Mit Sätzen über Abgründe setzen / NZZ 12.05.1998, S. 47

Friederike Kretzen im Werkstattgespräch

rbl Bucheli, R.
Vor zwei Jahren erschien Friederike Kretzens bisher letzter Roman, „Indiander“, der in poetisch verdichteten Skizzen eine Kindheit in Leverkusen nachzeichnete. Nun hat die Autorin ein Romanmanuskript unter dem Titel „Ich bin ein Hügel“ abgeschlossen, das inhaltlich und formal an „Indiander“ anknüpft. Der Roman wird im kommenden Herbst bei Nagel & Kimche erscheinen. Ãœber ihren Text und ihre Arbeit daran sprach Friederike Kretzen mit Roman Bucheli.
Frau Kretzen, im Vorspann zu Ihrem neuen Roman stellt die Erzählerin eine Frage an sich selbst und an den Text: „Was wissen wir von einem Mädchen? . . . Wie soll nur die Sprache drauf kommen?“ Könnte man, was hier geschieht, als Abschluss eines Erzählpakts auffassen? Die Erzählerin vereinbart mit der Ich-Figur, in Sprache zu geben, was man von einem Mädchen wissen kann.
Es geht hier darum, was man von einem Mädchen wissen kann, und um die Form dieses Wissens. Die Pubertät ist ein sehr verdrängtes und weggedrängtes, ein geradezu schreckenerregendes Thema. Das merkt man daran, wie wenig Sprache es gibt, um diesen Zustand zu beschreiben. Es geht hier also darum, festzustellen, was in einem auftaucht, wenn man versucht, diesen Prozess zu verfolgen, ihn in und zur Sprache zu bringen.
Von Mädchen heisst es, sie seien „dazwischen“. Das lässt sich im Text nachvollziehen. Aber ist das Mädchen auch für die Erzählerin ein Dazwischen, das nicht greifbar ist und sich einer konventionellen Sprache entzieht?
Es ist genau das Dazwischen, in dem Sprache Realität nur gewinnt, insofern sie sich auf das Imaginäre öffnet. Um es zur Sprache zu bringen. Das aber bedeutet eine ständige Abweichung von allem, was als gesicherte Bedeutung und Zuschreibung gilt. Und dieser pubertäre Zustand, in dem man nichts ist und dennoch ist, dieser Zustand des Schwankens ist beschützenswert, weil er ja auch ein Ausserhalb der Entgegensetzung von Realität und Imagination bedeutet. Also eine ganz anders geartete Freiheit enthält, nämlich die, ungeschrieben bzw. unbeschrieben zu sein. Das ist nun einerseits auf der Realitätsebene gesehen, das gilt aber genauso in der Sprache. Wie komme ich in der Sprache ins Offene, wo die Geschichten noch nicht geschrieben sind und wo ihre Bedeutung nicht vorgeschrieben ist? Die Sprache muss offen sein, damit ich darin Platz habe. Das meine ich auch mit dem Dazwischen.
Spielten sich nicht schon in „Indiander“ die Prozesse der Ausdifferenzierung, Abgrenzung und Ich-Findung in der Sprache ab?
Das Kind aus meinem vorhergehenden Buch beschrieb ganz bestimmte Strategien, sich mit der Sprache einen anderen Ort zu sichern, sich woanders hindenken und die Welt anders denken zu können. Nun geht es im Grunde darum, diesen Ort, wo das Mädchen merkt, da bin ich nicht, aber da möchte ich sein, den mit Sprache zu umgehen, ihn in der Sprache entstehen oder ihn auftauchen zu lassen. Für mich hat das sehr viel mit der Frage zu tun, wie Sprache Landschaft werden oder wie sie eine landschaftliche Ausdehnung annehmen kann. Deswegen auch der Titel „Ich bin ein Hügel“. Es ist der Versuch, die Sprache in eine andere Stofflichkeit oder in eine andere Körperlichkeit überzuführen.
Wie sind Sie als Erzählerin in dieses Dazwischen vorgedrungen, oder wie ist die Erzählerin auf das Mädchen gekommen?
Ich muss es werden. Es geht kein Weg daran vorbei. Ich muss dieser Zustand werden. Ich habe eine erste Vision von „Ich bin ein Hügel“ geschrieben, die furchtbar denunziatorisch war. Da wusste ich als Erzählerin immer alles besser. Dadurch hat der Text ganz falsche Gewichte erhalten. Erst beim zweiten und dritten Durchgang ging’s dann. Ich glaube, das hat auch damit zu tun, dass die Pubertät ein unheimlich schwerer und sehr beängstigender Zustand ist. Ich habe beim Schreiben sehr stark erlebt, wie da plötzlich mit Hilfe der Sprache etwas auftaucht. Und das ist ein Mädchen. Ich war auch ziemlich unerträglich beim Arbeiten. Weil ich ja da drin steckte.
„Wie soll nur die Sprache drauf kommen“, heisst es im Text; wie ist die Erzählerin auf die Sprache gekommen?
Von „Indiander“ her, wo ich es eigentlich schon angelegt habe. Aber vielleicht kann man es so sagen: In „Indiander“ lernt dieses Kind abwegig zu schreiben bzw. nur durch das abwegige Schreiben lernt es zu schreiben. Und jetzt geht es darum, wie man das abwegige Schreiben zum Bauen einer eigenen Landschaft, eines eigenen Raumes oder eines eigenen Körpers verwenden kann.
Was war bei Ihnen der Anreiz, das Thema Kindheit und Pubertät literarisch zu bearbeiten?
