Kritik Deutschlandfunk BÜCHERMARKT, 09.6.17 

 

Von Dorothea Dieckmann

Dieckmann: Die bedeutendsten Neuerscheinungen finden sich oft am Rand des Buchmarkts, wo seit jeher die meisten Schätze gehoben werden. So ein randständiger Ort ist der Stroemfeld Verlag, der Hölderlin, Kleist, Keller und Kafka neu ediert hat, und so ein Buch ist Friederike Kretzens „Schule der Indienfahrer“. In 27 Lektionen zieht es den Leser in ein Delirium hinein, für das der Name, der Kontinent Indien steht: das verfehlte mythische Ziel des Ur-Kolonialisten Kolumbus, das Morgenland der drei Könige und der Hippies, das Jenseits der zu Tode beschriebenen und beschlossenen europäischen Geschichte. Wer aber sind die Indienfahrer, die Reisenden auf der Gegenroute des Go West, was treibt sie an?

Zitat Kretzen:  „Ein paar Leute aus Deutschland, in der Zeit, haben sich Reime gemacht auf alles, was geschehen ist und was nicht. Als ob sie um keinen Preis hätten missen wollen, noch immer nicht, was in den Jahren nach den Aufständen junge Menschen dazu brachte, sich auf die Suche nach einer ungewissen Sehnsucht zu machen, nach sich, nach etwas wie ihnen in der Welt, und wie sie ausströmten, sich aufmachten, aufgeregt, verwirrt, alles auf eine Karte setzten. Eine Art kleines fehlendes Volk, dem es an sich selbst mangelte ...“

Dieckmann: Helmudo, Natascha, Abdul, Kamal, Camille und Véronique sind solche jungen Menschen gewesen, die sich im ersten Kapitel so vorstellen: „Wir machen Theater. Wir besetzen Häuser. Wir sind zwanzig.“ Vierzig Jahre später beschließen sie, zwei in Indien verschwundene Freunde aus den Tagen der gelebten Kritik ausfindig zu machen, der Zeit der Film- und Theaterexperimente, des ästhetischen Protests gegen das, was sich als Wirklichkeit ausgibt. Friederike Kretzens gesamtes Werk hat sie bis hierhin begleitet. Die ehemalige Theaterdramaturgin hat schon in ihrer 1993 abgeschlossenen Trilogie „Die Souffleuse“, „Die Probe“ und „Ihr blöden Weiber“ gegen eine erstarrte Wirklichkeit angeschrieben und die Routinen realistischen Erzählens unterwandert. Die Romane „Indiander“ und „Ich bin ein Hügel“ entfalteten Kindheit und Jugend in einer Sprache der Verwandlungen, die in einem späteren Buch noch einmal radikal ausbuchstabiert wurde: Drei Frauen blättern in den Bildern ihres Lebens, ihre Stimmen intonieren die Partitur einer unabgeschlossenen Vergangenheit, die den Titel der berühmten Beatles-Platte trägt: „Weißes Album“. Mit dem Buch „Übungen zu einem Aufstand“ rückte Kretzens Erzählen in die aufrührerische Zeit vor und nahm die Struktur der Indien-Lektionen vorweg. Deren Figuren tauchten schließlich 2012 in dem Roman „Natascha, Véronique und Paul“ auf, in dem sich Gegenwart und Rückblick überblenden. Jetzt also erneut der Aufbruch auf eine gemeinsame Reise, eine Reise nach vorn und zurück:

Zitat Kretzen: „Ich will, was einmal war, all das Phantastische, Aufgewühlte, Ungelebte, das uns ausmacht, noch einmal haben, wiederhaben, was war, wovon wir uns getrennt haben, kaum dass wir uns aus den Augen verloren haben. Wir müssen fahren. ... Liebe Freunde, wisst ihr denn nicht, dass es nur eins auf Erden gibt, und das ist, was wir aus unseren jungen Herzen einander zugerufen haben durch die Zeiten ...“.

Dieckmann: Erst auf der Hälfte des Textes trifft sich die Gruppe in der indischen Hauptstadt, und während im Europa-Teil die Erinnerungen an die ersten Aufbrüche nach Indien aufleben, werden in Delhi, Bangalore, Mumbai und Jaipur die Herkunft, Kindheit und gemeinsame Jugend gegenwärtig. Deutschland, wo die Toten und Vermissten ein verleugnetes Dasein führten, ist für sie „die frühe Landschaft, in die wir gebracht wurden, selbst wie Vertriebene“. Darin war Indien die Chiffre der Umkehr, die Utopie eines anderen Ostens:

