Kleines Glossar des Verschwindens /Nicht zustellbar / NZZ 08.12.2001, S. 66

Von Friederike Kretzen
Es war ein kleines, kugeliges Schweinchen mit glücklichen Augen, und in seiner Schnauze trug es einen Pfennig, den es zu Silvester überbrachte, dem Glück des nächsten Jahres als Tribut gezollt. Das Schweinchen war aus Marzipan, ein tolles Tier, ein Abgesandter nicht aus dem Osten, sondern aus der Mitte des Westens, der ja nie so sehr in seiner Mitte ist wie zwischen Weihnachten und Neujahr. Kurz: Das Schweinchen, rund, prall, glatt, kam direkt aus dem Schlaraffenland. Das es weniger vertrat, als dass es dieses verkörperte. Ach, wäre doch die Welt unfassbar essbar, schien es uns zuzurufen, wenn es auf dem bereits wieder leer gewordenen Gabentisch neben dem Weihnachtsbaum stand und auf das neue Jahr wartete.
Vor ihm hatten da in schöner Geschenkpackung Zigarren und Zigaretten aus Schokolade gelegen, ein beliebtes Weihnachtsgeschenk für Jung und Alt, das ganz ähnlich wie das Schweinchen mit der Idee der Essbarkeit der Welt nicht nur spielte, nein, es machte Ernst damit. Und ernsthaft – wir gaben uns wirklich Mühe – assen wir Zigarre um Zigarre, jede Menge Zigaretten, schliesslich auch die in der Geschenkpackung enthaltenen Streichhölzer. Die Schokolade, aus der sie bestanden, schmeckte ekelhaft, nicht so aber die Idee von der Essbarkeit der Welt, die wir uns mit jeder Zigarre oder Zigarette weiter einverleibten. Wer weiss, vielleicht würden aus uns eines Tages Kinder aus Schokolade werden, und wir würden endlich zum Fressen gern gehabt werden, ob wir nun schmeckten oder nicht. Mit dem Marzipanschwein verhielt es sich wie mit den Zigarren, den Zigaretten und vielleicht uns einmal, wenn sich an uns die Schokoladenseiten ausgewachsen haben würden. Es war zu rosa, zu glatt, zu süss, um zu schmecken. Aber als sozusagen schweinisch verkörperte Idee, den Boten des verheissungsvollen Schlaraffenlands, kaum war er eingetroffen, gleich zu verschlingen, schien es einfach überzeugend.
Das war in jenen Zeiten, als das Essen, und möglichst viel davon, rundheraus noch als Glück galt. Essen ging einfach vor. Ihm gehörten Wünsche und Träume und das Märchen vom Schlaraffenland.
Heute kommen Glücksschweinchen nicht mehr von da. Allfällige Postkarten, die wir dorthin zu schicken versuchen würden, kämen mit dem Vermerk zurück: Land unbekannt verzogen.
Gewiss, das Schlaraffenland war nur ein viel frequentierter Ort in der Landschaft der Wünsche, doch eben nicht nur ein Ort, sondern auch eine Schule der Wünsche. Es lebte davon, dass es nicht existierte, was es natürlich genau wusste, und zum Schutz der Wünsche vor sich selbst liess es sich von einem Griesbreiberg umgeben.
Der Griesbreiberg war Teil des Schlaraffenlands und zugleich sein umgekehrter Spiegel. War das Schlaraffenland eine verkehrte Welt, in der alle Wünsche in Erfüllung gingen, war der Griesbreiberg die letzte Hürde und schwere Arbeit. Denn er musste durchfressen werden, und was wir uns stets und bang fragten, doch nie laut zu sagen wagten, war die Ahnung, dass wir es nie schaffen würden, als freie und hungrige Wesen auf die Seite der Erfüllung der Wünsche zu kommen. Vorher nämlich würden wir so satt geworden sein von all dem Griesbrei, dass wir am Ende selber Griesbrei geworden wären, wunschlos befriedigt und erledigt.
Doch wer schon einmal von Luft und Liebe gelebt hat, weiss, dass mindestens die Hälfte des Liebes- und Luftbrots aus der Erzählung der Liebe und der Luft besteht, und so war das Schlaraffenland eben auch beschaffen. Von ihm zu erzählen, nährte die Wünsche, die Sprache wuchs, vermehrte sich, begann zu schmecken. Wörter und Namen von Speisen lagen auf der Zunge, wurden kaubar, schmeckbar, konnten auf der Zunge auch wieder zergehen. Wörter kamen aus uns heraus, versetzten uns, klaren Kopfes und schwindelnder Sinne, doch keinesfalls erledigt, in die Mitte des Schlaraffenlands, das als verkehrte Welt gerade richtig zu sein schien für Wörter, die durchaus aus Honig sein konnten oder gar fliegende Tauben. Wörter konnten hier wie dort auch Berge sein, auf denen Käse wuchs und die zu versetzen die Rede nur auf die Liebe kommen musste.
Märchen ernähren seit je durch Erzählen und auch umgekehrt. Sie schulen die Wünsche und füttern sie mit Wörtern und Sätzen. Das Schlaraffenland war eine Gegend, in die nicht nur Kinder ausflogen, sondern auch die Erwachsenen. Zusammen konnten wir uns die verkehrte Welt als die richtige ausmalen. Wahrscheinlich galt im Schlaraffenland unsere grösste Lust der Vorstellung, dass unsere Eltern genauso klein, hungrig, gierig sein konnten wie wir. Oder sogar kleiner noch, hilfloser, griesbreiiger.
Dann verschwanden die Zigarren aus Schokolade, McDonald kam, und das Schlaraffenland war keine gültige Erzählform mehr, sondern nahm Züge von Folklore und Pathologie an: Land unbekannt verzogen.