Geschichte der Empfindlichkeit / Ausschreibung SS04

Sei nicht so empfindlich. Wer kennt sie nicht, diese Ermahnung. Und implizit ist es immer eine Ermahnung zum Vernünftigsein. Scheint so, dass im alltäglichen Wortgebrauch Empfindlichkeit und Vernünftigkeit nicht lange Hand in Hand gehen können, bald schon müssen sie sich voneinander lossagen, ja, geradezu einander abschwören. Warum heisst es so gut wie nie: Sei jetzt bitte einmal äusserst empfindlich? Stellen wir uns einen Politiker vor, der sagt, ich bitte um äusserste Empfindlichkeit? Und was würde geschehen, wenn gar eine Politikerin das sagen würde?
Was hingegen an Empfindlichkeit ständig zulegt sind beispielsweise Geräte der Medizin, der weltweiten Vernetzung, selbst die Kleidung fühlt, wenn sie nicht gar sendet.
Geschichte der Empfindlichkeit nannte Hubert Fichte ein weitgefächertes literarisches Projekt, die Empfindlichkeit der Gegenwart zu erforschen. Anders als Alexander Kluge geht es ihm weniger um die Analyse von Gefühlen im Sinne ihrer gesellschaftlich vermittelten Strategien, als um die unmittelbare Benennbarkeit dessen, was wir Empfindung nennen. Fichtes literarische Projekte über afroamerikanische Religionen hat er als Ethnopoesie bezeichnet. Womit er ein höchst empfindliches Sprachverfahren meint, das sich nicht auf die Erkundung ferner Fremdheit bezieht, sondern ausgeht und immer wieder zurückkehrt in die eigene, nahe Fremde.
Wie empfindet Sprache? Wie empfindlich ist sie
und wofür? Welche Empfindlichkeit können wir in ihr als unsere eigene lesen?
Hier möchte ich ansetzen und mit ihnen im Schreiben eigener kleiner Texte eine Praxis der Empfindlichkeit zu vermitteln versuchen, die die des Schreiben ist. Zugleich werden wir an Hand ausgewählter Texte von Hubert Fichte, Nathalie Sarrautes und Elke Erb diese Praxis in ihren verschiedenen Gestalten und Ansätzen studieren.

Empfohlene Literatur: Hubert Fichte, Hotel Garni, Frankfurt a.M. 1987
Hubert Fichte, Xango, Die afroamerikanischen Religionen, Frankfrut a.M. 1976
Nathalie Sarraute, Tropismen, Frankfurt a.M. 1972,
Nathalie Sarraute, Der Wortgebrauch, 1984,Köln
Elke Erb, Mensch sein, nicht, Urs Engeler Editor, Basel 1998