On the road again! BAZ 16.5.17

Von Christine Richard

Vielleicht sind wir alle in gewisser Weise Gespenster. Vielleicht ist das, was wir heute sind, nur ein Schatten von dem, was wir in unserer Jugend waren: vielseitig interessierte, abenteuerlustige Menschen, zärtlich, politisch tollkühn und sehnsüchtig nach einer Zukunft, die mehr ist als nur eine Verlängerung des Wohlstandschlafes.

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Was vergangen scheint, ist nicht vorbei. Träumende wissen das. Aber wer erinnert sich schon an seinen Traum, wenn morgens der Wecker klingelt, wenn das Frühstück gerichtet, wenn das Geld verdient werden muss? Träume zu erinnern, bleibt Künstlern vorbehalten, den Dichtern zumal.

In der Schweizer Gegenwartsdichtung ist Friederike Kretzen die begabteste Traumwandlerin von allen. Sie schreibt nicht nur über den Traum der Revolte. Ihre Romane, weil sie den Gesetzen der Traumlogik folgen, ziehen Leserinnen und Leser geradezu ins Träumen von damals hinein. Das schaffen nur wenige. Voraussetzung allerdings ist, dass man sich auf ihre Traumbücher einlässt. Das ist nicht einfach.

1956 in Leverkusen bei Köln geboren, lebt Friederike Kretzenseit über 30   Jahren in Basel. Leverkusen, das war Bayer AG, chemische und pharmazeutische Industrie, Kindheit bei der Grossmutter, Durchmischung von Nazi- und Nachkriegszeit, Geisterstadt. Es folgten Studium und Schauspielschule, Fernreisen, Trotzki und Theater. Aufbruch und Widerstand, Pop und Politik, Bayer AG und WG: Davon träumt Friederike Kretzens Werk bis heute.

Ihr Roman «Weisses Album», getauft nach dem Beatles-Album von 1968, handelt von drei Schwestern, die wie bei Tschechow, nach Moskau wollen, drei Untote, drei Wiedergängerinnen der Revolte: «Angst haben wir keine. Wir sind die Angst.»

Ihr Theaterroman «Natascha, Véronique und Paul» feiert das 40. Jubiläum von Woodstock. 1969, verdammt lang her. Kretzenund ihre Figuren sind Nach-68er, Nachkommen. Sie gehören zur neuen Generation Sponti, Strukturalismus und Rotgrün. Sie schweben im Echoraum von 1968. Gespenster, Gespenster.

Auf der Suche

Und weil sie nicht gestorben sind, so leben die Gespenster auch in Kretzens jüngstem Roman weiter. Er heisst «Die Schule der Indienfahrer», und die Ich-Erzählerin ist wiederum Véronique. Die Story ist schnell erzählt: Nach 40   Jahren bricht eine Wohngemeinschaft mit Freunden nach Indien auf, um zwei in Bangalore verschollene Kollegen aus den 1970er-Jahren zu suchen, den Zürcher Filmer Alexander und den Seminarleiter Günther.

Früher haben sie gemeinsam Theater gemacht, haben Häuser besetzt, Anarchismus-Seminare besucht und gegen das Atomkraftwerk in Wyhl agitiert. Haben eben alles mitgemacht, was in den 1970er-Jahren irgendwie «in» war. Dann verloren sie sich aus den Augen; mir nichts, dir nichts, alles vorbei. Vorbei?

Was nur abgerissen ist, kann nicht weg sein. Was nicht verarbeitet ist, muss ewig wiederholt werden. Wiederholung ist Grundprinzip auch dieses Romans. Das erste Mal war Véronique 1976 in Indien, auf dem Trail der Hippies und Drögeler. Jetzt beim zweiten Mal, 2014, wird Indien zum «Reich der Verschwundenen». Die sechs Indienfahrer, auf der Suche nach den verschwundenen Freunden Alexander und Günther, suchen die Chance, sich selbst «als Verschwundene zu begegnen». Wie waren wir, als wir jung waren?