Zitat Kretzen: „Erinnert euch, einst wollten wir die Meere bereisen, wollten gen Osten ziehen. Einem anderen Osten entgegen als dem, in dem sich unsere Eltern verloren hatten, noch bevor sie unsere Eltern geworden waren. Zusammen mit den Verschollenen aller Länder und Kriege. Wir suchten den Osten der Wiederkehr, der ewigen, ganz in der Nähe des Nirwanas, wo die Mächte der Dunkelheit umherschweifen und die Kompassnadeln durchdrehen. Damals gingen uns die Richtungen davon, jetzt kommen sie uns von überall entgegen.“ 

Dieckmann: In ihrer Suche nach denen, die sie einmal sein wollten, werden die Indienfahrer zu Traumarbeitern, die als späte Doppelexistenzen ihr jugendliches Dasein aufleben lassen. Kamal dreht einen Dokumentarfilm von der Reise. Mal erleben sie sich als Romanfiguren, mal erfinden sie die Szenen ihrer Theaterzeit von neuem. Noch einmal erwachen die widerständigen Elemente ihrer Geschichte und fließen in einer soghaften Bewegung zusammen, von Artauds Theater der Grausamkeit bis zur Antipsychiatrie, vom Autorenfilm bis zu Motiven der Folk- und Rockmusik – etwa in der Erinnerung an eine der früheren Freundinnen der Erzählerin, Susan, die am genauesten Kretzens Utopie und Sprachutopie zum Ausdruck bringt:

Zitat Kretzen: „ ... Susan, die mit dem Lied von Leonard Cohen weiter gegangen ist als wir sehen können. Die daran geglaubt hat, dass die Zukunft vorher war und die Vergangenheit nachher kommen würde. ... Wenn ich sie verstünde, sagte sie, sei sie zu wenig klar gewesen.“

Dieckmann: Auch Pink Floyds „Wish you were here“, dessen Zeilen neben vielen anderen undercover durch den Text geistern, zeigt ebenso aufs Kommende wie aufs Gewesene, auf Geschichten, von denen Helmudo sagt, sie seien da, hätten sich aber noch nie ereignet. Gegenfigur all dieser messianischen Impulse ist folgerichtig die Todesbotschaft des Karfreitags – die Kreuzigung als abendländische Gründungslegende, die das Menschenopfer heiligt und alljährlich rituell wiederholt wird, und sei es im Fernsehen:

Zitat Kretzen: „Dass ... nochmal alles nachgespielt wurde, dass ... keiner sagt, stopp, Ende des Alptraums, wir brauchen eine andere Geschichte, auch ich nicht – das ist es, was ich nicht ertrage. ... Darum also gibt es diesen Tag: um solche Filme drehen zu können. Die uns in der Schuld bestätigen, es wieder getan zu haben, wovor wir uns doch so fürchten. Und nächstes Jahr würden wir es wieder tun. Verraten, töten und daraus schlechte Filme machen. Ein bisschen kleiner, bedrückter, gewalttätiger geworden.“

Dieckmann: Gegen dieses tödliche Ende der irdischen Geschichte wenden sich die Protagonisten spielend, filmend, suchend und erzählend, während sie in ihrem indischen Traum herumlaufen. Die giftblauen Hunde der Slumstadt Dharawi, Netze voller Taubenkadaver, ein ohnmächtiges Schulkind, die rettende Hand eines Bettlers und das traurigste Museum der Welt bilden nur einen kleinen Teil seiner unerhörten Fülle. Die Indienfahrer träumen den alten „Traum von einer Sache“, von dem Marx in seinen frühen Briefen schrieb, er markiere nicht „einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft“, sondern sei eine „Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit“. Er ist auch am Schluss der Reise nicht zu Ende geträumt:

Zitat Kretzen: „Als wir Kinder waren, als ... Angst uns träumte in der Nacht, weckten uns unsere Mütter, holten uns aus dem Schlaf, sagten, es sei nur ein Traum. Heute, wenn wir Angst haben, wenn sie uns in den Schlaf fährt, sagen wir: Es ist nur die Wirklichkeit, wir haben noch den Traum.“

Dieckmann: Das Indien dieses Buches ist nicht Arkadien und nicht Orplid, das Ziel der Suche nicht die blaue Blume. Und doch ist Friederike Kretzens Schule eine romantische. Romantisch sind die Motive des Spiegels, der Doppelungen, der Wiederholung, des Traums und des Mondes, romantisch ist das durchbrochene Pathos, mit dem eine transparent leuchtende, reich instrumentierte und zugleich kristalline Sprache die alte Triebkraft von Fern- und Heimweh in ein neues Schreiben herüberrettet. Kurz, diesem seltenen, wunderbar komponierten Buch gebührt ein Platz in der Mitte der Aufmerksamkeit.

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