RASANTES PROJEKT

STARKE ERFAHRUNGEN SIND NIEMALS BESÄNFTIGEND.

Das sagt Henry James. Ich möchte darum und unter dem Segel einer nicht zu besänftigenden starken Erfahrung an dieser Stelle, wo wir uns etwas Endlosem zuwenden und am Ende stehen von etwas, das nicht das Ende ist und nicht zu Ende, von einem Projekt berichten, das unter diesem Dach stattgefunden hat, und das mir seither in seiner Gewagtheit und Tollkühnheit immer unwirklicher vorkommt. So dass ich mehr und mehr geneigt bin zu denken, ich hätte mir das alles nur ausgedacht und erträumt. Doch es hat dieses Projekt der WEISSEN SEITEN gegeben. Unser einziger Irrtum war, anzunehmen, so ein Projekt machen zu können. Dabei war es umgekehrt, es hat etwas mit uns gemacht. Was, das werden wir vielleicht eines Tages wissen, wenn wir schon lange nicht mehr da sind.
Das Projekt, von dem ich im folgenden berichten möchte, ist in gewisser Weise aus einem anderen Projekt, das ich in diesem Haus zusammengerufen habe, entstanden, das existierte, das weiter ging, einmal im Jahr trafen wir uns, viele Jahre lang. Wir nannten es LABORATORIUM und es war ein Treffen von Schreibenden, ihren Texten, ihren Weisen, da zu sein im Schreiben und zu siedeln an der Biegung der Sprache. Das LABORATORIUM hat mich darin bestärkt, dass es darum gehen kann, sich mit all seinen Gewissheiten immer wieder und so sachlich wie möglich in den Abgrund der Sprachlosigkeit und der Verwirrung zu stürzen. Und dafür eine so genaue Sprache wie möglich zu finden. Wie sonst soll es zu starken Erfahrungen kommen?

So erzählte ich Veronika Sellier, dass ich gerne einmal ein Projekt machen würde, das sich der Leere, dem Nichts widmet. All dem, was hinter, unter, vor allem zwischen dem viel zu vielen Gleichen liegt, in dieser unklaren Gegend einer anderen Beschaffenheit der Dinge, der Worte, der Nuancen, von der wir ständig abgelenkt werden, zu der wir auch nicht einfach kommen können, die wir uns immer wieder erfinden, uns freilegen müssen, so laut und schnell ist es um uns herum und wird ständig noch voller, ohne dass es irgendwo weniger werden würde. Es sei denn in einer solchen Expedition ins Nichts, zum Wenigerwerden, zum gänzlich Sinnlosen. Also eine Reise dahin, wo die Seiten wieder weiss werden können, wo sie Löcher haben können und Ungewissheit genug, um zu denken, zu sehen, und um vielleicht abermals aufzubrechen zur Reise um die Welt.

Veronika war sofort Feuer und Flamme. Was uns sozusagen zur Tollkühnheit verdammte. Denn auch Mut, vor allem in seiner übermütigen Form, ist ansteckend. Alle, die ich daraufhin anrief und fragte, ob sie Lust hätten, mitzumachen, auch sie waren sofort dabei.
Ich vermute, dass die starke Erfahrung, um die es mir hier geht, in gewisser Weise schon vor uns da war.
Als wir uns dann eines Tages im Dezember 2009 zu unserer ersten Zusammenkunft Richtung Romainmotier aufmachten, waren wir bereit, über alles zu sprechen, auf jedes unserer Worte zu hören und darauf, ob sich in ihnen eine Tür öffnete auf eine andere Möglichkeit, da zu sein. Vor uns lag die Vorstellung einer langen Belichtungszeit für unsere Ungeduld. Hinter uns die alten Utopien, mit ihren vielen Richtungen ins Vage und Wunderbare ungesicherter Horizonte.

Es kamen also Artisten unterschiedlichster Disziplinen zusammen: Clowns, Dompteusen, berühmte Tierdarsteller (Giraffe, gepunkteter Tapir, Floh) Revolutionärinnen, Trapezkünstler, Zauberer. Wir setzen uns zusammen und sagten, wer wir waren, was wir uns vorstellten, machen zu wollen. Was wir uns nicht vorstellen wollten, sagten wir auch. Schon waren wir in der schönsten Verwirrung, sprunghaft wie Delfine und feierlich wie Zauberer. Am Ende eines langen Gesprächs bis in den späten Abend sagten wir mit einer Stimme: Wir sind Tiger, niemals werden wir Gras fressen. Und da Teil unserer Systematik, die wir uns ausgedacht hatten, war, immer zwei Sätze von einer Sache oder Idee zu sagen, riefen wir auch aus: Wir sind Gras, wir hören Tiger singen. So endete der erste Tag unserer Zusammenkunft. Wir waren aufgeregt und sahen ein Land vor uns, zu dem wir gerne hingesegelt wären. Das versuchten wir am nächsten Tag und als wir auseinander gingen, sagten wir ekstatisch: A bientot, liebe komische Vögel.