Es war sehr einfach: «Wir wollten das Leben finden und uns in ihm lebend.» Sich lebend fühlen, lebendig: Hat sich der Wunsch im Alter überlebt? Oder hat er nur auf seine zweite Chance gewartet? Auf die Wiederholung? Oder ist Wiederholung nur im Film möglich, eine Technik, letztlich tot?

In der Schweizer Botschaft in Delhi sehen die Indienfahrer am Ende einen alten Dokumentarfilm. Sein Titel: ­­­«Die Verschwundenen». Das Material stammt von Alexander. Es sind Bilder, Reste von früher. Tagesreste wie im Traum. Die Personen sind sie selbst. Absolute Beginners. Engel, die sie waren, als sie noch spielten. Gespenster im Schneegestöber.

Wer Friederike Kretzens Indienfahrt auf der Suche nach der verlorenen Zeit geniessen will, muss als Leser zwei Dinge mitbringen. Zum einen die Bereitschaft, sich im Vagen verlieren zu können, um sich wiederzufinden in diesem überaus poetischen Traumland. Der Roman blüht geradezu von wundersamen Bildern, die miteinander verwurzelt sind wie Rhizome.

Zum anderen braucht der Leser einen Koffer mit Erinnerungen aus den 1970er-Jahren. Man muss das kulturelle Milieu kennen, auf das die Autorin anspielt. Nur dann kommt es zu intensiven Aha-Erlebnissen. Leo Trotzki und Frida Kahlo, der Tunix-Kongress 1978, Jacques Tati, Klaus Theweleit und Peter Steins «Sommergäste»: Das waren damals Schlüsselerlebnisse und sind heute Türöffner ins Unbewusste.

Schlafwandelnde Erinnerung

Der Roman streckt Anspielungen wie Ärmchen nach dem Leser aus. Wie das eigensinnige Kind der Brüder Grimm, aufgenommen in ein Buch von Oskar Negt und Alexander Kluge. Das Kind, das wir waren, streckt seine Hand aus dem Grab. Die Erinnerung will nicht sterben. Sie schlafwandelt durch Träume, Märchen, Moden, Filme, Songs und Bücher.

Die Romanfigur Alexander erinnert an den «Mars»-Roman von Fritz Zorn, Zürich 1977. Die Hippie-Mode erinnert an die Weltoffenheit von damals. Bunte Westen mit eingestickten Spiegeln (Indien), Fransentaschen (Indianer), Pluderhosen (Afghanistan) und Stirnband (Winnetou): So erfand sich in den 1970er-Jahren die Internationale der Jugendkultur. Man liess die Referenzen wimmeln, untergründig wie Friederike Kretzen– Underground, Subkultur.

Diese Sehnsucht

Was lernt der Leser in der «Schule der Indienfahrer»? Dass die Erinnerung trügerisch ist. Dass man sich an nichts stärker erinnert als an die Sehnsucht: «Wir haben Indien gesehen. Wir haben Zeit verloren. Es war unsere einzige Chance, etwas über uns zu lernen. Unsere Schule war ein Traum. Denn wir können nicht mehr als träumen von so viel zurückliegender Zeit und davon, wie die uns noch immer mit einer Sehnsucht erfüllt, die grösser ist als alles, was je wir gewesen sein werden.»

Die Sehnsucht übersteigt, was wir sind. Träume sind keine Schäume. Sie bergen Tagesreste, die warten. Sie warten wie gebannt in Friederike Kretzens Romanen. Ihre Romane sind wie Klarträume. Der Träumende ist sich im Klaren darüber, dass er nur träumt – und dass er den Traum steuern und nach eigenem Entschluss handeln könnte. Brechen wir auf. On the road again. Die «Schule der Indienfahrer» ist einzig­artig in der Gegenwartsliteratur.

 

Friederike Kretzen:

«Schule der Indien­fahrer». Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main und Basel 2017. 260 S., ca. Fr. 35.–.