FR Literaturkritik 12 | 7 | 2012


Aufrührerische Gefühle im Sommer 1982

In ihrem neuen Roman „Natascha, Véronique und Paul“ erzählt die Autorin Friederike Kretzen vom Sommer 1982. Das Buch ist eine Fortschreibung von Fragen, die in keiner Antwort ankommen können.

Sie konnten sich nicht vorstellen, jemals älter zu werden als vielleicht 28, 30 Jahre. Dabei wurden die Freunde Natascha, Véronique und Paul in Friedenszeiten geboren, in den Jahren des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders in Westdeutschland. Drei junge Erwachsene, die mit anderen im Sommer 1982 in einem selbstverwalteten Theater in Köln arbeiten. Sie sind masslos und anspruchsvoll, wild und belesen; sie leben aus Leibeskräften.

Die Schriftstellerin Friederike Kretzen wurde 1956 in Leverkusen geboren, studierte Soziologie und Ethnologie und schrieb daneben Texte für die eigene Theatergruppe. Sie arbeitete als Regieassistentin und Dramaturgin, später veröffentlichte sie mehrere Romane, darunter „Übungen zu einem Aufstand“ und zuletzt „Weisses Album“.

Das Geschichtete

Ihr neues Buch, der Bericht über den Sommer 1982, ist eine Fortschreibung von Fragen, die in keiner Antwort ankommen können, sondern die unterwegs bleiben müssen: Wie kann man überzeugt „ich“ sagen, wenn dieses Ich aus so Vielem und so Vielen besteht, wenn es sich zwischen Wunsch und Wirklichkeit bewegt? Ist Geschichte eine einfache chronologische Abfolge von abgeschlossenen Ereignissen, von Aufbrüchen und Abschieden? Oder ist das „Geschichtete“, das Geschehene immer noch in Bewegung, so dass unvermutet Vergangenes in der Gegenwart auftaucht? Und: Lässt sich aus dem historisch und gesellschaftlich immer schon Vorgeschriebenen ausbrechen?

Gleich im Prolog von Kretzens neuem Buchs findet sich ein Satz, der einem Schöpfungsmythos entsprungen sein könnte: „Wir glichen nichts und sahen auch nichts ähnlich“. Schon wenige Sätze später wird diese Hybris bereits eingeschränkt: „Vielleicht waren wir gar nicht so besondere, phantastische Köpfe“.

Natascha, Véronique und Paul wissen natürlich, dass sie keine unbeschriebenen Blätter sind; trotzdem leiden sie unter einem Mangel an Wirklichkeit. Denn die Kehrseite von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder war das Löschen von Erinnerung, waren weisse Flecken im kollektiven Gedächtnis der Elterngeneration. Deren Erfahrungen waren für die Kinder ein unverständliches, gleichwohl drohendes Raunen und Wabern.

Im Sommer 1982 finden die Proben für ein Theaterstück statt, nebenher treffen sich die Freunde in Nataschas Küche, und unter den Postern von Karl Marx und Virginia Woolf diskutieren sie über Georg Büchner und Wim Wenders, über Armut, Gewalt, Wahn und Angst. Die Erfahrungen im Theater haben sie buchstäblich „angesteckt“, sie sind entzündet: Sie hören Stimmen, spielen Verstecken, sie wollen sich selbst ganz neu erfinden. Ihre Gesten sind manchmal reichlich dramatisch, und sie schreiben bedeutungsschwere Sätze wie „jeder Anfang war ein Abschied“. Dann stellen sie ernüchtert fest, dass dieser Satz zu gross ist und warten, dass er wieder kleiner wird.

Die Ich-Erzählerin Véronique erzählt vom Sommer ’82 bald dreissig Jahre später, aber dieser zeitliche Abstand läuft bei Kretzen nicht auf einen überlegenen Rückblick hinaus – es geht viel mehr darum, Orientierungslosigkeit und Widersprüchlichkeit zuzulassen. Daher war das Theater seinerzeit ein wichtiger Ort des Geschehens, ein Fluchtpunkt; ein Spielraum für radikalisierte Subjekte, die sich dort auf ungesicherten Wegen zwischen Geschichte und Utopie bewegen konnten. Auf der Bühne war der Tod nicht das Ende der Geschichte; selbst ein Verstorbener stand rechtzeitig vor dem Applaus auf, „und nachher ging man noch was mit dem Toten trinken“.

Véronique und ihre Freunde sind bis heute an einem offenen Ausgang der Geschichte interessiert, und so betrachten sie voll Skepsis die immer schneller aufeinander folgenden Abgesänge auf kulturelle und soziale Aufbrüche aller Art. Als das vierzigste Jubiläum des Woodstock-Festivals von 1969 mit ein paar Floskeln und zu Ikonen erstarrten Bildern gefeiert und einmal mehr entsorgt wird, empört sich Véronique: Sie und ihre Generation hatten zwar an den Erschütterungen der 68er-Revolte nicht unmittelbar mitgewirkt, waren aber von deren Fluidum angeweht worden.


Hellwache Traumtänzerei

Die Heranwachsenden litten damals in einem katholischen Ferienlager unter der harmoniesüchtigen Gemeindeschwester, die frühmorgens Weckgesänge aus dem Liederbuch „die Mundorgel“ zur Gitarre anstimmte. Schon als Gegenpol zu diesen braven Tönen musste es Woodstock gegeben haben – beziehungsweise diesen anderen Ort würde es vielleicht erst künftig geben. Immer wieder gerät in diesem Buch vorsätzlich die Zeit durcheinander, und einmal heisst es, „was wir für Zeit hielten, waren diese winzigen Momente, die einander ablösten, ohne zu vergehen …“

Sprache und Inhalt korrespondieren bei Friederike Kretzen: Die aufrührerischen Gefühle und Gedanken werden einem nicht „erklärt“, vielmehr hört man sie hier als einen Atem, als einen drängenden, vorwärtstreibenden Rhythmus. Diese Sprache ist diszipliniert und doch entfesselt, eine hellwache Traumtänzerei, mal nüchtern-spröde, mal in hohem, bald pathetischen Tonfall.

Im Grunde arbeitet die Autorin an einer poetischen Sprache, in der ein utopisches Potenzial aufbewahrt wird. Ihr Text inszeniert die beunruhigende Vorstellung einer permanenten Revolution, und damit stemmt er sich auch gegen die aktuell so beliebte Behauptung von der Alternativlosigkeit in allerhand Entscheidungsfällen.

Marx schrieb einmal sinngemäss: Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus selbstgewählten freien Stücken, sondern unter unmittelbar vorgefundenen und überlieferten Umständen. Demnach ist man zwar durch gegebene Umstände festgelegt, andererseits lenkt kein Gott die Geschichte; es gibt einen Handlungsspielraum.

Die Arbeit von Friederike Kreztens Figuren im Sommer 1982 besteht darin, diesen Raum wahrzunehmen und mit den eigenen Träumen und Fantasien zu beleben, in aller Emphase zu beseelen. Dabei ist ihr Buch keine nostalgische Schwärmerei, keine Heldenverklärung. Aus dem zeitlichen Abstand, den die Ich-Erzählerin einnimmt, weiss sie von Aufbrüchen und deren Scheitern.

Sie weiss von Abschieden: Der von der eigenen Jugend, der von verstorbenen Freunden. Und doch bleibt hier eine selten gewordene Durchlässigkeit, es bleibt ein Vibrieren, das diesem Buch seine unverwechselbare Eigenart gibt.


Sabine Peters