mal wieder bei uns vorbei und gibt uns Kunde von Vergangenem, das uns jeden Moment wieder ins Haus zu schneien droht.

erste begegnung. Doch jeder Anfang liegt vor dem Anfang. Noch vor dem Satz mit dem Schnee in Plouda war meine erste Begegnung mit Erica Pedrettidie mit ihrer Stimme und einem anderen Satz.

Es muss 1985 gewesen sein, bei den Solothurner Literaturtagen, als sie ihre Stimme erhob, den Anfang aus ihrem erst Jahre später erscheinenden Buch „Engste Heimat“ las, und der hörte sich in etwa so an: „Mister Brown, Mister Brown, are you going down to town?“

Das Kind Anna, umringt von Grossmutter, Mutter, Englischlehrerin, sitzt im Garten und soll Englisch lernen, während den Frauen immer wieder die Nadeln aus der Handarbeit fallen oder die Grossmutter nach der Brille sucht, die ihr doch auf der Nase sitzt. Mister Brown durchzieht als Partisan das ganze Buch und öffnet die engste Heimat immer wieder auf die rettende Aussicht, mit ihm in die Stadt zu gehen. Oder zu Annas Grossvater, der den riesigen Garten zum Blühen und Wuchern bringt, aus Faust zitiert und sich mit dem mährischen Tod auskennt.

Solch ein Satz geht mit uns um. Ãœber all die Jahre hat er die Anziehung behalten, dass ich noch immer mit will; auf und davon mit Mister Brown. Und wenn wir eine Weile mit ihm umhergegangen sind, wissen wir auch, woher er kommt: aus der Vertreibung. „Could you kindly take me down?“

Wann immer ich an den Anfang aus „Engste Heimat“ denke, höre ich sofort den Pedretti-Ton, der sich mir wie eine Anrufung eingeprägt hat. Angerufen werden das Schreiben, die Sprache, die Bilder, dass sie noch einmal möglich würden, sodass etwas zutage träte, sich zu Text fügte, was sonst für immer verschwunden wäre, was aber einmal da war, nur eben in einer anderen Zuständigkeit. Eine stetig ausschweifende Anrufung, in der sich der Text der Anrufung mit dem Angerufenen verwebt.

Schreiben im Campingwagen. Bei einer späteren Lesung aus demselben Manuskript habe ich von einem Campingplatz oberhalb des Bielersees erfahren. Das mittlerweile erwachsene Kind Anna sitzt in einem Campingwagen, von dem aus es einer Gruppe Tibeter bei ihrem abendlichen Sonnengebet zuschaut, während es an sich als das Kind Anna denkt.

Mir wurde nach der Lesung versichert, dass es diesen Campingwagen tatsächlich gebe, dass dort geschrieben würde, was das Zeug hält. Da ich das nicht glauben wollte, wurde ich aufs Freundlichste dorthin eingeladen. Das war dann ein weiterer Ausflug mit Mister Brown zum Ort seiner Hervorbringung, hoch oben über dem Bielersee, umgeben von Bäumen und gesäumt vom Türkenbund.

Ein Campingwagen, in den sich Erica Pedrettibis heute, wenn es ihr in der Ebene zu bunt wird, zurückzieht. Eine „Onkel Toms Hütte des Schreibens“, in der die Sätze, die aus der Vertreibung kommen, nicht nur ein Heim gefunden haben, sondern lange erwartet worden sind.

Texte als Weggefährten. Hier werden Wörter zu Sätzen eingeladen, bis sie sich zur schwebenden Erzähllandschaft auswachsen. Daran muss es liegen, dass für mich Pedrettis Texte Weggefährten werden, die mir bleiben.

Weggefährten in Gegenden, von denen es oft heisst, es gebe sie nicht, es habe sie nie gegeben. Irgendwo zwischen Gärten, Ländern, Zeiten, zwischen Kopf, Hand und Fuss. Oder soll ich sagen, zwischen Deutschland, Mähren, Amerika, England, Italien und der Schweiz, den Wohn- und Schreibstätten?

Radikalität ist keine Angelegenheit des Willens, sondern der Erfahrung, habe ich einmal bei Alexander Kluge gelesen. Pedrettis Bücher sind mit den Jahren immer radikaler geworden und waren dies doch schon von Anfang an. Was etwas mit „sich Zeit lassen“ zu tun hat. „Lass ihr Zeit.“ Heisst es über das Kind Anna in „Engste Heimat“. Ein Satz, mit dem sich die Autorin zugleich um ihre eigene Geduld bittet.

Wind der Vergänglichkeit. Sich Zeit zu lassen, ist das Schwerste beim Schreiben und ist die Haltung, mit der wir beim Schreiben dem Schreiben begegnen. Pedrettis Texte sind schwebender, leichter, einfacher geworden. In ihrer Unmittelbarkeit ist der Wind der Vergänglichkeit zu spüren, wie er uns um den Kopf weht.

Zeithaben hat sowohl mit Zeitlassen zu tun, wie auch mit Zeitnehmen. Zeit überhaupt wahrhaben zu wollen, bedeutet, mit der Vergänglichkeit zugleich die Unzugänglichkeit des Vergangenen anzuerkennen. So gesehen, hat Pedrettis Literatur weniger mit Erinnerung als mit Erfindung von Gegenwart zu tun. Einer Gegenwart, in der das Vergangene ausgehalten und das Zukünftige gedacht werden kann.

Erica Pedrettikennt die Welt und macht sie uns kenntlich, indem sie zusammen mit Mister Brown nicht aufhört, von der Vernunft, dem richtigen Leben, dem Bleiben zu träumen, und dann gehen die beiden doch wieder in die Stadt, schweifen ab, tauchen unter, während die anderen an Tischen sitzen, in Gärten und über ihr Leben brüten, das längst vergangen ist.

Sprache der Hirsche. Seit ich einmal mit ihr und ihrem Mann Gian Pedrettiin Venedig Andenken kaufen war und die beiden aus Gründen der Diskretion ihre beratenden Kaufgespräche in einer gänzlich wilden und verwunderlichen Sprache führten, weiss ich und verrate es Ihnen, dass Erica Pedrettineben anderen Sprachen auch die der Hirsche spricht. In der Schweiz heisst diese auch Rätoromanisch.

Mein Geburtstagsgruss kommt auf den Flügeln zweier Sätze daher, die es mir von Anfang an angetan haben. Und das sind ja nur zwei von vielen Pedretti-Sätzen, die sie uns vorausgeschickt hat, – zu unserem freien Gebrauch.

Es ist eine bewährte Partisanen- und Anarchistentaktik, versteinerte gesellschaftliche Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, indem wir Gespräche mit Mister Brown und dem Schnee in Plouda führen. In den Büchern der Pedrettikönnen wir die dazu nötigen Tanzschritte lernen. So wie uns Levi-Strauss am Ende seines Buchs „Die traurigen Tropen“ dem Glück und dem Schutz des Gesprächs mit einer Katze anempfiehlt.

* Friederike Kretzen veröffentlichte zuletzt den Roman „Weisses Album“ (Nagel & Kimche, 2007). Sie lebt in Basel und lehrt im Frühjahrssemester 2010 an der ETH Zürich „Schreibarbeit: Präzision der Sprache als Forschungsfeld der Literatur“.

> Hommage an Erica Pedretti: Literaturhaus Basel, Barfüssergasse 3. Mi, 31. März, 19 Uhr. Mit Erica Pedretti, Friederike Kretzen, Jürg Laederach. Moderation: Martin Zingg. www.literaturhaus-basel.ch