Kolumne 7.Oktober 2006

7.Oktober 2006

Es ist vertrackt. Kaum schauen wir uns etwas genauer an – beispielsweise uns selbst -, schon fängt es an, ungenau zu erkennen zu sein. Dabei dachten wird doch, es sei klar und entschieden, schon ist es etwas anderes geworden. Der alte Spruch von der Ordnung, die das halbe Leben sei, hat mit genau dem zu tun: Mit diesem nicht in den Griff zu bekommenden Halben, das wir so ganz wie möglich machen wollen, doch gerade dann taucht die andere Hälfte von der anderen Seite her wieder auf und sagt: Hallo, bist du auch schon da.

Gerade eben haben wir darüber abgestimmt, die Grenzen um unser Land enger zu ziehen. Was ist eine Grenze anderes als eine Berührung mit genau dem, das sie begrenzen, bzw. ausschliessen soll? Wenn wir sie jetzt enger schliessen, so wird auch diese Berührung dichter. In gewisser Weise binden wir uns um so stärker an das, was wir ausschliessen wollen, je dringender und unerbittlicher wir es auszuschliessen verlangen.

Was ich immer wieder erstaunlich, auch anrührend finde an uns Menschen, – wenn ich das so sagen darf – ist unsere diesbezügliche Lernresistenz. Wieder und wieder wollen wir Ordnung, Klarheit, feste Grenzen von Eigenem und Fremdem, von Gutem und Schlechten. Wogegen ja nichts einzuwenden ist, nur dagegen, dass wir das mit Sicherheit haben wollen. Dabei könnten wir doch alle wissen, dass es diese Klarheiten, diese Aufteilungen auf zwei getrennte Seiten, dieses Gut und dieses Schlecht – so lange es um Menschen geht – nicht sicher geben kann.
Darüber hinaus hege ich den Verdacht, dass der von allen Dächern zu hörende neumodische Slogan vom Lebenslangen Lernen diese Lernresistenz noch fördert, bzw. sogar verlangt. Denn lebenslanges Lernen, – ein Begriff alt wie die Französische Revolution – bedeutet momentan doch nichts anderes, als dass uns permanent abverlangt wird, uns neuen Moden, Marktgesetzen und Mobilitätsansprüchen des Arbeitsmarkts anzupassen. Was im Effekt genau nicht lernen bedeutet, sondern schnellstmöglichst so zu tun, als wäre alles schon klar und verstanden.

Wir werden in Zukunft damit rechnen müssen, heisst es, fünf bis sieben Mal im Leben unseren Beruf zu wechseln, mehrmals die Ehe, die Freunde, die Stadt. Was wir aber nicht wechseln können, auch wenn wir uns auf den Kopf stellen oder ihn Schönheitschirugieren lassen, sind wir, die in unserer Haut stecken, Kind von bestimmten Eltern, geboren in einem bestimmten Land, zu dieser und keiner anderen Zeit. Niemand hatte uns gefragt, ob wir damit einverstanden wären, da waren wir schon da und alles soweit entschieden. Ãœber diese kleine, entscheidende Ohnmacht schweigen wir lieber. Alles, wozu man nicht die Wahl hatte, was irgendwie an einem hängt, oder woran man selber hängt, scheint uncool zu sein. Der Ordnung geht’s da nicht besser als uns, an ihr hängt, wie die eine Hälfte des Lebens an der anderen, die Unordnung.

Kann es sein, dass das Leben nicht so ist? Dass wir nicht so sind? Dass alles auch noch ganz anders sich verhält als wir es beigebracht bekommen und wissen wollen? Woher nimmt sich bloss das Leben die Ordnung, die nur das halbe Leben ist?