Ich schrieb dann einen Bericht zu Händen der Migros-Akademie Romainmotier, dass alles mit rechten Dingen zugegangen sei und die Zukunft uns blühen würde. Hier ein kleiner Ausschnitt aus diesem Bericht:
THEATERS nennt Hiroshi Sugimoto eine Serie von Fotoarbeiten, bei denen er in den glamourösen amerikanischen Lichtspieltheatern der 30er Jahre und in den Autokinos der 50er Jahre jeweils ganze Filme fotografierte. Die Belichtungszeit, mit der er die Filme aufnahm, dauerte so lange wie der Film. Tausende Einzelbilder schwärzten dabei das Negativ und erschienen im Abzug als strahlend weisse Seite, die den ganzen Kinosaal illuminiert.
In diesen Fotografien leuchtender weisser Filmleinwände, in denen der gesamte Ablauf eines Films zwar nicht sichtbar, aber als Leuchten anwesend ist, wird etwas ansehbar, was ohne diese Fotografien nicht sichtbar wäre. Zu sehen sind Zeiten, Räume, Handlungen und Bewegungen, alles, was in einem Film vorkommt, aufgehoben und bewahrt in Licht. Einem ansehbaren Licht, das
aus einer langen Zeit besteht.
So wie Sugimoto in diesen Fotografien am Imaginären arbeitet, indem er ihm Raum gibt, das heisst, eine lange Zeit,
haben auch wir an der Imagination der Idee Weisser Seiten gearbeitet. Denn die Weissen Seiten sind nicht weiss. Sie sind einerseits übervoll, verschrieben, verdeckt. Zugleich sind sie aber auch die Notwendigkeit des unbeschriebenen Blatts als Bedingung der Möglichkeit, das, was schon da steht, anders lesen zu können. Wir versuchten, uns das Doppelte der Weissen Seiten vorzustellen: Dass sie uns fehlen, und dass sie die Seiten des Fehlens sind. Als Seiten des Fehlens sind sie leer, als Seiten, die uns fehlen, voll, und auch umgekehrt. Die Weissen Seiten sind eine Konstruktion, nur als solche können sie wirklich werden. Sie sind nicht ansehbar, und sie öffnen sich zwischen den Ansichten des Unansehbaren.
Das Konzept der Weissen Seiten ist eine Entgegnung auf ihr Fehlen. Eine Entgegnung, die auf das Fehlen von Offenem reagiert, um ihm mit Offenheit zu begegnen. Auch mit Gastfreundlichkeit.
So weit der Auszug aus dem Bericht.

„Höher als die Liebe zum Nächsten ist die Liebe zum Fernsten und Künftigen; höher noch als die Liebe zum Menschen ist die Liebe zu Sachen und Gespenstern. Das Gespenst, das vor dir herläuft, mein Bruder, ist schöner als du; warum gibst du ihm nicht dein Fleisch und deine Knochen? Aber du fürchtest dich und läufst zu deinem Nächsten.“ Auch diese Einsicht Nietzsches scheint unserer Expedition vorausgeeilt zu sein. Nach der ersten Zusammenkunft erschienen wir zu unserem zweiten Treffen wie umgedrehte Handschuhe, bekämpfend, dass wir teilgenommen hatten, und nun auch noch zu einem zweiten Treffen gekommen waren. Wendung des Glücks, Flaute, die Segel schlaff.
Die Revolutionäre wollten nun Taten sehen, die bekannte Dompteuse sagte, sie wolle nun mit kürzeren Zähnen sprechen. Die Clowns fielen ständig um, kaum sahen sie eine Katze. Sie bekamen Lachanfälle, weil einer von Spirit gesprochen hatte und sie schrieen, meinst du nicht eher Sprit? Der Zauberer sagte nichts, sah aber so aus, dass wir ihm alle gut zuredeten. Der Giraffendarsteller sagte, er frage sich, ob er hier richtig sei. Nur darum sei er nochmals hierhergekommen. Die Trapezkünstlerin meinte, sie müsse ein Ich vor sich haben, sonst ginge sie nicht auf dieses Ding da oben. Sie meinte ihr Trapez. Aber vielleicht auch ihr Ich. Nein, sagte sie, sie könne mit dieser vagen Empfindung bei Vollmond nicht da hoch. Dabei war weit und breit kein Vollmond zu sehen, jedenfalls nicht am Himmel. Gut, sagte ich, wollt ihr also wie Herrmann sagen: Ich will nicht wissen, ich will nicht lieben?!

