Die blauen Hunde von Dharavi / NZZ 29.5.13

Im grössten Slum von Mumbai kann man den Menschen bei der Arbeit an der Globalisierung zuschauen.
Von Friederike Kretzen

Ich habe blaue Hunde gesehen. Sie leben im Zentrum von Mumbai. Ihr Fell ist einmal weiss gewesen mit hellbraunen Flecken auf dem Rücken. Dann haben sie – wie Hunde das tun – von dem Wasser getrunken, das in flachen Rinnsalen durch die Gassen sickert, und sie sind blau geworden. Bis zu den Ohrenspitzen. Auch das Weiss ihrer Augen. Seitdem sind sie die blauen Wächter eines Stadtgebiets, das sie bewohnen und hüten, denn sie sind ja Hunde.

Ihr Revier ist ein Stück Land in der Stadt, in dem nur wenig Wasser in Rohren fliesst und die Elektrizität aus dem Nichts kommt, irgendwo abgeleitet. Eher steht das Wasser in den Gassen, mischt sich mit Farbe, mit Öl, das fahl schimmernd obenauf schwimmt, Schweiss rinnt aus Bretterverschlägen, Hütten, dreistöckigen Höhlen, in denen Backöfen betrieben werden und Grossfamilien leben. Der Boden ist aus Lehm, aufgeweicht, nur an wenigen Stellen gepflastert. In einigen der Verschläge wird Plastic zerkleinert in Schreddern. Die Jugendlichen, die die Schredder füttern, greifen mit blossen Händen in die Trichter mit ihren rotierenden Messern. Sind das Opferriten? Einem launigen Gott des Todes dargebracht, um ihn daran zu erinnern, dass die Seele des Menschen unsterblich ist? Daneben, in anderen Verschlägen wird das zerkleinerte Plastic zu grünem Brei verschmolzen, der in langen Fäden aus einem Extruder läuft, getrocknet wird und zu Granulat verarbeitet. Das ist dann rezykliertes Plastic und kann wieder verarbeitet werden.

Irreale Normalität
Ein paar Verschläge weiter – einer neben dem anderen – heben junge Männer flüssiges Aluminium aus den in den Boden eingebauten Öfen. Gleich neben den Backöfen, die das honiggelbe Blätterteiggebäck für die Stadt liefern. Ein Höllenloch, alles verrusst, Schwärme von Fliegen, die wie Schmutz sind und überall. Am Boden Lagen von Teig, in grobe Säcke eingewickelt, an der Längsseite des Raums eine stabile Fläche, wo vier Männer nebeneinander den Teig auswallen und schneiden. Auf der anderen Seite die, die den Ofen mit seinem offenem Feuer bedienen. Sie hantieren mit Schiebern, Stangen und schwarzen, hochrandigen Blechen, auf denen die Blätterteigplätzchen hellgelb gebacken werden, ein Fünfzehnjähriger mit dicken, überaus praktischen Handlappen um die Handgelenke zieht sie aus dem Ofen. Er strahlt uns an, drückt uns ein Plätzchen in die Hand und arbeitet dabei immer weiter. Wand an Wand mit den Plastic-Köchen, auch sie etwa in seinem Alter, die ohne jeden Mundschutz mit offenen Lungen hochgiftige Gase einatmen. Wir nennen das Recycling, wir finden das gut, hier geschieht es.

Warum werden die Menschen nicht auf der Stelle grün wie die Hunde blau? Wo sind die Verformungen, Auswüchse, Verkrümmungen, die solche Arbeitsbedingungen Menschen antun? Sie leben darin, für sie ist es eine Form von Normalität. Das Schockierende dieser engen, armen und vor allem giftigen Lebensumstände – und das macht es wohl so grausam – ist ihre Geregeltheit. Kein Chaos, kein Schrei, keine Auflehnung der Kreatur, das Grausame ist vielmehr diese ungeheuer emsige, betriebsame Produktivität, mit der die Müllsortierer, die Plasticzerkleinerer, Plastic-Köche, Bäcker, Stahlköche, Töpfer und Schneider an ihren Öfen, Feuern, Tischen und Nähmaschinen arbeiten. Es scheint in Ordnung zu sein.

In Dharavi leben und arbeiten Menschen in Bretterbuden, oft mehrstöckig, mit beissendem, giftigem Rauch, Schreddern, ratternden Nähmaschinen, Feuer, Dunkelheit. Sie leben und arbeiten hier nicht in einem fernen Mittelalter, es ist Frühjahr 2013 an einem Nachmittag in Mumbai in einem der grössten Slums der Stadt und, wie es heisst, des Landes. In einem Gebiet von 1,75 Quadratkilometern leben hier mehr als eine Million Menschen. Tausende von Geschäften exportieren ihre Waren. Der Jahresumsatz der ansässigen Firmen wird auf 665 Millionen Dollar geschätzt.

Zwei Mädchen kommen vorbei, eine in Schuluniform, die andere mit Tschador, sie sind auf dem Weg nach Hause, irgendwo hier zwischen den Plasticverarbeitern und den Müllsortierern, und fragen nach unseren Namen. Sie sprechen Englisch, sind sehr schüchtern. In einem langen düsteren Verschlag sitzen etwa zwölf Menschen am Boden aufgereiht, auch ein paar Frauen, und sortieren Kleinmüll. Jeder hat einen Haufen, für den er zuständig ist, vor sich: Kugelschreiberhüllen, Drähte, kleine Plasticteile. Papier, Glas, Eisen und grössere Maschinen wie Kühlschränke und Kochherde sind schon vorher aussortiert worden. Gegenüber werden auf zwei Etagen all die Jeans genäht, die bei uns zwanzig Franken kosten. Auch hier wieder die Arbeitsteilung: Nähen, Zuschneiden, Bügeln im Akkord. Es arbeiten etwa dreissig Männer in einem Raum von zwanzig Quadratmetern. In einer Ecke stehen bis zur Decke hoch gestapelt Kartons mit Schneiderkreide, den hellroten, blauen und weissen Plättchen, mit denen die Schnittmuster auf den Stoff gezeichnet werden. In jedem Karton sind zehn mal zehn Kreiden in einzelne Päckchen verpackt. Dieser Vorrat von Schneiderkreiden wird hier wohl schon im nächsten Monat aufgebraucht sein.