Ich schreibe ja leider nichts anderes als immer über Kindheit. Im Grunde geht es darum: Wie kann man anfangen? Wie kann ich anfangen zu schreiben? Wie kann ich anfangen mit der Sprache? Und das ist immer wieder das Thema. Von immer anderen Orten aus. Was habe ich für eine Sprache, gibt es eine Sprache, was ist da, wie kann ich damit umgehen, dass ich damit schreiben kann? Und wenn ich ein bisschen damit schreiben kann, was kann ich dann schreiben?
Wenn man über Kindheit oder Jugend schreibt, ob autobiographisch oder nicht, werden sich immer eigene Erinnerungen vors Auge drängen. Bewegt man sich da nicht in einem Dilemma, dass man einerseits nach grösstmöglicher Authentizität strebt, anderseits aber auch versucht, mittels Sprache diese Bilder zu gestalten und sie damit zu ästhetisieren?
Ich glaube, dass man erst über eine gewisse Sprache, die man finden muss, an diese Bilder und an diese Erinnerungen herankommt. Das wäre sonst zu monströs. Ich stelle mir oft vor, dass man einen Satz vom einen Ufer zum anderen schiebt, damit man da mal irgendwie hinüberkommt. Aber ohne diesen Satz, den man vorausgeschickt hat, würde das gar nicht gehen. Das ist mein Anspruch ans Schreiben. Dass die Sätze immer wie über Abgründe gehen und mir erst einmal vorausgehen, damit ich sehen kann, was da ist.
Sie haben gesagt: was kann ich wissen. Ist es also eine Neugierde, die Sie antreibt, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen, nicht aber der Wunsch nach Sinnstiftung?
Der Sinn im allgemeinen interessiert mich nicht. Aber die Empörung darüber, dass die Pubertät ein so unheimlich tabuisiertes Thema ist. Und dass das noch einmal bei Frauen und bei Mädchen sehr viel stärker ist. Ich denke, das sind doch unheimlich wichtige Wissensbestände. Und wenn man mehr darüber wüsste, könnte man anders leben. Beim Arbeiten stellen sich die Sinnfragen dann von allein ein. Dass ich etwa denke, mein Gott, in was für einer verkommenen Kultur lebe ich, die dieses Thema so wegdrängen muss. Das heisst ja auch, dass es fast unmöglich ist, Ambivalentes zu denken, mit Ambivalenzen umzugehen oder auch Ängste und Sprache offenzulassen, damit sie sich überhaupt entfalten können. Da kommt dieser ganze Rattenschwanz von Fragen hinterher. Also insofern ist es eine Neugierde, die auch etwas mit dem Da-liegt-es, Da-liegen-die-Leichen, zu tun hat. Ob Leichen dann unbedingt Sinn haben, weiss ich nicht.
Wie sind Sie, noch einmal und diesmal handwerklich, zu Ihrer Sprache gekommen? War das ein Prozess der Konzentration, oder war diese hektische Parataxe von Anfang an da?
Ich bin ganz sicher, dass sehr viel, was jetzt im Buch ist und von dem ich denke, es sei ganz neu, schon am Anfang, als das letzte Buch fertig war und ich also ans Sammeln ging, versammelt war. Bei mir hat das ganz viel mit dem Sammeln meiner Elemente und ihrem Vergessen zu tun. Wenn sie dran sind und wenn die Stelle richtig ist, dann kommen sie und melden sich wieder. Es gibt eine Szene, die den Beginn dieser Pubertät markiert: das Mädchen schneidet einem Vogel das Bein ab. Das ist eine ganz grausame Szene, die in den früheren Versionen viel länger war. Jetzt besteht sie nur noch aus einem Satz, aber man sieht sie sofort. Von einer sehr heftigen, auch realistischen Szene bleibt zuletzt nur noch ein Satz. Das ist der Prozess.
Mir kommt Ihre Schreibweise wie ein literarischer Pointillismus vor. Sie stellen einzelne, in sich geschlossene Szenen nebeneinander, fast ohne Vermittlung. Erst wenn man auf Distanz geht, fliessen diese einzelnen Bilder zu einem einzigen ineinander.
Das hat wohl mit einer gewissen, ich weiss nicht, ob man es Naivität nennen soll, aber mit dem Ganz-in-der-Situation-drin-Sein zu tun. Das ist mir immer sehr wichtig fürs Schreiben und ist mir auch bei anderen Autorinnen und Autoren ganz wichtig. Dass man immer drin ist und nicht die Beine draussen hat. Dass man nur das weiss, was gerade ist: also diesen einen Satz und wie weit man damit kommt.
Müssen Sie da nicht auch immer Schranken gegen die eigene Reflexion aufbauen, um der Figur nicht eigenes Denken zu unterstellen?
Es bringt mich natürlich oft auch zur Verzweiflung, weil meine Form von Reflexion dadurch immer sehr beschränkt ist. Ich merke, dass mich die Frage oft quält, warum ich keine Intellektuelle bin, die besonnen ihren Diskurshaushalt ordnet und ausbaut. Die Art, wie ich etwas weiss, unterliegt den gleichen Bedingungen wie mein Schreiben. Ich weiss etwas, und dann weiss ich es wieder nicht mehr. Ich kann es nicht systematisieren, es ist weder methodisch verallgemeinerbar noch wiederholbar. Ich erlebe es also eher als schmerzhaft, dass ich auch immer so ein Depp bin, immer so dicht dran und immer in der Figur drin, dass ich auch gar keinen vorzeigbaren Stil habe und nicht brillieren kann.
Frederike Kretzen liest am 22. 5. an den „Solothurner Literaturtagen“.