Das war zu viel. Das kannst du uns nicht sagen, sagten sie. Wo nimmst du das her? Wir sind nicht in Gefahr. Die berühmte Tapirdarstellerin mit den Punkten sagte, oh dieses Reden, dieses verfluchte Reden, dieser verfluchte Kafka und die Dompteuse sagte, ja, ich habe es von Anfang an gewusst, ich bin hier fehl am Platz, ich habe hier gar nichts beizutragen. Woraufhin sie wirklich aufstand, sich verneigte und schon mal ging. Dann wurden wir zum Essen gerufen, sie sass am Tisch, es gab Ente. Wir tranken so viel wir konnten.
Dann ging es, ein bisschen beruhigter, in die nächste Runde. Wir ritten durch die Zeit, die wir brauchen und nicht haben, der wir unterworfen sind, und die wir uns unterwerfen müssen, indem wir uns ihr unterwerfen. Wir fragten uns, wie um Himmels Willen wir uns dieses komplizierte Zeitverhältnis vorstellen sollten, das ja auch ein Verhältnis mit uns und zu uns in unserer Zeit ist? Unser Treffen unter dem Segel der Weissen Seiten, sagte der Zauberer, ist die Einrichtung einer festen Einstellung zur Erfahrung von Phantasie und der ihr eigenen Zeit. Du meinst, dass auch Phantasie abläuft? rief einer der Clowns. Und der andere Clown sagte: Sind die Weissen Seiten der Film einer festen Einstellung, die wir zusammen phantasiert haben? Wir müssen eine andere Zeitform finden, uns in sie hineintragen, sagte die Dompteuse mit den immer kürzeren Zähnen. Die Trapezkünstlerin sagte, wir sind so was wie Pina Bausch für Hippies.

Daran, wie wir diesen Abend beendet haben, kann ich mich nicht mehr erinnern. In der Nacht sind zwei Artisten abgereist und wurden nicht mehr gesehen. Am nächsten Tag waren wir traurig und der Zauberer sagte, er würde nicht mehr kommen. Die Revolutionärin sagte das auch und sprach von Gramsci. Uns hatte der Mut verlassen, wenn es Mut war, was uns hierher gebracht hatte. Unschlüssig gingen wir auseinander. Vielleicht, sagten wir, ja vielleicht sehen wir uns noch einmal. Was wir taten. Wegen Drei und allen guten Dingen. Und wie zur Beruhigung sagten wir, es wird das letzte Treffen sein.
Der harte Kern kam, fragte sich, ob wir uns denn leisten könnten, uns unserer Ratlosigkeit auszusetzen, sie zuzulassen, sogar darüber zu sprechen, wie schwer erträglich sie sei, wenn es doch rund um uns herum so viel Zerstörung, Krieg, Armut gebe. Wie sollten wir uns gefährdet fühlen können in unseren Versuchen anders und anderes zu denken, wenn doch um uns herum in so vielen Ländern Menschen nicht wüssten, wie sie ihr nacktes Leben schützen sollten?
War es Phantasie, war es Angst, was in uns immer wieder diese Konstellation von uns und den anderen wiederholte, und dass wir uns nicht anmassen könnten, zu sagen, dass Denken gefährlich sei für den, der es wage, wenn Gefahr für andere doch etwas ganz anderes, viel Unmittelbareres sei als die Gefahr des Denkens. So zu denken allerdings ist eine Gefahr. Nicht nur für uns. Denn wie sonst sollten wir die Gefährdung des anderen denken können wenn nicht als unsere eigene?
Sind wir nicht in Gefahr, im Namen einer zweifelhaften Gerechtigkeit nicht mehr von uns zu sprechen? Von uns, die die anderen brauchen, die es brauchen, mit ihnen zu sprechen, ihnen ihr Wort zurück zu geben; vielleicht das Wort Ratlosigkeit, vielleicht als geteiltes, mitzuteilendes Wort?

Jetzt sind wir die Weissen Seiten in dieser Form wieder los, vielleicht fliegen sie irgendwo herum, und keiner weiss, wozu sie gut sein sollen.
Ihr gastfreundliches Versprechen einer langen Belichtungszeit allerdings bleibt bestehen. Können wir es halten?
Was bleibt, ist der Schatten einer Notwendigkeit, das Schutzlose zu schützen und das zu bewahren, was sich nicht erhält.

Friederike Kretzen
Eröffnungsvortrag Tagung „Es gibt kein Ende“ in Romainmôtier 23.5.14