Um jeden Preis
Die blauen Hunde waren das Erste, was ich sah, als ich das Gebiet betrat, und sie sind mir als eine Art Verkörperung erschienen. Sie waren ein Zeichen davon, dass die monströsen Verhältnisse, in denen hier gearbeitet und gelebt wird, etwas mit den darin Lebenden machen. Nur ihnen, den Hunden, konnte ich ansehen, dass hier etwas aus den Fugen geraten war, dass hier eine Form von Produktivität sich entwickelt hatte, blühte, die masslos war. Hier wurde um jeden Preis – und um zu überleben – alles aus allem und allen herausgeholt.

Wer die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen in diesem Slum gesehen hat, was ist mit dem? Der ist vielleicht beschämt, erschrocken, dem kommen die Tränen, und er möchte sich in das Gefühl flüchten, selbst unwirklich zu sein. Denn wie soll er sich mit dieser Realität zusammen denken können? Wie sich sein Leben in der Schweiz vorstellen, aus der die meisten Produktionsprozesse ausgelagert worden sind – zum Beispiel nach Indien – mit der damit einhergehenden Entwertung von Arbeit, von Handwerk, von Tätigsein? Und nachdem er gesehen hat, wie Arbeitsbedingungen das Leben der Menschen ganz unmittelbar entwerten? Wie und als was kann er sich zu der Arbeit und Produktivität in diesem Slum verhalten, sich mit den dort Lebenden verständigen, und zwar in sich, als Teil eines Zusammenhangs, der ihn so sehr übersteigt wie die, die in diesem Slum für ihr Ãœberleben arbeiten.

Gewöhnlich nennen wir das Globalisierung. Kann es sein, dass sie ein bisschen zu gross für uns ist? Dass sie es uns beinahe unmöglich erscheinen lässt, uns in Verbindung mit anderen Formen von Arbeit und Leben zu sehen? Uns überhaupt in Bezug zu anderen wahrzunehmen und darüber hinaus uns klarzumachen, dass wir die anderen brauchen? Dass wir in der Schweiz die Slums in Mumbai brauchen? Dass wir ihnen vielleicht etwas schulden, dass wir dort etwas zurückzugeben haben? Diese Fragen drohen von der Grösse und Massivität dessen, was wir Globalisierung nennen, erdrückt zu werden. Dabei sind das die Fragen, die das Lebendige von Arbeit – und das ist auch das Lebendigmachende von Arbeit – uns zu bedenken erlauben würden. Die Fragen selbst sind die Arbeit, die dringend nötig ist.

Mitten in Mumbai unter dem Ansturm dieser widersprüchlichen Empfindungen fielen mir die „Drei Schwestern“ von Tschechow ein. Die am Ende ihrer übergrossen Sehnsucht, nach Moskau zu gehen, eine andere, realere Möglichkeit für sich finden, was sie in ihrem Leben noch erfahren wollen. „Die Zeit wird kommen“, sagt Irina, „da werden alle erfahren, wozu das alles, wofür das Leiden, es wird keine Geheimnisse mehr geben, und bis dahin müssen wir leben [. . .] wir müssen arbeiten, nur arbeiten [. . .]. Wir haben Herbst, bald kommt der Winter, der alles mit Schnee zuschüttet, und ich werde arbeiten, werde arbeiten.“

Kann es sein, dass die Hoffnung der drei Schwestern, durch Arbeit eine Möglichkeit von Erkenntnis und Wissen zu schaffen, eine Arbeit darstellt, die uns immer noch bevorsteht? Noch sind wir damit nicht viel weiter gekommen.

Die ausgestorbenen Aasgeier
Vielleicht sind es die Tiere, die am unmittelbarsten von der Unerträglichkeit unserer Lebensbedingungen getroffen werden. Wie die blauen Hunde. In Mumbai leben etwa 60 000 Parsi, Zoroastrier, die im 9. Jahrhundert aus Persien vertrieben wurden. Bestandteil ihres Begräbnisrituals ist der „Turm des Schweigens“, in dem sie die Leiche aufbahren und den Aasgeiern übergeben, die die Knochen sauber abnagen. Heute sind wegen dieses Bestattungsrituals die Aasgeier in Mumbai ausgestorben. Denn die Leichen, von denen sie sich ernährt haben, waren voller Medikamente, und von denen waren es vor allem die gegen Krebs, die die Tiere vergiftet haben.

Seitdem gibt es noch viel mehr Krähen in der Stadt, sie sind lauter als der Strassenverkehr, und das will in Mumbai etwas heissen, wo auf jedem Fahrzeug, egal welcher Grösse, zu lesen steht: „Horn please“. Und wer weiss, ob nicht die Krähen mit der Zeit die Arbeit der Geier übernehmen werden, dann können sie die Toten der Parsi dem Himmel übergeben.

Die Schriftstellerin Friederike Kretzen lebt in Basel. 2012 erschien im Stroemfeld-Verlag ihr Roman „Natascha, Véronique und Paul“.